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01. Juni 1924: 100. Jahrestag des Beginns der Serienproduktion der ersten Kleinbildkamera durch das Wetzlarer Unternehmen „Leitz“

Zu den bahnbrechenden technischen Neuerungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die die zeitlichen und räumlichen Bezugsgrößen menschlichen Seins entscheidend erweiterten, zählt auch die Fotografie. Im Juni 1924 gab das 1869 von Ernst Leitz in Wetzlar – der „Stadt der Optik“ – gegründete Unternehmen „Leitz“ die Kamera „Leica“ in die Massenproduktion, die sich daraufhin rasch zu einem Verkaufsschlager entwickelte. Mit der erstmaligen Serienproduktion einer Kleinbildkamera, das heißt einer 35-mm-Kamera mit einem Bildformat von zwei bis vier Zentimetern, wurden die vormals sehr teuren Geräte für einen breiten Kundenkreis erschwinglich. In über 150 Jahren Unternehmensgeschichte von „Leitz“ spiegeln sich zeitgenössische Entwicklungen und Debatten des von Industrialisierung und scheinbar unbegrenztem Wirtschaftswachstum geprägten 19. Jahrhunderts, aber auch die Herausforderungen des 20. Jahrhunderts wider, in dem dieser Fortschrittsoptimismus einer pragmatischeren Zukunftsvorstellung wich. Die Führungspersönlichkeiten des Unternehmens stehen vorbildhaft für Zivilcourage und Demokratietreue – auch während des Nationalsozialismus.

Ernst Leitz I. und die Gründung von „Leitz“

„Leitz“-Gründer Ernst Leitz I. kam am 26. April 1843 als Sohn des Lehrers Ernst August Leitz und dessen Frau Christina Leitz im badischen Sulzburg zur Welt. In der von Ferdinand Oechsle gegründeten „Werkstatt für physikalische Instrumente“ durchlief der junge Leitz eine fünfjährige Mechanikerausbildung und besuchte gleichzeitig die Pforzheimer Gewerbeschule. Nachdem er in der Schweizer Telegrafen- und Uhrenfabrik von Matthäus Hipp Einblicke in Vorzüge und Herausforderungen der Serienfertigung erhalten hatte, schloss Leitz sich 1864 dem „Optischen Institut“ in Wetzlar an, das Carl Kellner 1849 zur Herstellung von Teleskopen, Okularen und Mikroskopen gegründet hatte. Kellners Handwerksbetrieb mit lediglich einem Dutzend Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gilt als Keimzelle der optischen Unternehmen, die Wetzlar im Laufe des 20. Jahrhunderts als „Stadt der Optik“ zu Weltruf verhalfen. Nach Kellners Tod stieg Leitz 1869 zum alleinigen Inhaber des Unternehmens auf und verlieh ihm seinen Nachnamen. „Leitz“ entwickelte sich im ausgehenden 19. Jahrhundert zu einem der führenden Hersteller von Präzisionsmikroskopen in Europa, wobei der wirtschaftliche Erfolg maßgeblich durch die vor dem Hintergrund von Industrialisierung, Liberalisierung von Handel und Wirtschaft sowie Verwissenschaftlichung günstigen Bedingungen ermöglicht wurde. So nutzten etwa Robert Koch, Paul Ehrlich und Gerhard Domagk Mikroskope aus der mittelhessischen Stadt. Auch im Umgang mit seinen zu dieser Zeit etwa 1.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erwies „Leitz“ sich als progressives Unternehmen: Um die Jahrhundertwende wurden der Achtstundentag eingeführt und ein Krankenversicherungsverein gegründet. Darüber hinaus engagierte sich Leitz gemeinsamen mit seinem Sohn als Mitbegründer der Niederlassung der linksliberalen „Deutschen Demokratischen Partei“ in Wetzlar und spendete für Kinder, Hinterbliebene von Kriegstoten des Ersten Weltkriegs sowie für den Forschungsbetrieb an der Universität Gießen. Nach dem Tod Ernst Leitz‘ übernahm dessen Sohn Ernst Leitz II. 1920 die Unternehmensführung.

Serienproduktion der „Leica“ und Engagement Ernst Leitz‘ II.

Trotz der durch den Ersten Weltkrieg und die Hyperinflation von 1923 schwer belastete Wirtschaftslage entschied sich Leitz II. 1924, die von seinem Mechanikermeister Oskar Barnack entworfene „Leica“ („Leitz Camera“) in Serienproduktion zu geben. Bei der „Leica“ (später auch „Leica I“) handelte es sich um eine Kleinbildkamera mit 35mm-Film und Kleinbildformat von 24mm mal 36 mm, die Barnack ursprünglich für den privaten Gebrauch beim Wandern konstruiert hatte. Der Innovationsgrad der „Leica“ erschließt sich insbesondere durch die Einordnung der Erfindung in den Entwicklungsstand der Fotografie von 1924: Nachdem transportfähige Kameras erstmalig im 17. Jahrhundert konstruiert wurden, benötigten Aufnahmegeräte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch circa neun Stunden Belichtungszeit und waren weitestgehend dem Adel vorbehalten. Die „Leica“ als erste handliche Kleinbildkamera, die sich die positiven Entwicklungen im Bereich Belichtungszeit zunutze machte, bestand aus mehr als 190 Einzelteilen und setzte technische Standards, die bis heute in hochmodernen Spiegelreflexkameras umgesetzt werden. Erstmals in der Geschichte der Menschheit ermöglichte sie es einem breiten Kundenkreis, Momente aus der Gegenwart zu konservieren und für räumlich entfernte Mitlebenden oder die Nachwelt festzuhalten. Nicht nur für Privatpersonen, sondern auch für die Kommunikationsgeschwindigkeit in der Medienlandschaft markierte die Serienproduktion der „Leica“ eine revolutionäre Zäsur. Ernst Leitz II. war außerdem Politiker der „Deutschen Demokratischen Partei“, Stadtverordneter in Wetzlar sowie Mitglied des demokratischen, republiktreuen Wehrverbandes „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“.

„Leitz“ im Nationalsozialismus und bis in die Gegenwart

Im Zuge der Machtübernahme der Nationalsozialisten sah Leitz II. sowohl sein Unternehmen als auch sich persönlich als demokratische Führungs- und Identifikationsfigur Mittelhessens großer Gefahr ausgesetzt. Nichtsdestotrotz ermöglichte er über Empfehlungsschreiben und finanzielle Unterstützung mehreren Dutzend Juden die Ausreise in die USA und eine Anstellung in der Niederlassung von „Leitz“ in New York. Im Zusammenhang mit diesen Aktionen wurden Alfred Türk, ein Verkaufsleiter bei „Leitz“ und Verfasser solcher Empfehlungsschreiben für aus rassistischen Gründen Verfolgte, und Leitz‘ Tochter Elsie verhaftet und in Gestapo-Gefängnissen festgehalten. Dass sich die nationalsozialistische Repression gegenüber Leitz und seinem Umfeld trotz seiner Treue zu demokratischen und rechtsstaatlichen Werten auf die genannten Maßnahmen beschränkte, muss mit der militärischen Bedeutsamkeit seiner Produktion und seiner unabdingbaren Expertise zusammengehangen haben. Als Hersteller von kriegswichtigen, militärisch einsetzbaren optischen Instrumenten beschäftigte er dennoch knapp 1.000 Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter. Inwieweit dieser Einsatz von staatlichem Druck ausging, ist heute schwer zu rekonstruieren.

Nach Kriegsende konnte die Produktion dank geringer Schäden an der Infrastruktur des Betriebs rasch wieder aufgenommen werden. Leitz‘ drei Söhne Ludwig, Ernst und Günther übernahmen nach dem Tod des Vaters 1956 gemeinsam die Unternehmensführung. Der zweitgeborene Ernst zählte zu den Gründern der CDU in Wetzlar und gehörte zwischen 1958 und 1967 dem Landesvorstand der Partei an. Nach zahlreichen Fusionen wurde die „Leica“-Gruppe 1996/1997 schließlich in „Leica Geosystems“ mit Sitz in der Schweiz, „Leica Camera“ und „Leica Microsystems“ aufgespalten, wobei die letzten beiden bis heute in Wetzlar ansässig sind. „Leica Microsystems“ produziert heute Lichtmikroskope, während die „Leica Camera AG“ in Form der Herstellung von Fotoapparaten und Ferngläsern das Erbe von „Leitz“ fortführt.

Bei der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung sind unter anderem folgende Publikationen zum Thema erhältlich: