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Zum Tod von Michail Sergejewitsch Gorbatschow

Mit Michail Sergejewitsch Gorbatschow ist ein Politiker verstorben, der durch seine Reformpolitik als selbsternannter „Mann des Systems“ die Sowjetunion nach den Prinzipien Perestroika (Umbau) und Glasnost (Öffentlichkeit) verändern und so den Kommunismus retten wollte - und dabei scheiterte.

Gleichzeitig wurde und wird „Gorbi“ in der westlichen Öffentlichkeit und besonders in Deutschland trotz und wegen dieses Scheiterns als einer der Väter der Deutschen Einheit und Wegbereiter des internationalen Entspannungsprozesses im Kalten Krieges gefeiert.

 

Kindheit, Jugend und Studium

Gorbatschow wurde am 2. März 1931 in eine russisch-ukrainische Bauernfamilie in der Region Nordkaukasus geboren. Als junger Erwachsener erhielt er als Mitglied des kommunistischen Jugendverbandes Komsomol den Orden des Roten Banners der Arbeit für die Ernte von mehreren tausend Zentnern Getreide mit seinem Vater. Anschließend studierte er bis 1955 Jura an der Lomonossow-Universität Moskau, wo er seine Frau Raissa kennenlernte, die er 1953 heiratete.

 

Politische Karriere

Noch während seines Studiums trat Gorbatschow als Vollmitglied in die Kommunistische Partei der Sowjetunion ein. 1970 wurde er zum Ersten Sekretär für Landwirtschaft ernannt, ein Jahr darauf stieg er weiter zum Mitglied des Zentralkomitees der KPdSU auf. Seine aufstrebende Position in der Partei ermöglichte dem sowjetischen Politiker früh Reisen ins kapitalistische Ausland, unter anderem nach Deutschland und Großbritannien. Durch seine Ernennung zum Vollmitglied des Politbüros 1980 lernte er Juri Andropow, den Chef des sowjetischen Geheimdienstes kennen, der begann, Gorbatschows Karriere in der KPdSU zu unterstützen.

Am 11. März 1985 beerbte der als junger Reformer geltende Gorbatschow den kurz zuvor verstorbenen Konstantin Tschernenko als Generalsekretär der sowjetischen Staatspartei und leitete anschließend eine umfassende Reformpolitik nach dem Prinzipien Perestroika und Glasnost ein, mit denen er eine marktwirtschaftliche und demokratische Öffnung der Sowjetunion erwirken wollte, um so den Kommunismus vor dem drohenden Untergang zu bewahren. Teil seiner Politik war erstmals auch ein Bekenntnis zu den Fehlern der Partei während der Ära Stalin und dem Zweiten Weltkrieg.

1988 wurde Gorbatschow schließlich Vorsitzender des Kollektiven Staatsoberhaupts der Sowjetunion und somit auch de jure Staatsoberhaupt der Sowjetunion. Seine Distanzierung von der Breschnew-Doktrin von 1968 als determinierende politische Leitlinie des Ostblocks ermöglichte den Warschauer-Pakt-Staaten ein vergrößertes Maß an Selbstbestimmung und gilt als Voraussetzung für den friedlichen Revolutionsprozess in der DDR. Besonders dort wurde er durch seine populäre Reformpolitik und das Vorantreiben des internationalen Entspannungsprozesses im Kontext des Kalten Krieges zur Symbol- und Hoffnungsfigur für Fortschritt und Veränderung. So werden Gorbatschow die Worte „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ in den Mund gelegt, die er so wohl nie gesagt hat. Dennoch entwickeln diese sich mit Blick auf die „Gerontokratie um Honecker“ (Stefan Wolle) zu einer geflügelten, viel zitierten Sentenz, die das paralysiert wirkende politische Klima in der DDR Ende der 1980er Jahre beschreiben soll. Für seine Verdienste rund um den Fall der Mauer, die Wiedervereinigung der beiden deutschen Teilstaaten und den Entspannungsprozess im Kalten Krieg wurde Gorbatschow 1990 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.

Im selben Jahr folgt seine Wahl zum Präsidenten der Sowjetunion. Wie unpopulär Gorbatschows Ansatz im Ostblock selbst war, ist an der Reaktion der sowjetischen Bevölkerung auf die Staatsführung während der traditionellen Maiparade 1990 erkennbar: Die Sowjets pfiffen den in der westlichen Welt als großen Staatsmann und Vater der Einheit verehrten Staatspräsidenten aus. Während des Zerfalls der Sowjetunion und im Zuge der Unabhängigkeitsbewegungen in den baltischen Staaten kam es besonders in Litauen zu militärischer Gewaltanwendung, für die Gorbatschow verantwortlich gemacht wird.

Nach dem misslungenen Putschversuch einiger orthodoxer kommunistischer Politiker mit Teilen des Militärs 1991 geht die politische Macht in der Sowjetunion zunehmend in die Hände des Präsidenten der Russischen Teilrepublik, Boris Jelzin, über, was mittelfristig den Rücktritt Gorbatschows am 25.12.1991 bewirkte.

Gorbatschow in Hessen

Mehr als ein Mal war der weltbekannte Staatsmann auch in Hessen zu Gast. Den wohl bekanntesten Anlass hierzu bot die Verleihung des nach dem markanten US-Army-Militäraußenpostens im Kreis Fulda benannten Point-Alpha-Preises im Jahre 2005, bei der Gorbatschow gemeinsam mit Altkanzler Helmut Kohl und dem ehemaligen US-Präsidenten Georg W. Bush für ihr Engagement während des deutschen Einigungsprozesses geehrt wurde.

Darüber hinaus hielt er 2010 eine Festrede zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit in der Frankfurter Paulskirche. Bei dieser Gelegenheit trugen Gorbatschow und seine Frau Raissa sich auch in das Goldene Buch der Mainmetropole ein.

Nachsowjetisches Politikengagement und umstrittenes Vermächtnis

Auch nach seiner politischen Karriere in der KPdSU blieb Gorbatschow ein interessierter und engagierter Beobachter der weltpolitischen Bühne. 1992 gründete er die Gorbatschow-Stiftung, zu deren elementaren Leitlinien Völkerverständigung und Pazifismus zählen. Der Regierung Putins stand er zeitlebens distanziert gegenüber, so war er beispielsweise Mitherausgeber der kremlkritischen Zeitung „Nowaja Gaseta“.

Gorbatschows politisches Erbe ist dennoch ein ambivalentes. Während er in der westlichen Welt aufgrund seiner Beteiligung am Gelingen von deutscher Einheit und Ende des Kalten Krieges großes Ansehen genießt, gilt er auch heute noch in den Gebieten des ehemaligen Ostblocks als zu wenig machtpolitisch und verantwortlich für den Zusammenbruch der Sowjetunion und die folgende wirtschaftliche und politische Instabilität. Dies spiegelt in hohem Maße in den diversen Reaktionen zu seinem Tod am 30.08.2022 wieder.

 

Pressestimmen zum Tod von Michail Sergejewitsch Gorbatschow

 

„Im Westen war und bleibt Michail Gorbatschow immer „Gorbi“: ein Friedensengel, der half, das Wettrüsten zu beenden und die in der DDR stationierten Soldaten in den Kasernen ließ, als das Volk auf die Straße ging.“

-Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.08.2022

 

„Mit seiner Politik von Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Umgestaltung) schaffte er die Voraussetzung für das Ende des Kalten Krieges zwischen Ost und West und auch für den Fall der Berliner Mauer 1989.“

-Berliner Zeitung, 31.08.2022

 

„Nur wenige Staatsmänner des 20. Jahrhunderts hatten einen so tiefgreifenden Einfluss auf ihre Zeit.  In etwas mehr als sechs turbulenten Jahren lüftete Michail Gorbatschow den Eisernen Vorhang und veränderte das weltpolitische Klima entscheidend.“

-The New York Times, 30.08.2022

 

„Gorbatschow wagte ab dem Jahr 1985 das scheinbar Unmögliche: Er wollte den Kommunismus verändern, um ihn und die Sowjetunion am Leben zu erhalten.“

-Wiener Zeitung, 31.08.2022

 

„Das Paradoxon des Reformers Gorbatschow: Im Westen wurde er verehrt, er bekam den Friedensnobelpreis. In seiner Heimat wurde er noch Jahrzehnte nach dem Beginn der Perestroika verflucht, für den Zerfall der UdSSR und das darauffolgende politische und wirtschaftliche Chaos verantwortlich gemacht.“

-Welt, 31.08.2022

 

„Der weltweit geschätzte Politiker galt als einer der Väter der Deutschen Einheit und als Wegbereiter für das Ende des Kalten Krieges.“

-Der Spiegel, 30.08.2022

 

„Gorbatschow war ein Staatsmann der Frieden mit dem Westen schloss und den Preis dafür zahlte. Nur wenige Staatsmänner des 20. Jahrhunderts hatten einen solchen Einfluss im In- und Ausland, und nur wenige haben ein solches Vermächtnis hinterlassen.“

-The Times, 30.08.2022