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28. November 1989: 35. Jahrestag der Vorstellung des Zehn-Punkte-Programms zur Wiedervereinigung von Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU)

Im Rahmen der Haushaltsdebatte um den Etat des Bundeskanzleramts stellte Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) dem Bundestag am 28. November 1989 – wenige Tage nach der Maueröffnung am 9. November – ein „Zehn-Punkte-Programm zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas“ vor. Sein Vorstoß überraschte nicht nur den Koalitionspartner FDP, sondern auch die innenpolitische Öffentlichkeit und die außenpolitischen Partner – lediglich dem US-Präsidenten George Bush sen. hatte Kohl zuvor den Inhalt seines Aktionsprogramms anvertraut. Gerade dieses eigenmächtige Vorgehen ist es, das rückblickend von Historikerinnen und Historikerin disparat bewertet wird: Einerseits kann es als Voraussetzung und Weichenstellung für die schnelle Wiedervereinigung zum 3. Oktober 1990 gelten, andererseits ging mit dem Zehn-Punkte-Programm die Gestaltungsinitiative von den DDR-Bürgerinnen und -Bürgern und der Interims-DDR-Regierung um den Reformpolitiker Hans Modrow (SED-PDS, Nachfolgepartei der SED) auf ein Dreieck aus Bundesrepublik, USA und Sowjetunion über, die im Wesentlichen die Bedingungen der Wiedervereinigung aushandelten. Beiden Interpretationen ist gemein, dass das Zehn-Punkte-Programm als bedeutende Diskussionsgrundlage der Jahre 1989/90 anerkannt wird.

Hintergrund des Zehn-Punkte-Programms

Die DDR war in den 1980er-Jahren an ihrem Anspruch, ein Staat des „real existierenden Sozialismus“ zu sein, gescheitert. Von wirtschaftlichen Krisen und Umweltkatastrophen geplagt, gewährte die Bundesrepublik dem ostdeutschen Teilstaat 1983 Milliardenkredite, um im Gegenzug menschliche Erleichterungen an der deutsch-deutschen Grenze zu erreichen. Auch die Sowjetunion, der „Bruderstaat“, geriet in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre in eine politische und wirtschaftliche Krise, die Michail Gorbatschow nach seiner Wahl zum Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU 1985 mit einem Reformkurs nach dem Credo „Perestroika“ (Umbau) und „Glasnost“ (Offenheit) zu überwinden versuchte. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund des „imperial overstretch“ – der enormen Kosten, die die Sowjetunion im Rüstungswettlauf des Kalten Krieges und für den Krieg in Afghanistan aufwandte – verkündete Gorbatschow die Loslösung von der „Breschnew-Doktrin“. Diese für Jahrzehnte wichtigste außenpolitische Leitlinie der Sowjetunion gewährte den Ostblock-Staaten nur insoweit Souveränität, dass sie die Stabilität des Warschauer Pakts nicht gefährdeten. Ihre Abschaffung kam einer kleinen Revolution gleich. Die Unzufriedenheit vieler DDR-Bürgerinnen und -Bürger brach sich schließlich im Sommer 1989 bahn, als die innenpolitische Krise der Sowjetunion zeitlich mit dem Abbau der Grenzanlagen zwischen Ungarn und Österreich zusammentraf. Mehr als 100.000 Menschen verließen über Ungarn die DDR oder nutzten die bundesdeutschen Botschaften in Warschau, Prag und Budapest zur Ausreise. Schließlich war es ein historisches Missverständnis, ein Mangel an Kommunikation, der am 9. November 1989 die Öffnung der Berliner Mauer bedingte: Der SED-Funktionär Günter Schabowski trat ohne hinreichende Vorbereitung vor die Kameras und verkündete ein neues Reisegesetz, das vor dem Hintergrund der Massenflucht ausgearbeitet worden war. Die eigentlich geplante Sperrfrist für das Inkrafttreten der Reiseregelungen kam hingegen nicht zur Sprache, sodass tausende DDR-Bürgerinnen und -Bürger kurz darauf zu den Berliner Grenzübergängen strömten, die dem Druck nicht mehr standhielten. Die Mauer, die die deutsche Teilung seit 1961 zementierte, wurde geöffnet, die Flüchtlingskrise des Sommers hatte sich im Herbst 1989 zu einer Systemkrise ausgeweitet.

Inhalt des Zehn-Punkte-Programms

Während die Bundesregierung sich zur Maueröffnung lange Zeit nicht öffentlich äußerte, forderte der Vorsitzende des DDR-Ministerrates Hans Modrow am 17. November 1989 eine „Vertragsgemeinschaft“ der beiden deutschen Staaten. In Reaktion auf dessen Rede erarbeitete ein Kreis von Vertrauten um Helmut Kohl das „Zehn-Punkte-Programm“, über dessen Inhalt lediglich das Weiße Haus, nicht aber Großbritannien und Frankreich, in der Nacht vor der Bundestagsdebatte am 28. November informiert wurde. Die ersten fünf der zehn Punkte betrafen innerdeutsche Regelungen – so etwa humanitäre Soforthilfen, Reisefreiheit und Wirtschaftshilfen sowie die Schaffung konföderativer Strukturen zwischen beiden Staaten über den Zwischenschritt einer Vertragsgemeinschaft in Wirtschaft, Verkehr und Wissenschaft. Zur Voraussetzung hierfür machte die Bundesregierung das Vorhandensein einer demokratisch gewählten Regierung in der DDR als Verhandlungspartner. Entscheidend für die Wirkung des Aktionsplans, vor allem auf die Westalliierten, war es, dass die zweiten fünf Punkte die Vertiefung der europäischen Integration als notwendige Bedingung für die Annäherung der beiden deutschen Teilstaaten festschrieben. Gleichzeitig kritisierten die westlichen Partner der BRD das Fehlen einer Regelung in Bezug auf die deutsche Ostgrenze.

Reaktionen auf das Zehn-Punkte-Programm

Bei der Abstimmung im Bundestag über Kohls Aktionsplan erreichte die Koalition aus Union und FDP dessen Annahme, während die SPD sich wegen des Fehlens einer Aussage über die Anerkennung der deutschen Ostgrenze der Abstimmung enthielt, die zehn Punkte aber grundsätzlich unterstützte. US-Präsident Bush, der Kohls entscheidender Unterstützer im Einigungsprozess war, machte die Maximalforderung der Zugehörigkeit des wiedervereinigten Deutschlands zur NATO und zur Europäischen Gemeinschaft zur Bedingung seiner Zustimmung zur Einheit – eine Forderung, die sowjetischen Interessen diametral gegenüberstand. Auch Großbritannien und Frankreich lehnten das Programm mit Sicherheitsbedenken gegenüber einem wiedervereinigten, starken Deutschland in der Mitte Europas ab. Die Bedeutung von Kohls Programm ergab sich demnach vielmehr aus den Realitäten, die in der DDR infolge der ersten freien Volkskammerwahlen am 18. März 1990 entstanden: Da die CDU-nahe „Allianz für Deutschland“ den Sieg davontrug, wurde Kohls Stufenplan trotz anfänglicher Ablehnung auch von DDR-Oppositionsgruppen doch noch eine wichtige Richtschnur im Einigungsprozess. Die Sowjetunion akzeptierte die amerikanischen Maximalbedingungen schließlich und erhielt im Gegenzug Milliardenkredite aus der Bundesrepublik. Hieran wird deutlich, dass die deutsche Einheit weniger im Rahmen des Zwei-Plus-Vier-Prozesses ausgehandelt wurde, der am 12. September in der Unterzeichnung des „Zwei-Plus-Vier-Vertrags über die abschließenden Regelungen in Bezug auf Deutschland“ mündete, sondern vielmehr zwischen der zerfallenden Sowjetunion, den USA und der Bundesrepublik. Diese Analyse ist ein Erklärungsansatz dafür, warum es zum 3. Oktober 1990 schlicht zum Beitritt der ehemaligen DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes nach Artikel 23 kam, nicht zur Ausarbeitung einer neuen deutschen Verfassung. Auch in der Gegenwart und in der Zukunft wird die rückblickende Bewertung von Kohls Vorstoß im Sinne einer kritischen, gegenwartsbezogenen historischen Forschung und gesellschaftspolitischen Aushandlung Gegenstand kontroverser Diskussionen bleiben.

Weiterführende Informationen zum Jahr 1989, dem Jahr der friedlichen Revolution, finden Sie hier. Zur Projektseite des Lern- und Erinnerungsorts Notaufnahmelager Gießen gelangen sie hier.

Bei der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung sind unter anderem folgende Publikationen zum Thema erhältlich: