17. Oktober 1949: 75. Jahrestag von Helene Wessels Amtsantritt als Vorsitzende der Zentrumspartei
Als erste Frau wurde Helene Wessel 1949 Vorsitzende einer Partei. Sie arbeitete am Grundgesetz mit, engagierte sich in der Familienpolitik und in der Debatte um die Wiederbewaffnung – bis sie sich mit ihrer Partei überwarf.
Sich als Frau in der Politik zu engagieren, war eine Selbstverständlichkeit für Helene Wessel. Mit 18 Jahren hatte sie 1919 in der Zentrumspartei als Stenotypistin angefangen, war sechs Jahre später Mitglied des Reichsparteivorstands der Partei geworden und 1928 in den preußischen Landtag eingezogen. Dort war die damals 30-Jährige die jüngste Abgeordnete ihrer Fraktion und wurde sozialpolitische Sprecherin der Partei.
1949 war Wessel die erste Frau, die einen Parteivorsitz übernahm – es sollte Jahrzehnte dauern, bis mit Angela Merkel erneut eine Frau in die gleiche Position aufrückte. Die frisch gekürte Vorsitzende der Zentrumspartei sagte 1949 in einem Interview über die Rolle der Frau in der Politik: „Ich bin der Auffassung, dass das Schicksal auch Deutschlands in entscheidendem Maße davon abhängen wird, ob es uns gelingt, die Frau in die Politik hineinzubringen. Nicht nur allein zahlenmäßig ist die Frau heute im Übergewicht gegenüber dem Mann, aber es hat sich immer in der Geschichte gezeigt, dass neue Zeiten in entscheidendem Maße von den Frauen mitbestimmt sein müssen“.
Die 1898 geborene Dortmunderin war als jüngstes von vier Kindern in einem katholischen Haushalt aufgewachsen. Schon ihr Vater engagierte sich in der Zentrumspartei. Er starb jedoch, als Wessel noch im Mädchenalter war. Die katholischen Werte ihres Elternhauses leiteten Wessel ein Leben lang.
Ihr Berufsweg führte sie zunächst an eine Volks- und Handelsschule, anschließend machte sie eine Ausbildung in der Sozialfürsorge in Münster und in Berlin an der Deutschen Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit, die von Sozialreformerin Alice Salomon gegründet worden war.
Ein Jahr nach Abschluss ihrer Ausbildung wurde Wessel 1930 Mitglied im geschäftsführenden Vorstand der Zentrumspartei. Doch statt Fahrt aufzunehmen, wurde ihre politische Karriere durch den Aufstieg der Nationalsozialisten ausgebremst. Im März 1933 entmachtete sich der Deutsche Reichstag mit dem Ermächtigungsgesetz faktisch selbst. Zu Wessel finden sich dazu widersprüchliche Aussagen: entweder enthielt sie sich bei der Abstimmung oder sie stimmte als einzige Abgeordnete ihrer Partei gegen das Gesetz.
Die Nationalsozialisten stuften sie als „politisch unzuverlässig“ ein und erteilten ihr Berufsverbot. Wessel zog sich daraufhin aus der Politik zurück. Sie überstand die Jahre der Diktatur in Anstellungen bei katholischen Fürsorgevereinen und machte sich nach eigenen Angaben möglichst unsichtbar. Den Nationalsozialismus lehnte sie ab. Gleichzeitig publizierte sie jedoch auch mindestens eine Abhandlung, die zeitgenössische eugenische Überzeugungen enthielt. Ihre Schrift „Bewahrung – nicht Verwahrlosung“ ist von sozialdarwinistischen Einflüssen geprägt: All jene, die Gesundheit und Finanzen von Gesellschaft und Staat belasteten, sollten – wenn nötig gegen ihren Willen – in Einrichtungen „bewahrt“ werden. Dazu zählten Kriminelle, Menschen mit körperlichen oder geistigen Behinderungen, Menschen mit Lernschwächen, Suchtkranke. Wessel sprach sich für die Einrichtung von Heil-, Erziehungs- und Verwahrungsanstalten und auch für die Sterilisation sozial Schwacher aus.
Eine Überzeugung, mit der die Politikerin in Zeiten pseudowissenschaftlich breit akzeptierter eugenischer Konzepte zur „Erbgesundheit“ nicht allein war und an der sie lange festhielt. Noch 1951 unterstützte die Politikerin den Entwurf eines „Bewahrungsgesetzes“ mit ähnlichen Vorschlägen im deutschen Bundestag, das jedoch nie verabschiedet wurde.
Als Katholikin hätte sie nach dem Zweiten Weltkrieg ihre politische Heimat in der CDU finden können – doch ihr missfiel, wie viele Alt-Nazis dort politisch aktiv waren. 1946 beteiligte sie sich deshalb an der Neugründung der Zentrumspartei. In der Überzeugung, wie wichtig die Einbindung von Frauen in die Politik war, setzte sie auf dem Parteitag der Zentrumspartei 1948 einen 20-Prozent-Anteil von Frauen im Vorstand durch und forderte sichere Listenplätze für Frauen in der Partei.
Für die Zentrumspartei zog Wessel als Delegierte in den Parlamentarischen Rat ein, um an der Ausarbeitung des Grundgesetzes mitzuwirken. Dort engagierte sich Wessel für den Schutz von Ehe und Familie. Unter anderem setzte sie sich gemeinsam mit Helene Weber für Artikel 6, Absatz 4 im Grundgesetz ein. „Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft.“
Letztlich gingen Wessel die im Grundgesetz verankerten Regelungen zur Sozialpolitik nicht weit genug. Sie hatte außerdem die Aufnahme von Volksbegehren und Volksentscheiden gefordert – weil auch diese keinen Eingang fanden, verweigerte Wessel dem Grundgesetz bei der Schlussabstimmung am 8. Mai 1949 ihre Zustimmung.
Sie zog in den ersten Deutschen Bundestag ein und machte als Abgeordnete und Parteivorsitzende solchen Eindruck, dass der SPD-Politiker Carlo Schmid ihr das zweifelhafte Kompliment aussprach, „der einzige Mann im Bundestag“ zu sein.
Ihr katholischer Glaube begründete ein konservatives Familienbild. Privat teilte Wessel ihr Leben mit ihrer engsten Mitarbeiterin Alwine Cloidt, mit der sie 1958 in Bonn zusammen ein Haus kaufte.
Weil sie für ihre Prinzipien einstand, musste sie harte Anfeindungen aushalten. Wessel sprach sich vehement gegen die Wiederbewaffnung Deutschlands aus und geriet dadurch in Widerspruch mit ihrer eigenen Partei. Die Überzeugungen klafften so weit auseinander, dass Wessel 1952 vom Vorsitz der Zentrumspartei zurücktrat und ihre Partei sogar verließ. Mit Gleichgesinnten wie Gustav Heinemann und Johannes Rau gründete sie die „Gesamtdeutsche Volkspartei“. Die Partei scheiterte bei den folgenden Bundestagswahlen an der neu eingeführten 5-Prozent-Hürde und löste sich auf.
Wessel fand ihre neue politische Heimat 1957 in der SPD und argumentierte weiterhin mit Verve gegen Wiederbewaffnung und Aufrüstung. Man könne den Eindruck bekommen, in der Bundesrepublik sei der Glaube an die Kraft der Atombombe größer als der Glaube an Gott, schleuderte sie dem Plenum entgegen. Dafür, dass sie mitten im Kalten Krieg vor einer Kommunistenpanik warnte, die eine Wiedervereinigung mit der DDR verhinderte, wurde sie von ihren Kollegen im Bundestag mit persönlichen Beleidigungen und Beschimpfungen wie „Flintenweib“ und „Giftspritze“ bedacht. Auch die Presse ging sie hart an. Die öffentliche Meinung war derart aufgepeitscht, dass Wessel auf einer politischen Versammlung mit Steinen beworfen und unter Polizeischutz in Sicherheit gebracht werden musste.
Die Politikerin hielt unbeirrt an ihren politischen Überzeugungen fest und gehörte dem Bundestag bis zu ihrem Tod an. Wessel leitete bis 1965 den Petitionsausschuss des Bundestags und starb am 13. Oktober 1969 71-jährig in einem Bonner Krankenhaus.