15. Juli 1849: 175. Jahrestag der Gründung des „Optischen Instituts“ durch Carl Kellner in Wetzlar
Die mittelhessische Stadt Wetzlar ist über Deutschlands Grenzen hinaus als als „Stadt der Optik“ bekannt. Den Ausgangspunkt für die Entwicklung der optischen Industrie in Wetzlar schuf Carl Kellner 1849 in Gestalt seines „Optischen Instituts“, aus dem 1869 das bis heute erfolgreiche Unternehmen „Leitz“ und weitere optische Betriebe hervorgingen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in dem wissenschaftliche Erkenntnisse, technische Neuerungen und industrielles Wachstum sich wechselseitig befeuerten, legten Erfindungen wie die des Kellner-Okulars die ökonomischen Grundlagen für die Moderne. Vor diesem Hintergrund erscheinen die historischen Traditionen und die erkenntnisgetriebene Weiterentwicklung der Wurzeln der optischen Industrie in Wetzlar noch heute relevant.
Herkunft und Ausbildung von Carl Kellner
Das Geburtsdatum Carl Kellners wird in der Literatur entweder auf den 21. oder auf den 26. März 1826 datiert. Kellner wurde als zweiter Sohn des Hüttenverwalters Albert Philipp Kellner und dessen Frau Johanna (geborene Rudersdorf) im hessischen Hirzenhain im Vogelsberg und in die Zeit des repressiven „System Metternich“ im Deutschen Bund geboren. Nach seiner Schulzeit in Braunfels westlich von Wetzlar durchlief Kellner eine Mechanikerlehre bei Philipp Sartorius im Gießen, die er jedoch nicht abschloss. An die Lehrjahre schloss sich ein mehrmonatiger Aufenthalt beim angesehenen Hamburger optischen Unternehmen „Repsold & Söhne“ an, das besonders für die Qualität seiner astronomischen Instrumente bekannt war. Im Selbststudium und im Austausch mit seinem Bruder Eduard und seinem Freund und späteren Kollegen Moritz Hensoldt vertiefte Kellner in den Folgemonaten seine mathematischen und physikalischen Kenntnisse, wobei er sich schließlich auf die Herstellung von Präzisionsokularen spezialisierte.
Gründung des „Optischen Instituts“
Nachdem Kellner das von ihm entwickelte orthoskopische Okular 1847 der Öffentlichkeit präsentiert hatte, das aufgrund einer speziellen Linsenkombination im Gegensatz zu zeitgenössischen Instrumenten erstmals ein perspektivisch richtiges Bild ohne Verzerrungen abbilden konnte, gründete er im Juli 1849 das „Optische Institut“. Die Unternehmensgründung wurde von der Veröffentlichung der knapp 70-seitigen wissenschaftlichen Schrift „Das orthoskopische Okular“ flankiert, die erst durch die Initiative Justus Liebigs ermöglicht wurde. Mit dem Chemiker Liebig sowie dem Physiologen Theodor von Bischoff, die beide an der nahegelegenen Universität Gießen lehrten und forschten, pflegte der Unternehmer einen regen Austausch. Kellners neuartiges Okular fand nicht zuletzt dank dieser Verbindungen schnell Anklang in der Wissenschaftswelt des 19. Jahrhunderts und wurde bis weit ins 20. Jahrhundert in Mikroskopen und astronomischen Teleskopen eingesetzt. Dass die Unternehmensgründung in Wetzlar erfolgte, gilt hingegen eher als historischer Zufall: Hensoldt und Kellner hatten ursprünglich geplant, das Unternehmen in Hensoldts thüringischer Geburtsstadt Sonneberg anzusiedeln. Die finanzielle Unterstützung der Familie seiner Schwester Mathilde sowie die Möglichkeit zur Übernahme eines leerstehenden Hauses zweier ausgewanderter Klavierbauer in Wetzlar bewogen Kellner wohl schließlich, sein Unternehmen doch in der späteren „Stadt der Optik“ anzusiedeln.
Unternehmensentwicklung und Tod Kellners
Vor dem Hintergrund der entscheidenden Rolle des Kaufmanns Johann Hinckels, dem Mann Mathilde Kellners, und der unruhigen politischen Lage in den Wochen nach der Niederschlagung der Revolution von 1848/1849 firmierte der Betrieb bis 1852 unter dem Namen „Optisches Institut Johann Hinckel“. Während Kellner sich in den ersten Monaten auf die Herstellung von Fernrohren konzentrierte, verschob sich sein Fokus auch vor dem Hintergrund des Aufstiegs der Naturwissenschaften rasch auf Mikroskope, mit denen er zahlreiche (Gießener) Professoren belieferte – darunter seine Bekannten Justus Liebig und Theodor von Bischoff, aber etwa auch den Berliner Arzt Rudolf Virchow. Die etwa 130 Mikroskope, die zwischen 1849 und Kellners frühem Tod 1855 in Wetzlar hergestellt wurden, wurden außerdem ins österreichische, holländische, englische, schwedische und norwegische Ausland verkauft. Kellners optische Instrumente genossen in der wissenschaftlichen Gemeinschaft des deutschsprachigen Raums einen hervorragenden Ruf. Im Jahr 1855 verlieh der preußische König Friedrich Wilhelm IV. ihm die „Goldmedaille für hervorragende gewerbliche Leistungen“. Wenig später, am 13. Mai 1855, starb Kellner im Alter von nur 29 Jahren an Tuberkulose und wurde auf dem Friedrich Rosengärtchen in Wetzlar beigesetzt.
Kellners Vermächtnis als Begründer der optischen Industrie in Wetzlar
Kellners vormaliger Mitarbeiter Friedrich Belthle führte den ein knappes Dutzend Mitarbeiter umfassenden Betrieb nach dessen Tod gemeinsam mit Kellners Witwe Maria Werner, die Belthle heiratete, bis 1869 weiter. Sein Nachfolger Ernst Leitz I. und dessen Sohn Ernst Leitz II. verliehen dem Betrieb ihren Nachnamen und bauten ihn im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert zu einem der bedeutenden optischen Unternehmen der Welt auf. 1924 ging die von Oskar Barnack entworfenen „Leica“ als erste Kleinbildkamera der Welt bei „Leitz“ in Serienproduktion. Bis heute haben die „Leitz“-Nachfolgeunternehmen „Leica Microsystems“ und „Leica Camera“ ihren Sitz in Wetzlar. Darüber hinaus bauten Kellners Freund Hensoldt und sein ehemaliger Mitarbeiter Louis Engelbert, der sich nach der Heirat von Belthle und Maria Kellner mit dem „Optischen Institut“ überworfen hatte, in den 1860er-Jahren ihren eigenen optischen Betrieb in Wetzlar auf. Hensoldts Söhne führten die „Hensoldt-Werke“, die heute noch unter dem Namen „Carl Zeiss Sports Optics“ in Wetzlar produzieren, nach seinem Tod 1903 weiter. Die Brüder Seibert, die entfernt mit Kellner verwandt waren und in seinem Betrieb eine Ausbildung durchlaufen hatten, gründeten 1867 das Optik-Unternehmen „W. & H. Seibert“ in Wetzlar, das unter anderem das Mikroskop herstellte, mit dem der Mikrobiologe Robert Koch die Erreger von Milzbrand und Tuberkulose entdeckte.