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Fragen und Antworten zu Protest und Radikalisierung angesichts aktueller Krisen (Stand November 2022)

Covid-Pandemie, Klimakrise, russischer Angriffskrieg, Inflation und Energiekrise: Viele Krisen auf einmal verunsichern in diesen Monaten. Das lange recht stabil währende Sicherheits- und Wohlstandsversprechen gerät ins Wanken. Noch ist nicht ausgemacht, wie Deutschland und die Welt durch diese Krisen kommen. Auf der Straße macht sich jedoch der Unmut Luft. Es ist die Rede vom „heißen Herbst“ oder „Wut-Winter“. Aktiv sind Gewerkschaften und linke soziale Bewegungen. Nahtlos jedoch schließen auch die Energieproteste der extremen Rechten an deren Mobilsierungen gegen die staatlichen Corona-Politiken an. Protest ist legitim, sehr deutlich treten aber gerade in den Protesten von Rechtsaußen antidemokratische Tendenzen zum Vorschein. Demokratie und gesellschaftlicher Zusammenhalt sind grundlegend herausgefordert: Was wissen wir über die aktuellen Polarisierungs- und Stabilisierungstendenzen in unserer Gesellschaft? Wo verlaufen die Grenzen zwischen legitimem Protest und zweifelhafter Mobilisierung durch extremistische Gruppen? Wie viel Radikalität ist wichtig für unsere Gesellschaft und was wissen wir über Radikalisierungsprozesse? Welche Rolle spielen in diesen Dynamiken soziale Medien? Wie ist es um Bemühungen der Prävention, der Demokratieförderung und politischen Bildung in Deutschland bestellt?
 
In Zusammenarbeit mit Expertinnen und Experten des Leibniz-Instituts Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), Hande Abay Gaspar, Dr. Julian Junk und Dr. Daniel Mullis, hat die HLZ an dieser Stelle Antworten auf diese Fragen zusammengestellt. Die Antworten nehmen zwar Bezug auf die Tagesaktualität, fokussieren sich aber auf eine Aufbereitung breiteren sozialwissenschaftlichen Wissens, um eine Hilfestellung bei der Meinungsbildung und einen Einstieg in komplexe sozialwissenschaftliche Zusammenhänge zu ermöglichen.

Für Rückfragen zu den Texten wenden Sie sich bitte an Robert Wolff (robert.wolff@hlz.hessen.de).

Seit Beginn der 2010er Jahre wird im öffentlichen Diskurs der Niedergang des gesellschaftlichen Zusammenhalts befürchtet. In der Forschung wird der Grad des gesellschaftlichen Zusammenhalts häufig an dessen Kehrseite, nämlich der Polarisierung einer Gesellschaft oder der Zunahme antidemokratischer Einstellungen gemessen. Wenn es um die Deutung derartiger Tendenzen geht, herrschen jedoch widersprüchliche Einschätzungen.

So dokumentieren die Leipziger Autoritarismus-Studien bereits mindestens seit 2016 gleichermaßen eine Stabilisierung demokratischer Milieus, aber eben auch eine Polarisierung der Gesellschaft sowie eine Radikalisierung der antidemokratisch-autoritären Milieus. Letzteres zeigen Decker und Brähler (2016) anhand der sich zwischen 2006 und 2016 innerhalb der extremen Rechten vollzogenen Radikalisierungsprozesse. Auch die aktuelle Veröffentlichung der Leipziger-Studie 2022 zeigt, dass die Zahl der Personen mit einem geschlossen rechtsextremem Weltbild zwar abnimmt, sich gleichzeitig jedoch extremistische Milieus verfestigen sowie ausländerfeindliche Einstellungen weiterhin auf hohem Niveau verharren – in Ostdeutschland sogar leicht angestiegen sind.

Polarisierungstendenzen zeigen sich jedoch nicht nur an der Zunahme von Rechtspopulismus, sondern auch am Schwinden der politischen „Mitte“. Beispielsweise zeigt die jüngst erschienene Pilotstudie des Task Force FGZ-Datenzentrums, dass es eine kulturelle und politische Spaltung der „Mitte“ zu geben scheint. Zentrale Konfliktlinien stellen dabei die Themen Migration und kulturelle Vielfalt, das Vertrauen in staatliche und gesellschaftliche Institutionen, die Fragen nach der Tiefe der europäischen Integration, nach Geschlechterrollen oder auch dem Klimawandel dar. 

Einige Forschende widersprechen jedoch der Polarisierungsthese. So argumentiert Steffen Mau, dass sogenannte „Polarisierungsunternehmer” wie Rechtspopulisten, Corona-Leugner oder Querdenker erst durch die Politisierung der Konfliktthemen im öffentlichen Diskurs zur Entwicklung negativer Gefühle gegenüber Menschen mit anderen Ansichten beitragen. Sicherlich kann davon ausgegangen werden, dass Polarisierung und die Emotionalisierung von Konfliktthemen sich gegenseitig bedingen. 
 
Wie hoch ist das Vertrauen in die Demokratie und in demokratische Prozesse?

Betrachten wir Protest und die gegenwärtigen Konfliktlinien, erweist sich die Demokratie als zentraler Angelpunkt. Einerseits sind liberal-demokratische Prozesse einer erheblichen Kritik ausgesetzt, andererseits sind der Zuspruch und das Vertrauen in Demokratie selbst ein wichtiger Gradmesser für das demokratische Miteinander insgesamt. Aus dem jüngst erschienen ARD-DeutschlandTREND wird sichtbar, dass in der Gesellschaft das Unbehagen gegenüber der Arbeit der Bundesregierung deutlich überwiegt, wobei sich ein neuer Tiefstand abzeichnet. Aktuell sind nur 51 % der Bundesbürger, im Osten sogar nur 35 %, mit dem Funktionieren der Demokratie in Deutschland zufrieden. Die Langzeitbefunde aus der oben genannten Autoritarismus-Studie und der „Mitte-Studie” zeigen jedoch, dass in Ostdeutschland nicht schon immer eine Unzufriedenheit mit der Demokratie bestand. Die Ergebnisse des ARD-DeutschlandTRENDs stellen also neue Entwicklungen dar.

Die Gründe für die zunehmende Unzufriedenheit in der Gesamtbevölkerung sind vielfältig. So werden als die drei größten Gefahren für die Demokratie in Deutschland der Rechtsextremismus mit 20 %, soziale Ungleichheit und abgehobene Politikerinnen und Politiker mit jeweils 11 % genannt. Inflation (5 %), der Ukraine-Krieg (4 %), Energiekrise oder Migration (jeweils 3 %) werden in geringerem Maße als relevante Gefahren betrachtet.

Doch trotz dieses überwiegenden Unbehagens mit der Regierungsarbeit sowie der gespaltenen Meinung über die Funktionsfähigkeit der Demokratie, besteht mit 88 % offensichtlich weiterhin ein hohes Grundvertrauen in die Demokratie. Hierbei zeigt sich jedoch ein Unterschied zwischen West- und Ostdeutschland: Während in Westdeutschland 91 % die Demokratie als gute und lediglich sieben Prozent als nicht so gute Regierungsform einschätzen, betrachten in Ostdeutschland 75 % die Demokratie als gut und 17 % als nicht so gut. Die Ergebnisse des ARD-DeutschlandTRENDs, dass es ein hohes Grundvertrauen in die Demokratie bei gleichzeitig wachsender Unzufriedenheit über demokratische Prozesse gibt, decken sich mit den Ergebnissen der aktuellen Leipziger Autoritarismus-Studie.

Zusammenfassend lässt sich somit sagen, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt durch die Pluralisierung von Einstellungen und Diversifizierung von Gruppen vor Herausforderungen gestellt ist. Auch wenn keine eindeutige Spaltung in zwei verfeindete Lager zu erkennen ist, so deuten doch Studien auf Polarisierungstendenzen der Gesellschaft hin. Was das Vertrauen in die Demokratie betrifft, besteht zwar eine Unzufriedenheit über die Umsetzung, nicht jedoch über die demokratische Regierungsform per se.

Protest ist eine Handlung, die etwas in Frage stellt, einen Widerspruch formuliert und dabei nicht selten auch eine Alternative vorschlägt. Es geht darum, so Verta Taylor und Nella van Dyke, „Veränderungen in institutionalisierten Machtverhältnissen anzustreben oder diese zu verhindern“. Protest entspringt aus der Gesellschaft und hat ihre Veränderung zum Ziel.

Es gibt sehr unterschiedliche Formen von Protest. Er kann spontan sein; bisweilen ist er langfristig und kontinuierlich. Protest kann unter Beteiligung sehr vieler Menschen laut sein, aber auch still von einzelnen Individuen vorgetragen werden. Protestiert wird auf Demonstrationen, mittels Streiks oder durch individuelle Aktionen im öffentlichen Raum, in sozialen Medien, mittels Unterschriftensammlungen oder durch parlamentarische Interventionen der Opposition. Im Protestgeschehen werden die Grenzen des rechtlich zulässigen bisweilen überschritten. Etwa dann, wenn es zu Gewalt kommt oder volksverhetzende Aussagen getroffen werden.

In wissenschaftlichen Arbeiten wird immer wieder betont, dass Ziviler Ungehorsam, etwa in der Form von Blockaden von Straßen, rechtlich zwar unzulässig, aber in einem gewissen Rahmen gesellschaftlich legitim sein kann. Letzteres gelte insbesondere dann, wenn der Ungehorsam demokratische Grundwerte achtet. Plädiert wird zudem dafür, dass auch Protestereignisse, die wie Riots klar gewaltförmig sind, nicht per se als Rowdytum entpolitisiert werden dürfen und sie in einem gesellschaftlichen Zusammenhang gedeutet werden müssen. 

Was hat Protest mit Demokratie zu tun?

Protest gehört zu einer demokratischen Gesellschaft. In der Bundesrepublik ist die Möglichkeit zum Protest durch das Grundgesetz garantiert. Zum einen durch Art. 6, der allen die freie Meinungsäußerung zusichert. Zum anderen durch Art. 8. Hier ist das Versammlungsrecht festgeschrieben. Protest ist eine Möglichkeit, sich selbst unmittelbar politisch zu äußern und einzubringen, zugleich fordert er die Entscheidenden auf, in eine gewisse Richtung zu handeln.

Auf jeden Fall gehört der öffentliche Widerspruch zur demokratischen Auseinandersetzung – er ist unerlässlich für demokratische Willensbildung und den produktiven Streit über Normen, Regeln und die gemeinsame Zukunft. Medien kommen, so Donatella della Porta und Mario Diani, als Organe, die Aktionen verbreiten und bisweilen auch einordnen, eine wichtige Rolle zu. Sie sorgen für die Vermittlung und Breitenwirkung. 

Eng verbunden mit dem Protestgeschehen sind soziale Bewegungen. Roland Roth und Dieter Rucht betonen, dass Protest von sozialen Bewegungen organisiert und ggf. durch sie verstetigt wird. Dabei wird von Bewegungen gesprochen, „wenn ein Netzwerk von Gruppen und Organisationen, gestützt auf eine kollektive Identität, eine gewisse Kontinuität des Protestgeschehens sichert“. Die Bundesrepublik gilt heute, so die beiden, „mit einigem Recht als Bewegungsgesellschaft“. Lange Zeit bestimmten linke soziale Bewegungen Geschehen und Debatten. Seit geraumer Zeit spielen jedoch auch rechte soziale Bewegungen – wie etwa Pegida – eine wichtigere Rolle. 

Die Energiekrise berge „sozialen Sprengstoff“, betonte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) bereits Anfang Juli 2022. „Explodierende Mieten und ein steigendes Armutsrisiko in den letzten zehn Jahren, eine Spaltung bei Bildung und Gesundheit in der Pandemie und nun bei der Inflation könnte Deutschland vor eine soziale Zerreißprobe stellen“, stellt Marcel Fratzscher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung gleichzeitig fest. Sicherheitsbehörden warnten vor eskalierenden Protesten und Außenministerin Annalena Baerbock (B90/Grüne) verwies auf das Risiko von „Volksaufständen“. Über „Wut-Winter“ und „Heißer Herbst“ wurde bereits diskutiert, bevor es überhaupt zu Demonstrationen gegen steigende Energiepreise gekommen war.

Was passiert gerade?

Mittlerweile sind entsprechende Proteste ein Fakt, wobei Konfrontationen mit Sicherheitskräften bisher weitestgehend ausblieben (Stand November 2022). Von Gewalt gegen Journalistinnen und Journalisten sowie Menschen, die sich den mitunter rechtsextremen Aufmärschen entgegenstellen, wurde jedoch immer wieder berichtet. Zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Q&A liegt der Schwerpunkt der Demonstration in Ostdeutschland. Aber auch im hessischen Frankfurt am Main wurde bereits gegen die sozialen Folgen – wachsende Armut oder die Sorgen vor Kälte – der Energiekrise protestiert. Die Situation ist stark in Bewegung, Progno-sen daher schwer, dennoch zeichnet sich langsam ein klareres Bild ab.

Bislang konzentriert sich das Protestgeschehen in Ostdeutschland. Dort gehen flächendeckend erneut montags Tausende auf die Straße. Der Montag hat in Ostdeutschland Tradition: 1989 wurde an Montagen gegen die autoritäre DDR sowie 2004 gegen die Agenda 2010 protestiert. Montags ging ab 2014 Pegida auf die Straße und es war auch der Tag der Proteste gegen die Corona-Maßnahmen. Einer der bisherigen Höhepunkte der herbstlichen Montags-demonstrationen fand am 3. Oktober statt, dem Tag der Deutschen Einheit. In den Ostdeutschen Ländern demonstrieren an rund 270 Versammlungen über 100.000 Menschen. Damit schließen die Proteste in Größe und Qualität an die Hochphase der Mobilisierung gegen die Corona-Schutzmaßnahmen an und übersteigen jene der ausländerfeindlichen Pegida-Proteste. Mit Blick auf die Teilnehmenden der Demonstrationen gilt, dass nicht alle der extremen Rechten zuzurechnen sind, die aktive und bewusste Abgrenzung gegenüber Rechtsaußen fehlt jedoch eindeutig.

Welche Rolle spielen rechtsextreme Positionen in den aktuellen Entwicklungen?

Organisatorisch sind Akteurinnen und Akteure der extremen Rechten die treibenden Kräfte hinter diesen Demonstrationen und sie nutzen Netzwerke und Kanäle, die während Pegida sowie der Proteste gegen die Corona-Maßnahmen etabliert wurden. Auch die AfD spielt eine wichtige Rolle. Schon im Sommer wurde die Planung für den „Wut-Winter“ aufgenommen und beispielsweise die Demonstrationen in Magdeburg (5.9.), Gera (3.10.) und Berlin (8.10.) mit vorbereitet.

Inhaltlich geht es bei den aktuellen Demonstrationen um die Energiekrise, aber längst nicht nur. Aufschlussreich ist ein in Thüringen Anfang Oktober in Chat-Gruppen verbreitetes 10-Punkte-Programm. Gefordert wird hier das Ende der Sanktionen gegen Russland sowie die Gasleitung Nord Stream 2 wieder zu öffnen. Zudem solle die Zensur in sozialen Medien enden, Schluss mit der Ausgrenzung von Nicht-Geimpften sein, die GEZ-Gebühren abgeschafft sowie der „Massenzuwanderung“ ein Riegel vorgeschoben werden. Insgesamt sieht Matthias Quent daher durchaus Dynamiken einer „Formierung einer faschistischen Bewegung auf der Straße“.

Insgesamt prägen diese Demonstrationen allerhand Verschwörungsideologien und Beobachtende berichten, dass mitunter „offen zum Systemwechsel oder Systemumsturz aufgerufen“ wird. In manch rechtsextremen Kreisen wird folglich gar regelrecht auf eine Verschärfung der Krise sowie ein Energie-Blackout gehofft: Seit geraumer Zeit wird der Ausfall der Energiever-sorgung mit dem Tag X in Verbindung gebracht, an dem das verbreitete Chaos den System-Umsturz ermöglichen solle.

Welche Proteste sind klar im demokratischen Rahmen?

Neben diesen Protesten der extremen Rechten gibt es auch Aktivitäten von Akteurinnen und Akteuren, die sich klar im demokratischen Rahmen bewegen und tatsächlich die zunehmen-den sozialen Nöte fokussieren. Die Kontinuität der extrem rechten Proteste erreichen sie jedoch bis bislang nicht, auch wenn zu einzelnen Ereignissen durchaus einige Tausend Menschen mobilisiert werden können. Proteste gab es beispielsweise in Leipzig, organisiert durch Die Linke (5.9.) oder in Erfurt (11.9.), wozu aus Gewerkschaftskreisen aufgerufen wurde. In Leipzig wie Erfurt kamen jeweils rund 2.000 Menschen.

Zu größeren Demonstrationen kam es bundesweit in mehreren Großstädten am 15. und 22. Oktober. Letztlich verharrten die Teilnehmerzahlen jedoch auch bei diesen Aktionen im mittleren vierstelligen Bereich. Zu kleineren Aktionen von linken sozialen Bewegungen kommt es zudem immer wieder. In verschiedenen Großstädten haben sich Krisen-Bündnisse formiert. So auch im hessischen Frankfurt am Main. Hier organisiert „Ebbe Langts“ den Protest. Auch hier liegen die Teilnehmerzahlen bislang im unteren dreistelligen Bereich. Getragen wird dieses Bündnis von Aktiven aus linken sozialen Bewegungen, die schon in den 2010er Jahren zusammen im Kontext von Blockupy gegen die Sparpolitiken der EU demonstriert hatten.

Insgesamt unterscheiden sich die politischen Spektren sehr, wenn auch bislang weniger in der Protestform als in ihren Inhalten. Die von Rechtsaußen gemachten Avancen für eine Querfront, also das Zusammengehen von linken und rechten Akteuren, werden bislang mit einigen wenigen Ausnahmen von linken Akteuren deutlich zurückgewiesen. Während die Linke und Gewerkschaften den sozialen Zusammenhalt ins Zentrum rücken und vor Verarmung warnen, werden Rechtsaußen weiter antidemokratische Verschwörungsmythen geschürt, die Spaltung der Gesellschaft vorangetrieben und bisweilen gar für den Sturz des Systems geworben. Keinesfalls sollten die Proteste aus den unterschiedlichen politischen Richtungen daher über einen Kamm geschoren werden. Angesichts der aktuellen Entwicklungen geht das antidemokratische Risiko auch im „Wut-Winter“ eindeutig von Rechtsaußen aus.

Der Begriff der Radikalisierung ist in den vergangenen Jahren immer stärker ins Zentrum der medialen und wissenschaftlichen Aufmerksamkeit gerückt. Häufig wird dabei der Radikalisierungsbegriff synonym mit dem Begriff des Extremismus verwendet oder nur unzureichend von diesem abgegrenzt. Auch im Rahmen des gegenwärtigen Protestgeschehens werden im politisch-medialen Diskurs die Ereignisse und Akteure häufig undifferenziert als radikal oder extremistisch bezeichnet. Um jedoch eine unberechtigte Delegitimierung oder gar Diffamierung gesellschaftlicher Entwicklungen oder Akteurinnen und Akteure zu vermeiden, ist Differenzierung notwendig.

Der Radikalisierungsbegriff stammt aus dem lateinischen Wort radix und bedeutet, Probleme an der Wurzel zu packen. Während Radikalität heute häufig mit Gewaltbereitschaft gleichgesetzt wird, galten im frühen 19. Jahrhundert – aus heutiger Sicht – emanzipatorische und liberale politische Bewegungen als radikal. Die Zuschreibung von Radikalität hängt daher immer von den vorherrschenden gesellschaftlichen Normen ab. Radikalisierung kann somit als eine zunehmende grundlegende Infragestellung und/oder Bemühung zur Veränderung des Status quo definiert werden, indem gesellschaftliche Probleme an der Wurzel angepackt werden. Radikalität ist daher nicht per se problematisch. Selbst der Verfassungsschutz betont, dass radikale politische Auffassungen in unserer pluralistischen Gesellschaftsordnung ihren legitimen Platz haben. Radikale Personen und Gruppen, die im Kontext der Covid-Pandemie, des Klimawandels, des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine oder der gegenwärtigen Energiekrise die politischen Maßnahmen infrage stellen, kritisieren oder gegen diese protestieren, sind daher noch längst keine extremistischen Akteure.

Die zentrale Frage lautet daher, ab wann ein Radikalisierungsprozess als gesellschaftlich problematisch zu erachten ist bzw. wo die Grenze zum Extremismus liegt. Diese Frage lässt sich nicht pauschal beantworten und knüpft an die kontroverse Debatte nach der Legalität auf der einen sowie Legitimität radikaler Einstellungen und Handlungen auf der anderen Seite an. Aus verfassungsschutzrechtlicher Perspektive handelt es sich dann um Extremismus, wenn die Aktivitäten darauf abzielen, die Grundwerte der freiheitlichen Demokratie zu beseitigen. Aus strafrechtlicher Perspektive sind radikale Einstellungen und Handlungen in dem Moment relevant, wenn sie sich im Bereich der Illegalität bewegen, auch wenn diese nicht unbedingt auf die Beseitigung der freiheitlichen Demokratie abzielen.

Die Frage nach der Abgrenzung von Radikalisierung und Extremismus lässt sich aber auch anhand der Legitimität/Illegitimität von Einstellungen und Handlungen bemessen. Hierbei wird nicht in erster Linie die Verfassung oder das Strafgesetzbuch, sondern eine demokratische Grundhaltung als Grundsatz der Demokratie gesetzt. In diesem Sinne können insbesondere im öffentlichen Diskurs Meinungen über die Grenze zwischen Radikalität und Extremismus, die auf Legitimitäts- oder Legalitätsargumenten basieren, auch auseinanderklaffen.

Häufig ist also dann die Rede von Extremismus, wenn der demokratische Bereich verlassen wird und die Grundwerte der liberalen Demokratie unterminiert werden. Demokratiekonformität bzw. Demokratiefeindlichkeit lässt sich jedoch anhand unterschiedlicher Maßstäbe bemessen. Die Frage danach, was als radikal akzeptiert und als extrem zurückgewiesen wird, ist damit immer auch Teil gesellschaftlicher Aushandlung, bei dem der Schutz der freiheitlichen Demokratie den Ankerpunkt darstellt. Radikalisierung ist daher nicht automatisch mit Extremismus gleichzusetzen, kann jedoch unter Umständen in extremistische Bestrebungen münden. Entsprechend gilt es bei der Einordnung der gegenwärtigen Protestereignisse und deren Protagonisten ebenfalls zwischen radikalen und extremistischen, also antidemokratischen Zielsetzungen und Bestrebungen zu unterscheiden.

Die Forschung hat inzwischen viele Erkenntnisse über einzelne Radikalisierungsverläufe und über die Rolle von extremistischen Ideologien darin. Allerdings ist inzwischen auch bekannt, dass diese Verläufe eben anhand der biografischen Kontexte eines jeden Individuums vielfältig sind: Hier geht es um Persönlichkeitsdispositionen, soziale Umfeldfaktoren oder wahrgenommene wie objektive gesellschaftliche Ungerechtigkeitsstrukturen. Es gibt hinsichtlich der Anfälligkeit für problematische Radikalisierungstendenzen kaum vorhersehbare Muster, wohl aber einzelne Warnsignale, die Ansatzpunkte für Prävention sein können. Die Forschung fokussiert aber sehr stark auf die Individualebene. Für das aktuelle Protestgeschehen sind jedoch auch und vor allem die neueren Erkenntnisse aus der sozialen Bewegungsforschung von Interesse. Sie fokussieren auf die Gelegenheitsstrukturen für erfolgreiche Mobilisierung wie gesellschaftliche Spannungsverhältnisse oder sozioökonomische Rahmenbedingungen. Doch zunächst ein Blick in die Forschung zu individueller Radikalisierung, also auf die Mikroebene:

Die Aneignung extremistischer Denkmuster und die Mitgliedschaft in einer extremistischen Gleichaltrigengruppe, insbesondere – aber nicht nur – im Jugendalter, erfüllen zumeist eine (sozio-)biografische Funktion: in der Bewältigung kritischer Lebensereignisse und der Lösung von Entwicklungsaufgaben (Pisoiu et al. 2020). Unsicherheitsminimierung, Reduktion von Identitätskonflikten, aber vor allem die Befriedigung allgemeiner Bedürfnisse wie Zugehörigkeit und Anerkennung sind zentral. Gruppenbezogene Ideologien sind dabei aber nicht vollkommen unbedeutend. Sie bieten Einzelnen Weltdeutungen und individuelle Handlungsalternativen für ihre Problemlagen an.

Individuelle Radikalisierungsverläufe sind fast immer mit Gruppenmitgliedschaft verbunden oder zumindest in ein soziales Umfeld eingebettet. In Gruppenprozessen können sich kleine Kreise von Aktivistinnen und Aktivisten herausbilden, die beispielsweise bereit sind, eine Gruppenideologie – manchmal eben auch durch immer exzessivere Formen von physischer oder psychischer Gewalt – in die Tat umzusetzen. Besondere Dynamik entfalten diese Mechanismen, wenn sie in Interaktion mit gruppenexternen Prozessen treten: Dazu zählen Unrechtserfahrungen und -erzählungen wie Diskriminierung und Marginalisierung von bestimmten, als ähnlich angesehenen Gruppen. Sie werden dann häufig als Teil eines politischen (oder religiösen) Kampfes interpretiert. Auch Erzählungen über die Auseinandersetzung mit Staatsmacht, Repressionen, Konfrontationsgewalt oder Kriminalisierung können eine Radika-lisierungsspirale beschleunigen. Kollektive Deutungsmuster entstehen auch durch die Soziali-sation in Gegenkulturen oder Popkulturen: So bedienen sich neue Gruppierungen, wie Generation Islam oder die Identitäre Bewegung, audiovisueller Formate wie Musikvideos, Ästhetik des Gaming-Bereichs und grundsätzlich der Vielfalt sozialer Plattformen in ihren Rekrutierungs- und Mobilisierungsstrategien. 

Welche Ähnlichkeiten gibt es in den Erzählungen verschiedener radikaler Gruppen?

So unterschiedlich Ideologien und Mobilisierungsdynamiken sein können, so häufig tauchen doch bestimmte ähnliche Erzählelemente als Antagonisten auf, um Gegnerschaften und Hierarchien zu rechtfertigen (Meiering et al. 2020): die Moderne, der Universalismus, die Juden, der Feminismus. Dadurch erheben radikale Gruppen eine Deutungshoheit darüber, wie die Gesellschaft ihrer Ansicht nach funktionieren soll und welche Formen des Zusammenlebens legitim und welche mit radikalen Mitteln bekämpft werden müssen; nicht zuletzt in Bezug auf „die“ richtige Familie und „das“ richtig gelebte Geschlechterverständnis. Wir sehen gerade im aktuellen, immer diffuseren Protestgeschehen (bspw. Querdenken oder frühere Pegida-Demonstrationen), dass sich ganz unterschiedliche intendierte und unintendierte Allianzen bilden. Oftmals dienen gemeinsame Gegnerschaften wie Anti-System- oder Widerstandserzählungen (bspw. Reichsbürger oder andere Bürgerwehren, wie die Scharia-Polizei), Anti-Imperialismus, Anti-Modernismus, Anti-Universalismus, Anti-Feminismus und vor allem ganz unterschiedliche Ausprägungen des Antisemitismus als gemeinsame Nenner.

Im Antifeminismus treffen sich beispielsweise völkische Nationalisten, christliche und islamische Fundamentalisten und islamistische Dschihadisten. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie Sexualität zu einem Scharnier zwischen ihrer – völkisch oder religiös fundierten – Gesellschaftsvorstellung und dem Individuum bzw. der Familie schmieden. Dazu gehören neben der Ablehnung emanzipativer, feministischer Bewegungen auch heroische Männlichkeitsvorstellungen. Vor allem aber ist der Antisemitismus als gemeinsames Element in zahlreichen aktuellen extremistischen Gruppierungen, aber auch im breiteren Protestgeschehen in zahlreichen Ausprägungen zu finden. Er fungiert häufig als Bindeglied zwischen den vielen Strömungen, die oft unter dem Label Querdenken oder Anti-Corona-Proteste zusammengefasst werden und die zunehmend Querschnitte zu extrem rechten Akteuren aufweisen. Der strukturelle Antisemitismus, also Weltanschauungen und Denkmuster, die der Logik des Antisemitismus strukturell ähneln, aber nicht dezidiert gegen den jüdischen Glauben gerichtet sind, ist in Verschwörungstheorien omnipräsent.

Die Arbeit der politischen Bildung und die Ansätze der Extremismusprävention setzen zunehmend an diesen gemeinsamen Erzählungen an. Wenn sie nicht einzelne, spezifische (Gesellschafts-)Gruppen adressiert, sondern auch deren gemeinsamen ideologischen Muster anspricht, kann sie in bestimmten Kontexten, bspw. im schulischen und Erwachsenenbildungsbereich, effektiver agieren.

Gesellschaftliche und politische Krisen, deren Auswirkungen und die Diskurse um sie herum berühren alle Mitglieder der Gesellschaft. So ist es nicht verwunderlich, dass auch bereits radikalisierte und extremistische Akteure jeglicher Couleur gegenwärtige gesellschaftliche Konfliktthemen und insbesondere vorherrschende Polarisierungsdiskurse mitgestalten, sich mit diesen gezielt auseinandersetzen und sie reproduzieren. Eine Verschärfung der Konflikte und Diskurse findet jedoch auch im gesellschaftlichen Umgang mit diesen Tendenzen statt. Im politischen, medialen und öffentlichen Diskurs bedienen sich Akteure in ihren Reaktionen auf radikale und extreme Gruppierungen teilweise einer spaltenden Sprache, wodurch die Themen politisiert, Konflikte zugespitzt sowie Debatten verschärft werden können. 

Im gegenwärtigen Protestgeschehen sind die Themen und Akteure vielfältig. Doch wie unter der dritten Frage bereits dargelegt wurde, wird aus den vordergründigen Narrativen und Agitationen deutlich, dass es sich bei den demokratiegefährdenden Protagonisten des „Wut-Winters“ in vielen Fällen eindeutig um Akteure aus dem extrem rechten Spektrum handelt, weshalb im Folgenden der Blick insbesondere auf diese gerichtet wird.

Welche Themen werden aufgegriffen?

Gegenwärtig steht in der Problemrahmung zwar die Energiekrise im Vordergrund, jedoch verschränken extrem rechte Gruppierungen in ihren Protestaktionen die Energiekrise mit weiteren gegenwärtigen Krisen wie der Covid-Pandemie, dem Russland-Ukraine-Krieg sowie mit Dauerthemen, etwa der europäischen Asyl- und Migrationspolitik oder dem Klimawandel. Die Verschränkung drückt sich nicht in der bloßen Gleichzeitigkeit, sondern vor allem in der konspirativen Verknüpfung der Themen aus. So wurde beispielsweise das Coronavirus auf rechtsextremen Facebook-Profilen als „ausländisches” Virus dargestellt oder auch auf den Profilen von Parteimitgliedern rechtsradikaler Parteien begrüßt, weil es angeblich für Frauen und „Ausländer” besonders tödlich wäre.

Auch der Krieg in der Ukraine wird in einen größeren verschwörungsideologischen Zusammenhang gestellt, indem er auf die Pandemie und die Errichtung einer neuen Weltordnung oder der Vergiftung der Bevölkerung durch Impfungen bezogen wird. Auch sind Verschränkungen zwischen den Themen Klimawandel und Pandemie erkennbar: So behaupten rechtsextreme Befürworter einer „völkischen“ Klimapolitik, dass mächtige Teile der „Hochfinanz“ angeblich einen Krieg gegen die Realökonomie führen und mit den Mitteln der „Klima-Demagogie” und der „Corona-Demagogie” die Wirtschaft zerstören wollen.

Sind die Themen einmal identifiziert, zeigen sich auch in der konkreten Auseinandersetzung mit diesen wiederkehrenden Umgangsstrategien. So findet häufig eine Einordnung in bestehende Narrative wie Bedrohungs-, Opfer- und Verteidigungsnarrative, eine Emotionalisierung von Inhalten oder eine Verschärfung und Zuspitzung der eigenen extremistischen Ideologie statt.

Welche Sündenböcke und Feindbilder werden konstruiert?

Die Problemadressierung erfolgt sodann durch die Konstruktion von Sündenböcken und Feindbildern. Häufig werden abstrakte, oftmals antisemitisch konnotierte Feindbilder wie die „globale Elite“, „Strippenzieher“, „Hintermänner“ oder „Gelddynastien“ identifiziert. Konkrete Feindbilder sind hingegen ausländische und migrierte Menschen, jüdische Menschen, Israel, Beamte und Beamtinnen, Polizisten und Polizistinnen der Bundesregierung oder im Kontext der Migrationspolitik häufig auch die „Deutschlandhasser“ und die „Asyllobby“, die, „gegen die verhassten Deutschen“ agiere. Die unterbreiteten Lösungsstrategien reichen sodann von der Delegitimierung demokratischen staatlichen Handelns, der Vereinnahmung legitimer Proteste, Aufruf zum Widerstand oder zur Selbstjustiz bis hin zur Gewaltlegitimierung und Gewaltaufrufen.

Wie lässt sich die Instrumentalisierung von Konflikten durch extremistische Akteure erklären und welche möglichen Konsequenzen folgend daraus?

Die Instrumentalisierung gegenwärtiger Konflikte und Krisen durch extremistische Akteurinnen und Akteure – wie sie ebenfalls in islamistischen oder in (militant) linksextremen Kreisen beobachtbar ist – lässt sich unter anderem dadurch erklären, dass extremistische Narrative gerade in Krisenzeiten, in denen das Gefühl der Unsicherheit weit verbreitet ist, attraktiv wirken. Soziopolitische Missstände und gesellschaftliche Spannungsverhältnisse, Diskriminierung und Benachteiligung gesellschaftlicher Minderheiten oder auch die individuelle Suche nach Orientierung, Identität und Anerkennung können als sogenannte Push-Faktoren fungieren. Im Gegenzug können dann die Simplifizierung komplexer Verhältnisse, die Einordnung in ein Schwarz-Weiß-Denken, die Unterbreitung einfacher Antworten oder auch die Darbietung einer kollektiven Identität und Zugehörigkeit als Pull-Faktoren für die Anschließung an extremistische Gruppierungen wirken.

Mögliche Konsequenzen einer Verbreitung, Aneignung oder gar Normalisierung extremistischer Narrative sind die Zunahme gesellschaftlicher Polarisierung, die Etablierung von Feindbildern und damit einhergehende Verstärkung von Ressentiments, Antisemitismus, Rassismus, Hass und Menschenfeindlichkeit, aber auch eine gesteigerte Demokratieskepsis und gesteigertes Institutionsmisstrauen. 

Doch auch die unreflektierte Rahmung und Markierung von vermeintlich extremistischen Tendenzen und Gruppierungen im Zuge von wissenschaftlichen, medialen und öffentlichen Diskursen kann wiederum Radikalisierung und Polarisierung vorantreiben. Es ist daher von großer Bedeutung, auf der einen Seite legitime Kritik und legitimen Protest in Bezug auf gesellschaftliche Entwicklungen nicht voreilig zu diskreditieren – auch wenn diese (auch) von extremistischen Personen aufgegriffen oder unterwandert werden – und auf der anderen Seite antidemokratischen und menschenverachtenden Einstellungen gegenüber Sensibilität zu bewahren und klare Grenzen zu ziehen.

Die Kommunikation über soziale Plattformen und die Informationsverbreitung über das Internet sind inzwischen untrennbarer Teil des Alltags für fast alle – von Messenger-Diensten wie Telegram, über soziale Plattformen wie Facebook bis hin zu einigen Bereichen von Gaming-Plattformen. Nicht anders verhält sich dies für radikale Gruppen und extremistische Personen. Durch diese Möglichkeiten des Internets hat sich auch die Entstehung und Führung gesellschaftlicher Diskurse, Debatten und Meinungsbildungsprozesse deutlich verändert. Personen mit extremistischen Einstellungen unterliegen auch genau diesen Dynamiken. Die Kommunikation ist schneller, die Informationen in vielen Räumen fragmentierter und gegebenenfalls auch transnationaler. Für die Verbreitung herabwürdigender und hasserfüllter Botschaften gilt dies auch.

Eingriffe wie Zensur und Kontrolle mögen schnell naheliegen, sind jedoch sorgfältig mit Grundrechten zur freien Meinungsäußerung abzuwägen. Es ist jedoch offensichtlich, dass beispielsweise extrem rechte Akteurinnen und Akteure über Online-Kanäle Weltanschauungen und Hassbotschaften streuen, die von Freund-Feind- bzw. Ingroup-Outgroup-Konstruktionen ebenso geprägt sind wie von der Ablehnung der Universalität der Menschenrechte, von Emanzipation, Demokratie und entwickelter Moderne. Es liegt die Annahme nahe, dass die Internetpräsenz von extremistischen Akteurinnen und Akteure wiederum Radikalisierung fördert und hierdurch die Zunahme von Gewalttaten erklärt werden kann (siehe bspw. Fielitz und Marcks 2021). Dieser Nachweis ist bislang nicht unmittelbar gelungen. Es bleibt das analytische Problem, den Faktor „Internet“ von anderen sozialen Bindungen zu isolieren. Mehrheitlich wird allerdings die Position vertreten, dass die Möglichkeiten des Internets vorrangig als Verstärker und Katalysator von Radikalisierungsprozessen wirken, die jedoch immer auch realweltliche Anlässe und Interaktionen braucht (Birsl et al 2022).

Nicht zuletzt aufgrund der beschriebenen Schwierigkeit, die Wirkungen des Faktors Internet zu messen, hatte man sich zunächst mit der Zunahme islamistisch motivierter Anschläge und den Medienaktivitäten des sogenannten Islamischen Staats überwiegend darauf konzentriert, welche Strategien organisierte islamistische Gruppen im Internet zur Eigenpräsentation, zur Verbreitung von Weltanschauungen und zur Rekrutierung und Mobilisierung neuer Anhänger nutzten (ein Überblick über die Phänomen- und Forschungsentwicklung: Winter et al 2020). 

Die Online-Inszenierung von rechtsextremistisch motivierten Anschlägen, wie etwa in Christ-church und Halle, bezogen sich unmittelbar auf die mediale Inszenierung von Anders Breivik, der im Jahr 2011 in Oslo und auf der Insel Utøya 77 Menschen gezielt tötete. Auch wurden über die Analyse von Ermittlungsakten und Gerichtsurteile aufgezeigt, dass es einige Zusammenhänge zwischen dem generellen Nutzungsverhalten – etwa welche Plattformen präferiert wurden – und der tatsächlichen Involvierung in islamistische oder extrem rechte Strukturen gibt. Extremistische Akteure verbreiten nicht nur ihre Botschaften über die sozialen Medien weiter und schneller und können somit eine große Masse an Menschen erreichen, sondern entwickeln auch Formate und Strategien, die strategisch auf die Merkmale der Zielgruppen und der Merkmale bestimmter sozialer Plattformen zugeschnitten sind. 

Vor diesem Hintergrund gibt es aber auch viel Zufälliges und unorganisiert Wildes: Viele der Täter (es sind meist Männer), die in den letzten Jahren in Deutschland Angriffe auf Asylunter-künfte oder Geflüchtete begangen haben, sind zuvor nicht straffällig geworden oder wiesen in einigen Fällen auch keine etablierten Verbindungen zu extrem rechten Gruppen oder Netzwerken auf. Dies kann ein weiterer Hinweis darauf sein, dass soziale Medienkommunikation die Schwelle zum Kontakt mit rassistischem, Ressentiment geladenem und antifeministi-schem Gedankengut für bislang nicht auffällige Personen gesenkt haben.

Gerade im Zuge des aktuell beobachtbaren Protest- und Radikalisierungsgeschehens finden sich auch eine Vielzahl an nichtorganisierten Nutzenden, die zahlreiche Nachrichten posten, kommentieren und weiterleiten, in großem Umfang eigene Mitteilungen senden und Botschaften anderer kommentierten oder teilen. Die Inhalte, die sich auf sozialen Medien, Messenger-Diensten und Gaming-Plattformen zeigen, sollten auch als ein wichtiger Diskursraum wahrgenommen werden, auf dem gesellschaftliche Polarisierungstendenzen erkennbar werden (siehe bspw. eine Studie des IDZ Jena). Um Wege in den Extremismus in den Anfängen zu unterbinden und diese unorganisierten Verbreitungswege von Falschnachrichten, Diffamierung und Hassrede einzugrenzen, ist es wichtig, diese Diskursräume zu verstehen und nachzuzeichnen sowie auf eine vielgestaltige Strategie der politischen Bildung und der Prävention zu setzen. Bemühungen, die Medien- und Streitkompetenzen zu erhöhen, sind für alle Alters-gruppen und in allen geografischen Räumen zentral – dafür benötigt man einen langen Atem.

Zum Thema „Radikalisierung“ können bei der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung folgende Publikationen bestellt werden: