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29. Oktober 1923: 100. Geburtstag der Republik Türkei

Mit ihrer Ausrufung am 29. Oktober 1923 durch Mustafa Kemal begann die Geschichte der Republik Türkei. Ankara löste Istanbul als Hauptstadt ab. Vorausgegangen waren der Zusammenbruch des Osmanischen Reichs in Folge des verlorenen Ersten Weltkriegs an der Seite der sog. Mittelmächte, der türkische Befreiungskrieg und die Absetzung Sultan Mehmeds VI.

Das Osmanische Reich

Das Ende des 13. Jahrhunderts gegründete Osmanische Reich erstreckte sich in seiner Blütezeit im 16./17. Jahrhundert über große Teile Vorderasiens (mit den heiligen Städten Mekka und Medina), Nordafrikas, der Krim, des Kaukasus und Südosteuropas. Bereits im Laufe des 18. Jahrhunderts erlitt es als Folge von Auseinandersetzungen mit europäischen Mächten große Gebietsverluste. Ab dem 19. Jahrhundert verstärkte sich mit den aufkommenden Nationalbewegungen sein Zerfall. Die jungtürkische Revolution (1908), die eine konstitutionelle Monarchie nach westlichem Vorbild und eine Modernisierung des Reichs herbeiführen wollte, der erneute Staatstreich der Jungtürken im Jahr 1913 und die großen territorialen Verluste in den Balkankriegen (1912/13) beschleunigten den Niedergang des „kranken Mannes am Bosporus“. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg waren die arabischen Gebiete des Osmanischen Reichs Einflussgebiete Englands und Frankreichs geworden. Mit der Niederlage im Ersten Weltkrieg setzte sich der Untergang des Osmanischen Reichs schließlich fort.

Diktatfrieden nach dem Ersten Weltkrieg

Die osmanische Regierung von Sultan Mehmet VI. unterzeichnete den Friedensvertrag von Sèvres am 10. August 1920. Seine harten Bestimmungen sahen die Reduzierung des osmanischen Staats auf ein Territorium in Zentralanatolien mit einem Küstenstreifen am Schwarzen Meer vor. Sämtliche anderen Gebiete sollten zwischen den Siegermächten – v.a. Russland, Großbritannien, Frankreich, Italien und Griechenland – aufgeteilt werden. Als diese Friedensbedingungen bekannt wurden, regte sich nationaler Widerstand, an dessen Spitze sich Mustafa Kemal, ab 1934 „Atatürk“ („Vater der Türken“) genannt, setzte. Mustafa Kemal war durch sein Wirken in der erfolgreichen Verteidigung von Gallipoli 1915 gegen die Briten, die auf der Halbinsel die größte Niederlage im Ersten Weltkrieg erlebten, zum Helden aufgestiegen.

Türkischer Befreiungskrieg und Vertrag von Lausanne

Im April 1920 rief Kemal in Ankara ein Gegenparlament, die „Große Nationalversammlung der Türkei“, ins Leben; ihm gehörten nur Mitglieder der von Kemal gegründeten Republikanischen Volkspartei (CHP) an. Bewaffnete Widerstandgruppen gingen gegen die griechische Armee vor, die Anfang 1919 Izmir besetzt hatte. Im September 1922 gelang Kemal die Rückeroberung der Stadt trotz der Unterstützung der Griechen durch Großbritannien.

Nach der Waffenstillstandsvereinbarung von Mudanya im Oktober 1922 zur Beendigung des brutal geführten Griechisch-Türkischen Kriegs konnten die Widerstandskräfte neue Friedensvertragsverhandlungen mit den Staaten der Entente zur Beendigung des Ersten Weltkriegs durchsetzen. Mit dem Vertrag von Lausanne vom 24. Juli 1923 konnte die Türkei einige territoriale Bestimmungen des Vertrags von Sèvres zu ihren Gunsten revidieren und zur Grundlage ihrer heutigen Grenzen machen. Mit dem Kriterium der Religionszugehörigkeit wurde durch den Vertrag der bereits vollzogene Bevölkerungsaustausch von Griechen und Türken zur Minderung nationaler Spannungen nachträglich legitimiert. Für die verbleibenden nicht muslimischen Bevölkerungen wurden Minderheitenrechte vorgesehen. Die muslimischen Kurden gehörten dementsprechend nicht dazu.

Bereits Ende 1922 hatte die Nationalversammlung alle von der Istanbuler Regierung seit 1920 unterzeichneten Verträge annulliert und Sultan Mehmet VI. abgesetzt.

„Kemalistische Revolution“

Am 29. Oktober 1923 rief Kemal die Republik aus, nachdem zuvor alle ausländischen Militäreinheiten Anatolien verlassen hatten. Als ihr erster Präsident (bis 1938) setzte er tiefgreifende Reformen in Gang, die die Türkei zu einem modernen und säkularen Staat machen sollten. Das zunächst noch neben dem Parlament bestehende Kalifat wurde im März 1924 abgeschafft und das osmanische Herrscherhaus ausgewiesen. Atatürks Leitlinien – ab den 1930er-Jahren „Kemalismus“ genannt –, zielten auf die Ablösung des osmanischen Vielvölkerstaats durch einen republikanischen, laizistischen und modernisierten Staat mit einer neu geformten homogenen Gesellschaft.

Am 20. April 1924 trat eine neue Verfassung in Kraft, die im Wesentlichen bis 1961 unverändert fortbestand. Durch sie wurde die Scharia abgeschafft. Der „Befreiung“ von islamischen Traditionen galt auch das Hutgesetz von 1925, das den bis dahin Männern vorgeschriebenen Fes im Sinne eines einheitlichen Staatsbürgers untersagte. Im gleichen Jahr wurden die Konvente der Derwischorden aufgelöst und die im Volksislam verbreitete Verehrung von Sultans- und Heiligengräbern verboten. Zulässige religiöse Stätten waren nur noch Moscheen. Nur Geistlichen war das Tragen ihrer religiösen Kleidung und nur bei religiösen Anlässen gestattet. 1928 wurde der Islam als Staatsreligion aus der Verfassung gestrichen.

Kleidungsvorschriften galten auch für Frauen. Es wurde ihnen untersagt, im öffentlichen Raum einen Schleier oder ein Kopftuch zu tragen. Sie erhielten die rechtliche Gleichgestellung mit Männern und 1934 das aktive und passive Wahlrecht für die Große Nationalversammlung. Mit dem nach Schweizer Vorbild eingeführten Zivilrecht wurden die Einehe und das Scheidungsrecht eingeführt. Zu den Reformen zählten ferner die auf die Verfassung von 1876 zurückgehende Koedukation.

Der Gregorianische Kalender löste die islamische Zeitrechnung und den Rumi-Kalender ab und das metrische System wurde eingeführt. 1928 wurde die alte osmanische Schrift verboten und durch die lateinische ersetzt. Das türkische Handelsrecht orientierte sich an dem Deutschlands, das Strafrecht an dem Italiens.

Mithilfe des staatlichen Machtapparats beseitigte Atatürk jeden Widerstand gegen seine Reformen und etablierte die Einparteienherrschaft der CHP. Dem Widerstand der Kurden gegen die Assimilierungspolitik begegnete er mit Diskriminierung und Unterdrückung. Während das Analphabetentum in großen Teil der Bevölkerung zurückging, setzte sich die Säkularisierung lange Zeit nur in den Städten und bei den Beschäftigten in der öffentlichen Verwaltung durch. Sie bildeten zusammen mit der Militärführung und den Angehörigen der säkularen Bildungseliten eine kemalistische Elite heraus, wie sie bereits in der jungtürkischen Zeit bestanden hatte.

Ende des Kemalismus

Seit der Amtszeit von Recep Tayyip Erdoğan (2003–2014 als Ministerpräsident, seit 2014 als Staatspräsident), dem Vorsitzenden der Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP), wurden viele kemalistische Vorgaben zurückgenommen. Markantester Ausdruck der Aufwertung des Islams im öffentlichen Leben ist die Aufhebung des Kopftuchbanns für Frauen im Parlament 2013. 2021 trat die Türkei aus dem im Jahr 2014 in Istanbul beschlossenem Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt aus. Zeitweise strebte Erdoğan eine Aussöhnung mit der kurdischen Bevölkerung an und ließ kurdische Radio- und Fernsehsender zu. 2015 endete dieser Prozess. Spätestens seit dem gescheiterten Putschversuch einiger Militärs 2016 ging er gegen die früheren Hüter des Kemalismus vor und drängte deren Einfluss zurück.