26. Juni 1964: 60. Todestag der Politikerin und Journalistin Tony Sender
Sie opponierte gegen die Gewalt im Ersten Weltkrieg, setzte sich während der Novemberrevolution für die Schaffung einer Räterepublik ein und vertrat anfangs die hessische USPD und später die SPD zwischen 1920 und 1933 im Reichstag: Tony Sender gilt als einer der bedeutendsten hessischen Politikerinnen der Weimarer Republik. Von den Nationalsozialisten sowohl wegen ihrer politischen Gesinnung als auch wegen ihres jüdischen Glaubens verfolgt, gehörte Sender im März 1933 zu den ersten, die Deutschland verließen. Aus dem amerikanischen Exil setzte sie ihren Kampf gegen den Nationalsozialismus fort und engagierte sich darüber hinaus bei den Vereinte Nationen für die Rechte von Frauen sowie von Arbeiterinnen und Arbeitern. Senders heute weitgehend vergessenes Lebenswerk ist ein Plädoyer für Mut und Menschlichkeit im Angesicht der Gräuel zweier Weltkriege und der nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen.
Kindheit, Jugend und Ausbildung
Tony Sender kam am 29. November 1888 mit dem Namen Sidonie Zippora Sender als dritte Tochter des Kaufmann Moses Sender und dessen Frau Marie (geborene Dreyfus) im damals noch eigenständigen Biebrich bei Wiesbaden zur Welt. Da der Vater der jüdischen Gemeinde zu Biebrich vorstand, spielte der orthodox-jüdische Glauben im Familienleben eine bestimmende Rolle. Um der Strenge des Elternhauses zu entfliehen, verließ Sender die jüdische Töchterschule in Biebrich bereits im Alter von 13 Jahren ohne Abschluss und besuchte fortan die Handelsschule für Mädchen in Frankfurt am Main. Noch während der schulischen Ausbildung verdiente sie im Büro einer Maklerfirma ihr eigenes Geld, näherte sich dem Sozialismus an und distanzierte sich gleichermaßen von ihrem jüdischen Glauben. Das angestrebte Studium der Nationalökonomie blieb ihr jedoch wegen der fehlenden Zustimmung des Vaters verwehrt. 1906 trat sie dem „Zentralverein der Bureauangestellten“ bei – der im beginnenden 20. Jahrhundert rasch wachsenden gewerkschaftlichen Vereinigung dieser Berufsgruppe –, 1910 folgte der Eintritt in die SPD.
Auslandsaufenthalt in Frankreich und Erster Weltkrieg
Sender verbrachte 1910/1911 im Auftrag der Frankfurter Metallhandelsfirma „Beer, Sondheimer und Co.“ ein Jahr als Fremdsprachensekretärin in Paris und engagierte sich dort im Dunstkreis der „Französischen Sozialistischen Partei“ für soziale Gerechtigkeit und die Einführung des Frauenwahlrechts. Auch der promovierte Naturwissenschaftler Albert Sondheimer (geboren 1876 in Frankfurt am Main), der Mitinhaber dieser Metallhandelsfirma war, galt als Philanthrop und engagierte sich vielfältig auf sozialem Gebiet. Er gehörte der neo-orthodoxen Israelitischen Religionsgesellschaft (Agudas Jisroel) an. Sondheimer bekannte sich außerdem früh zum Zionismus. Kurz nach 1900 stand er an der Spitze der Palästina-Commission der Freien Vereinigung für die Interessen des orthodoxen Judentums, die sich vorwiegend um Schulgründungen in Palästina kümmerte. Die Hoffnung von Tony Sender, der Ausbruch des infolge der multiplen Krisen und des imperialen Prestigedenkens in vielen europäischen Hauptstädten drohenden Ersten Weltkrieges könne durch das internationale Zusammenstehen der Arbeiterschaft verhindert werden, wurde im Sommer 1914 enttäuscht. Als Deutsche wurde sie nach Kriegsausbruch rasch aus Frankreich ausgewiesen und kehrte nach Deutschland zurück. Trotz der grundsätzlich antiimperialistischen Prägung der SPD trugen weite Teile der Partei den Bündnisbeistand und damit den Kriegskurs der Reichsregierung und des Kaisers schließlich mit. Grund für diese sogenannte „Burgfriedenspolitik“ war nicht zuletzt das Kalkül, sich mit der Unterstützung eines „patriotischen Kriegs“ von den Verunglimpfungen als „vaterlandslose Gesellen“ und „innere Reichsfeinde“ reinzuwaschen, die die Sozialdemokraten unter Bismarck erfahren hatten. Geprägt durch die Kontakte, die sie in Paris geknüpft hatte, ging Sender jedoch in die innerparteiliche Opposition gegen die Unterstützung des Kriegs und geriet dabei – wie etwa Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht – zusehends in Isolation. 1915 nahm sie am ersten „Internationalen Frauenkongress gegen den Krieg“ teil, den Rosa Luxemburg und Clara Zetkin im neutralen Bern organisiert hatten und an dem sowohl Teilnehmerinnen aus den Mittelmächten als auch aus den Entente-Mächten beteiligt waren. Sender brachte das dort verfasste pazifistische Manifest, das kurz darauf als Flugblatt in deutschen Industrievierteln verteilt wurde, illegal über die deutsche Grenze. Im Streit über die Unterstützung des Krieges spalteten sich weiter linksstehende Sozialdemokratinnen und -demokraten – unter ihnen auch Tony Sender – als „Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands“ (USPD) im April 1917 schließlich von der Mehrheitssozialdemokratie ab.
Novemberrevolution und Weimarer Republik
Bei Kriegsende setzte Sender sich in den Wirren der Novemberrevolution für die Schaffung eines Rätesystems nach sowjetischem Vorbild ein und wirkte als Generalsekretärin des Arbeiter- und Soldatenrats in Frankfurt am Main. Ein besonderes Anliegen war ihr hierbei die Einbeziehung von Frauen gemäß ihrem Anteil an der Anzahl der Beschäftigten in die Räte. In den frühen Jahren der Weimarer Republik trat Sender als Chefredakteurin der USPD-Tageszeitung „Volksrecht“ und der „Betriebsrätezeitschrift für die Metallindustrie“ auch journalistisch in Erscheinung. Zwischen 1920 und 1933 vertrat sie als eine der wenigen weiblichen Abgeordneten anfangs den Wahlkreis Hessen-Nassau für die USPD und später (nach ihrem Parteiübertritt 1922) den Wahlkreis Dresden-Bautzen für die SPD im Reichstag. Dort gehörte sie den Ausschüssen für Wirtschafts- und Außenpolitik an. 1923 gehörte die Politikerin darüber hinaus zu den Gründerinnen des „Internationalen Sozialistischen Frauenkomitees“. Nach ihrem Umzug nach Berlin 1927 begann sie ein Studium der Volkswirtschaftslehre, das sie wegen einer Tuberkuloseerkrankung jedoch nicht abschließen konnte. Nachdem die Nationalsozialisten ab 1930 eine wachsende Rolle im öffentlichen Leben spielten, setzte Sender sich gegen die SPD-Tolerierungspolitik der Präsidialkabinette und für einen Generalstreik ein, um den deren Aufstieg zu verhindern.
Flucht vor dem Nationalsozialismus und Wirken aus dem Exil
Wenige Wochen nach der nationalsozialistischen Machtübernahme floh die jüdische Politikerin wegen offener Morddrohungen als sowohl aus politischen als auch aus rassistischen Gründen Verfolgte aus Deutschland in die Tschechoslowakei. Bis 1935 schrieb sie für die belgische sozialdemokratische Tageszeitung „Volksgazet“ und engagierte sich in der Exilgruppe des republiktreuen Wehrverbands „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“. Im März 1934 fand Sender ihren Namen auf der zweiten Ausbürgerungsliste der Nationalsozialisten, womit sie ihre deutsche Staatsbürgerschaft verlor. Auf einer Vortragsreise durch die USA entschied sie, nicht nach Europa zurückzukehren, und engagierte sich fortan aus dem amerikanischen Exil für Flüchtlingshilfe. 1938 nahm sie in New York ihr Studium wieder auf. Drei Jahre später folgte Sender dem Ruf ans „Office for Strategic Services“, einem Nachrichtendienst des US-Kriegsministeriums, für den sie Lageeinschätzungen zu von der Wehrmacht besetzten Gebieten verfasste, woraufhin sie 1944 zur Wirtschaftsexpertin der Zentraleuropaabteilung der Vereinten Nationen aufstieg. In dieser Funktion wirkte sie an Rückführungsmaßnahmen von „Displaced Persons“, vor allem von Zwangsarbeitskräften und KZ-Insassen, mit und setzte sich für den demokratischen Wiederaufbau Deutschlands nach Kriegsende ein. So schickte Sender etwa Hilfspakete an den einstigen Reichstagspräsidenten Paul Löbe (SPD) sowie an den SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher. Gleichzeitig wurde sie Mitglied der „Kommission für die Rechtsstellung der Frau“ und der Menschenrechtskommission der UNO. Zeitlebens engagierte Sender sich in diesen Gremien für die Rechte von Frauen und aus politischen, religiösen oder rassistischen Gründen Verfolgte, obwohl ihre Parkinson-Erkrankung sie in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre zwang, kürzer zu treten. Am 26. Juni 1964 erlag sie den Folgen ihrer Erkrankung. Tony Sender wurde auf dem Beth Israel Friedhof in New Jersey bestattet. In einem Nachruf schrieb die „New York Times“, so das Internetportal „FemBio. Frauen Biographieforschung“ (fembio.org), über Tony Sender: „Sie war ein vertrauter Anblick bei den Vereinten Nationen. Aufgrund ihres politischen Hintergrunds war sie eine großartige Rednerin. Dabei war sie ganz Spitze und Wohlgeruch — trotz des immer präsenten Aktenkoffers.“ Zu ihren Ehren verleiht die Stadt Frankfurt seit 1992 den „Tony-Sender-Preis“ an Personen bzw. Gruppen für besondere Verdienste um die Gleichberechtigung.