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Rechte Gewalt in Hessen seit 1945

Rechtsextremismus und die damit verbundene Gewalt war und ist ein Problem der deutschen Gesellschaft. Die Festnahme von mehr als 20 Personen aus dem „Reichsbürger- und Querdenker“-Milieu am 7. Dezember 2022 in Deutschland und auch in Hessen hat gezeigt, dass eine permanente Bedrohungslage durch radikalisierte militante rechte Einzelpersonen, Gruppen und Netzwerke für unsere Gesellschaft, für Politikerinnen und Politiker sowie für Minderheiten weiterhin gegeben ist. Die Umsturzpläne des Netzwerkes, dem ehemalige Bundestagsmitglieder und Führungskräfte von deutschen Spezialkräften ebenso wie Adlige, Verschwörungsanhängerinnen und -anhänger, Polizistinnen und Polizisten und militante Rechtsradikale angehörten, sollten mit massiver Gewalt umgesetzt werden.

Gerade in Hessen kam es in der jüngsten Geschichte immer wieder zu rassistischen und hassgetriebenen Morden, Anschlägen und Attentaten gegen Menschen durch bewaffnete rechte Einzelpersonen und Gruppen. Die Morde in Hanau am 19. Februar 2020, das Attentat auf Walter Lübcke am 1. Juni 2019 in Istha, der Mord an Halit Yozgat am 6. April 2006 in Kassel im Rahmen der NSU-Mordserie und viele weitere politisch motivierte Verbrechen rechter Einzelpersonen, Gruppen und Netzwerke haben klaffende Wunden des Schmerzes und der Trauer, aber auch der Wut und Angst hinterlassen. Die politische und juristische Aufarbeitung der Taten und deren Hintergründe steht weiterhin in vielen Fällen aus. Allein im hessischen Landtag werden aktuell zwei Untersuchungsausschüsse zum Mord an Walter Lübcke (UNA 20/1) und den Morden in Hanau (UNA 20/2) durchgeführt, um zu klären, welche Hintergründe die Taten hatten und welche Fehler ggf. von staatlicher Seite aus begangen wurden.

Die Gefahr, die von bewaffneten rechten Personen, Gruppen und Strukturen in Hessen und in der Bundesrepublik ausgeht, ist jedoch kein reines Phänomen der heutigen Zeit. Die Geschichte rechter Gewalt zieht sich vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis in die Gegenwart und ist nur in Teilen aufgearbeitet – vielfach wurde sie vergessen und verdrängt. Doch nicht nur die Taten und die Täterinnen und Täter wurden vergessen, sondern besonders die Opfer rechter Gewalt spielen in der hessischen und bundesdeutschen Erinnerungskultur fast keine Rolle und ihre sowie die Schicksale der Hinterbliebenen sind häufig in Vergessenheit geraten.

"Dieses aggressive Vergessen der rechten Gewalt ist aus meiner Sicht eines der größten gesellschaftlichen und politischen Probleme der Bundesrepublik."

Uffa Jensen: Ein antisemitischer Doppelmord. Die vergessene Geschichte des Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik, Berlin 2022, S. 9.

Die Organisationsstrukturen der rechten Personen, Gruppen und Netzwerke aus den sehr unterschiedlichen, sich in den letzten Jahrzehnten immer wieder gewandelten militanten rechtsradikalen bis rechtsterroristischen Strömungen sind häufig unerforscht. Welche Formen rechte Gewalt in der hessischen Zeitgeschichte annahm, welche Kontinuitäten es gab und welche Personen, Gruppen sowie Netzwerke in Hessen seit 1945 aktiv waren, ist Gegenstand des nachfolgenden Textes.

Kontinuitäten nach dem Zweiten Weltkrieg und die Rolle der Alliierten

Aufgrund des heimlichen Vorgehens der handelnden Akteurinnen und Akteure sowie personeller und organisatorischer Verstrickungen mit zunächst alliierten Geheimdienststrukturen und später staatlichen Akteuren und Institutionen liegt die Geschichte rechter Gewalt in der Bundesrepublik und auch in Hessen bis heute zum Teil im Dunkeln. Dabei bestanden und bestehen bis heute mit Blick auf rechte Gewaltakteurinnen und -akteure immer wieder enge lokale Verflechtungen nach Hessen.

Der deutsche Rechtsextremismus hat einen Doppelcharakter. Er stellt einerseits ein zersplittertes, minoritäres Lager dar, das oft stark auf sich selbst bezogen ist und sich seit 1945 in der Opposition befindet. Andererseits ist das entsprechende Denken in vielen Teilen der Bevölkerung zu finden, zumindest in Fragmenten. Das rechtsextreme Lager vermochte es, sich am Leben zu halten und immer wieder Einfluss auf die Gesellschaft zu nehmen.

Christoph Schulze: Rechtsextremismus. Gestalt und Geschichte, Wiesbaden 2021, S. 10.

Die bedingungslose Kapitulation Deutschlands im Mai 1945 und die Gründung eines westdeutschen Nachkriegsstaats 1949 waren bedeutende historische Zäsuren. Die vorher anerkannten und weitverbreiteten Weltanschauungen, Ideologien und Denkmuster, die im Nationalsozialismus zur Staatsdoktrin erhoben worden waren, wirkten über das Kriegsende hinaus in der westdeutschen Gesellschaft nach. Nach 1945 stellten militante rechte Personen, Gewaltgruppen und Netzwerke eine ernstzunehmende Gefahr für verschiedene gesellschaftliche, politische und/oder religiöse Minderheiten in der Bundesrepublik Deutschland sowie für die fragile staatliche Nachkriegsordnung dar.

Trotz der von den Alliierten propagierten Entnazifizierung gründeten sich in der Bundesrepublik Deutschland früh rechtextreme Splitterparteien. In Hessen war vor allem die Nationaldemokratische Partei (NDP) erfolgreich, die bei den Kreistagswahlen 1948 3,4 % der Wählerstimmen erreichte. Nach der Spaltung 1950 schloss sich ein Teil der ehemaligen Parteimitglieder mit der Deutsch Konservativen-Partei - Deutschen Reichspartei zur Deutschen Reichspartei zusammen, der andere Teil fusionierte mit der Sozialistischen Reichspartei, die als führende Partei des rechtsradikalen Lagers der jungen Bundesrepublik galt. Politische und bewaffnete Umsturzfantasien waren grundlegender Bestandteil der Ideologie. Wie groß die Gefahr dieser zunächst häufig kleingeredeten Parteien, Gruppen und Netzwerke war, sollte sich bald zeigen.

Technischer Dienst und Bund Deutscher Jugend (BDJ)

Am 23. Juni 1950 gründete der Arzt und Publizist Paul Lüth in Frankfurt am Main den Bund Deutscher Jugend, zu dessen Chefideologe er aufstieg. Die Gruppierung stellte in den knapp drei Jahren ihrer Aktivität ein Sammelbecken für Veteranen der Wehrmacht sowie der Waffen-SS dar und kooperierte mit den US-amerikanischen Geheimdiensten, u.a. dem Counter Intelligence Corps (CIC) und der CIA. Das Ziel der US-amerikanischen Geheimdienste war es, dass die paramilitärisch organisierten Gruppierungen im Falle eines sowjetischen Angriffes auf Westeuropa Widerstand leisten sollten. Auf Basis der 78-seitigen Denkschrift „Bürger und Partisan“ von Lüth aus dem Jahr 1951 wurde im April 1951 der sogenannte Technische Dienst als geheime Unterorganisation des BDJ gegründet, die als sogenannte „Stay-behind-Organisation“ fungieren, sich bei einem sowjetischen Angriff verstecken und anschließend Sabotageakte verüben sollte. Beide wurden in erster Linie durch US-amerikanische Dienststellen finanziert. Politisch bediente sich die Organisation einer Doppelstrategie: Die Mehrheit der BDJ-Mitglieder leistete bündische Jugend- und antikommunistische Öffentlichkeitsarbeit. Die Gruppierung etablierte aber auch eine systematische Partisanenausbildung auf dem US-amerikanischen Truppenübungsplatz in Grafenwöhr und bereitete sich militärisch auf einen Angriff des Warschauer Paktes auf Westdeutschland vor. Außerdem richtete der Technische Dienst einen Nachrichtendienst zur Überwachung politischer Gegner ein. Große mediale Resonanz erreichte der BDJ, als bekannt wurde, dass mit August-Martin Euler (FDP) und Kurt-Georg Kiesinger (CDU) 1952 zwei Bundestagsabgeordnete auf dem Pfingsttreffen der Vereinigung sprachen. Das hessische Landesamt für Verfassungsschutz beobachtete den BDJ zwar, schätzte ihn jedoch als ungefährlich ein. Am 9. September 1952 sagte mit dem ehemaligen SS-Hauptsturmführer Hans Otto ein hoher BDJ-Funktionär über den militanten bewaffneten Charakter der Gruppierung aus. Er sei auch an der Erstellung einer „schwarzen Liste“ beteiligt gewesen, die einer Sammlung von Namen hochrangiger SPD-Politiker glich, die „aus dem Verkehr gezogen“ werden sollten. Im Rahmen der folgenden Razzien wurde öffentlich bekannt, dass die US-amerikanischen Geheimdienste die Organisation massiv finanziell unterstützt und ihr Waffen, Munition und Sprengstoff geliefert hatten. Etwa einen Monat später bekannten sich US-Stellen erstmals zu dieser finanziellen und materiellen Unterstützung des BDJ. Dennoch wurde die Ermittlungsarbeit der deutsch-amerikanischen Untersuchungskommission von US-amerikanischer Seite aus behindert. Am 7. Januar 1953 wurde der BDJ in Hessen als verfassungswidrige, rechtsextreme Gruppierung verboten. Es folgten Verbote weiterer Landesverbände und des Technischen Diensts. Die Bedrohung durch gewaltbereite, rechte Gruppierungen wie dem BDJ war einer der Gründe, warum am 4. Mai 1954 durch einen Kabinettsbeschluss der hessischen Landesregierung unter Georg-August Zinn die Hessische Landeszentrale für Heimatdienst gegründet wurde, die 1963 ihren heutigen Namen Hessische Landeszentrale für politische Bildung erhielt.

Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD)

Mit der 1964 als rechtsextreme, neonazistische Kleinpartei gegründeten Nationaldemokratischen Partei Deutschlands übernahm in den 1960er- und 1970er-Jahren eine neue Partei die Führungsrolle der politisch extremen Rechten. Sie ging aus der Deutschen Reichspartei hervor. Zwischen 1966 und 1972 war sie in sieben Landesparlamenten vertreten und scheiterte bei der Bundestagswahl 1969 mit 4,3 % der Wählerstimmen nur knapp an der Fünfprozenthürde. Völkisch-nationalistisches Gedankengut, Antisemitismus, Antikapitalismus und Geschichtsrevisionismus bildeten die zentralen identifikationsstiftenden Elemente des Parteiprogramms. Im Zuge der Erfolge der NPD intensivierten sich die parteipolitischen und privaten Initiativen zur Bemühung eines Parteiverbotes gegen die NPD. Aufgrund von innerparteilichen Unstimmigkeiten und vermehrtem Einsatz des Bundesinnenministeriums zur Aufklärung über Rechtsextremismus versank die NPD in den 1980er-Jahren in der innenpolitischen Bedeutungslosigkeit. Im Zuge der sogenannten „Asyldebatten“ und einer erneuten personellen Umstrukturierung radikalisierte sich die NPD in den 1990er-Jahren weiter. Das von Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat 2001 angestrebte Verbotsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht scheiterte wegen verfahrensrechtlicher Fehler und wegen personeller Verflechtungen der NPD-Führung im Landesverband Nordrhein-Westfalen mit dem Verfassungsschutz. In den 2000er-Jahren erzielte die Partei vor allem in den neuen Bundesländern nennenswerte Wahlerfolge. 2007 galt die NPD mit etwa 2.700 Mitgliedern als mitgliederstärkste politische Gruppierung am rechten Rand. Ein zweites, von den Ländern angestrebtes Verfassungsverbot wurde im Januar 2017 vom Bundesverfassungsgericht abgelehnt. Zwar erkannte das Gericht den verfassungsfeindlichen Charakter der Partei, diese habe jedoch angesichts der Mitgliederzahlen und Wahlergebnisse zu diesem Zeitpunkt keine Bedrohung für die freiheitlich-demokratische Grundordnung dargestellt.

Das Oktoberfestattentat 1980 – Wehrsportgruppe Hoffmann und Wiking-Jugend

Während der Rechtsextremismus in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik in erster Linie von verschiedenen politischen Parteien getragen wurde, formierten sich in den 1970er-Jahren zunehmenden geheim-operierende militante rechte Gruppierungen, die verschiedene Anschläge und Angriffe auf Einzelpersonen oder Institutionen verübten. Viele Personen aus den radikal-rechten Milieus waren von der politischen Ausrichtung der NPD enttäuscht und wollten eigene, militantere Gruppierungen gründen. Bereits in der Wiking-Jugend, die sich als Nachfolgeorganisation der Hitler-Jugend und des Bund deutscher Mädel verstand, erfuhren spätere militante bewaffnete Akteure wie Odfried Hepp sowie auch spätere NPD-Funktionäre eine frühkindliche weltanschauliche Prägung. In einer intensivierten Phase der gesellschaftlichen Aufarbeitung des NS-Regimes ab Mitte der 1970er Jahre traten auch neue Führungsfiguren der militanten rechten Szene in Erscheinung. Die Wehrsportgruppe Hoffmann, 1973 vom militanten Rechtsradikalen Karl-Heinz Hoffmann gegründet, gilt als Keimzelle des sogenannten bundesdeutschen Rechtsterrorismus. Sie war seit ihrer Gründung an der Ausbildung und Indoktrination der meisten militanten Rechtsradikalen der bundesdeutschen Geschichte beteiligt. Ihr Vize-Chef, Uwe Behrendt, ermordete am 19. Dezember 1981 in Erlangen den Rabbiner Shlomo Lewin und dessen Lebensgefährtin Frida Poeschke. Odfried Hepp, der 1982 gemeinsam mit Walther Kexel in Hessen die Hepp-Kexel-Gruppe gründete, wurde von einem Ableger der Wehrsportgruppe Hoffmann, der sogenannten Wehrsportgruppe Ausland, im Libanon militärisch ausgebildet. Gundolf Köhler, der Attentäter des Oktoberfestattentates am 26. September 1980, war sowohl Mitglied in der Wiking-Jugend als auch in der Wehrsportgruppe Hoffmann. Am 26. September detonierte in einem Papierkorb südlich der Brausebadinsel auf dem Festgelände des Oktoberfestes in München, mitten im Endspurt des Bundestagswahlkampfs 1980, eine Bombe, die fünf Männer, darunter auch den Bombenleger Köhler, und zwei Kinder tötete. Sechs weitere Schwerverletzte verstarben auf dem Weg zum oder im Krankenhaus. Insgesamt wurden 211 Personen durch das Attentat verletzt. Die Einzeltäterthese, an der die Behörden trotz konträrer Zeugenaussagen bis heute festhalten, gilt als umstritten. Das Oktoberfestattentat stellt bis heute den rechten Anschlag mit den meisten Toten und Verletzten in der Geschichte der Bundesrepublik dar.

Hepp-Kexel-Gruppe

1982 gründeten der im Libanon militärisch ausgebildete Odfried Hepp und der im Rhein-Main-Gebiet aktive, juristisch mehrfach aufgrund von politischen Straftaten vorbestrafte Walther Kexel auf der Basis eines radikalen Antiamerikanismus in Frankfurt am Main die Hepp-Kexel-Gruppe. Sie verübten mindestens elf Sprengstoffanschläge auf US-amerikanische Soldaten und Militäreinrichtungen im Rhein-Main-Gebiet sowie mindestens sieben Raubüberfälle auf Banken. Im Juni 1982 veröffentlichten sie ihre programmatische Erklärung „Abschied vom Hitlerismus“. Im Rahmen der Themenwoche erscheinen auf der Website der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung Beiträge, die die Entstehung und Gründung der Hepp-Kexel-Gruppe sowie ihre Anschlagsserie im Dezember 1982 thematisieren.

Der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) und der hessische Verfassungsschutz

Die bisher bekannten Haupttäterinnen und -täter des Nationalsozialistisches Untergrunds, Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe, ermordeten zwischen 2000 und 2007 neun Menschen mit internationaler Geschichte und eine Polizistin, verübten 43 Mordversuche, drei Sprengstoffanschläge und 15 Raubüberfälle zur Finanzierung ihres Lebens im Untergrund. Das letzte Opfer der Mordserie, Halit Yozgat, Inhaber eines Internetcafes in Kassel, war das einzige Opfer des NSU, das in Hessen ermordet wurde. Das Umfeld des NSU pflegte enge Beziehungen nach Nordhessen in die dort bis heute bestens vernetzten rechtsradikalen und zum Teil gewaltbereiten Milieus. Bei dem Mord an Halit Yozgat am 6. April 2006 war Andreas Temme anwesend, ein Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes. Die genauen Umstände der NSU-Mordserie konnten bis heute nicht aufgeklärt werden. Die Ermittlungsbehörden vermuteten über Jahre die Täter im Umfeld der Opfer bzw. in migrantischen Communities. Eine genaue Rekonstruktion des Tathergangs sowie der Verstrickung Temmes und des hessischen Verfassungsschutzes wurde viele Jahre dadurch eingeschränkt, dass die damalige hessische Landesregierung eine Befragung eingeschleuster V-Leute in militante und bewaffnete rechte Milieus ablehnte. Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt nahmen sich 2011 das Leben und bekannten sich mit einem die Opfer verhöhnenden Video zu einigen ihrer Taten. Beate Zschäpe wurde im November 2011 festgenommen, nachdem sie als Reaktion auf den Suizid ihrer Kampfgefährten die gemeinsame Zwickauer Wohnung in Brand gesetzt hatte, um Spuren zu verwischen. Zschäpe wurde nach fünf Jahren Prozess am Oberlandesgericht München zu lebenslanger Haft unter Feststellung einer besonderen Schwere der Schuld verurteilt.

2012 ordnete der damalige hessische Innenminister und heutiger Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) eine umfassende Aufarbeitung der NSU-Morde an. Der 250-seitige Bericht des hessischen Verfassungsschutzes wurde zunächst mit der Begründung, Informantinnen und Informanten zu schützen, mit 120 Jahren Sperrfrist belegt, die später auf 30 Jahre heruntergesetzt wurde. Mit der Veröffentlichung der sogenannten „NSU-Akten“ durch FragDenStaat und das ZDF Magazin Royale am 28. Oktober 2022 traten die NSU-Morde und die Rolle des hessischen Verfassungsschutzes wieder ins Zentrum der öffentlichen Debatten. Die NSU-Akte enthält eher sporadisch Informationen über die Organisation und das Wirken des NSU selbst, verweist dafür aber mehrfach auf Stephan Ernst, der 2019 den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke erschoss. Seit 2009 war er dem hessischen Verfassungsschutz als gewaltbereiter und bestens vernetzter militanter Rechter bekannt.

Der Mord an Walter Lübcke

Walter Lübckes Name war auf einer zwischen 2006 und 2011 erstellten Liste der Zwickauer NSU-Zelle zu finden, die mehr als 10.000 Personen auflistet, die potenziell Ziele von Bombenanschlägen, Attentaten und Morden werden sollten. Zur Projektionsfläche für Ausländerfeindlichkeit und den Hass gegen Geflüchtete des in Hessen aktiven Netzwerkes von militanten und zum Teil bewaffneten Rechten wurde der Kasseler Regierungspräsident durch seine Migrationspolitik in der „Flüchtlingskrise“ 2015. Am 1. Juni 2019 wurde Lübcke auf seiner Terrasse erschossen. Sein Mörder, Stephan Ernst, war Unterstützer der NPD, später der AfD und dem Verfassungsschutz als Neonazi bekannt.

Der Mord an Walter Lübcke in der Nacht vom 1. auf den 2. Juni 2019 ist nicht als Einzelfall zu verstehen – und nicht als Tat eines Einzeltäters. Das Attentat fügt sich in die Strategie der Gewalt des rechten Terrors und steht damit in einer langen, traurigen deutschen Tradition.

Martin Steinhagen: Rechter Terror. Der Mord an Walter Lübcke und die Strategie der Gewalt, Hamburg 2021, S.14.

 Am 28. Januar 2021 wurde Ernst zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe unter Feststellung von besonderer Schwere der Schuld verurteilt.

Rechte Gewalt in Hessen seit 1945 – Eine Bilanz des Schreckens und Aufgabe der politischen Bildung

Diese kursorische Zusammenstellung rechter Gewalt zeigt nur einen kleinen Ausschnitt der Straftaten, Anschläge und Morde, bei denen bewaffnete rechte Einzelpersonen, Gruppen und Netzwerke seit 1945 in Hessen Menschen terrorisieren, verletzen und ermorden. Viele dieser Taten sind heute leider verdrängt, Morde und Anschläge häufig als Einzelfälle bagatellisiert und die Opfer vergessen worden. Politische Bildung muss an dieser Stelle ansetzen. Wie können die Politik, die Ermittlungsbehörden, die Medien und die Zivilgesellschaft angemessen auf diese Gewalttaten reagieren? Eine insbesondere auch für die überlebenden Opfer und ihre Hinterbliebenen wichtige Frage ist, wie die staatlichen Institutionen, Politikerinnen und Politiker sowie die Zivilgesellschaft mit den Gewalttaten umgehen. Besteht der unbedingte Wille, die Taten und ihre Hintergründe restlos aufzuklären? Wie und in welcher Form kümmert sich der Staat um die Hinterbliebenen und wie wird von staatlicher und gesellschaftlicher Seite an die Opfer gedacht? Welche Entscheidungen werden getroffen, damit in Zukunft die Wiederholung dieser Taten nach Möglichkeit verhindert werden können? Gibt es eine offene Fehlerkultur, um gemeinsam die Probleme und Fehler der Vergangenheit anzugehen?

Politische Bildung kann Kontinuitäten rechter Gewalt und die damit verbundenen Gefahren für Minderheiten, die Gesellschaft und staatliche Institutionen sichtbar machen. Politische Bildung sollte die Namen der Opfer und ihre Lebensgeschichten in Erinnerung halten. Politische Bildung kann aufklären, Kompetenzen im Umgang mit rassistischen, antisemitischen und menschenverachteten Verschwörungsmythen vermitteln und die Gefahren militanter rechter Ideologien und Weltbilder aufzeigen. Gemeinsam mit zivilgesellschaftlichen Akteurinnen und Akteuren, Institutionen der schulischen und außerschulischen Bildung sowie der Politik müssen die Gefahren rechter Gewalt ernst genommen werden. Nur so kann in Zukunft die Bilanz des Schreckens rechter Gewalt von einem der drängendsten Probleme der Gegenwart zu einem Phänomen der Geschichte werden.

Weitere Informationen zur Themenwoche "Die vergessene Geschichte der Hepp-Kexel-Gruppe – Gründung und Anschlagsserie gegen US-Soldaten im Rhein-Main-Gebiet 1982" finden sich hier.

Bei der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung können u. a. folgende Publikationen zum Thema bestellt werden: