Zum Hauptinhalt springen

09. September 1948: 75. Jahrestag der Demonstration für Freiheit vor dem Berliner Reichstagsgebäude und der Rede des Berliner Oberbürgermeisters Ernst Reuter (SPD)

„Ihr Völker der Welt, schaut auf diese Stadt und erkennt, dass ihr diese Stadt und dieses Volk nicht preisgeben könnt!“ Am 9. September 1948 formulierte der gewählte, aber von der sowjetischen Besatzungsmacht nicht anerkannte Berliner Oberbürgermeister Ernst Reuter (SPD) im Rahmen einer Kundgebung der demokratischen Parteien vor den Trümmern des Reichstaggebäudes diesen, seinen wohl berühmtesten Satz. Er ging als Chiffre des Protests gegen die seit Juni 1948 bestehende sowjetische Blockade der drei westlichen Sektoren Berlins und für die Freiheit der Westberliner Bürgerinnen und Bürger in die deutsche Demokratie- und Teilungsgeschichte ein. Gleichzeitig sind die Demonstration von etwa 300.000 Menschen für den Erhalt der Lebensfähigkeit der Westsektoren Berlins sowie die Rede Reuters als richtungsweisende Stationen der Geschichte um den umstrittenen Sonderstatus der ehemaligen Reichshauptstadt Berlin zwischen 1945 und 1990 zu begreifen.

Vorgeschichte der Geschehnisse des 9. September 1948

Nachdem mit der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 8./9. Mai 1945 die Kriegsniederlage des Deutschen Reiches offiziell anerkannt und der Zweite Weltkrieg in Europa beendet war, übernahmen die USA, Großbritannien, Frankreich und die Sowjetunion als die Hauptsiegermächte gemeinsam die Regierungsgewalt im besiegten Deutschland sowie im wieder eigenständigen Österreich. In der Folge wurde die ehemalige Reichshauptstadt Berlin genau wie das gesamte Staatsgebiet in vier Besatzungszonen geteilt. Trotz gegenteiliger Absichtserklärungen scheiterte die interalliierte Viermächtepolitik in Bezug auf Deutschland im Kontext der Herausbildung und zunehmenden Konfrontation zweier antagonistischer Machtblöcke um die USA und die Sowjetunion als Mächte mit ideologischem und machtpolitischem Führungsanspruch in der ersten Hälfte des Jahres 1948 endgültig. Am 20. Juni 1948 führten die Westalliierten in den inzwischen zur Trizone zusammengeschlossenen westlichen Besatzungszonen eine Währungsreform durch. In dieser Währungsreform vermutete die Sowjetunion wiederum einen Angriff auf ihre wirtschaftlichen und politischen Interessen in der Sowjetischen Besatzungszone und den Versuch der Ausweitung des westlichen Einflusses auf Berlin. In Reaktion auf die Währungsreform in den Westzonen verhängte die sowjetische Militäradministration am 24. Juni 1948 eine totale Blockade des Personen- und Güterverkehrs nach Westberlin auf dem Land- und Seeweg. Ziel der Sowjetunion war es, die Westalliierten zur Aufgabe Westberlins als Enklave innerhalb der sowjetischen Besatzungszone zu bewegen. Die Westalliierten erhielten die Lebensfähigkeit Westberlins jedoch durch eine Luftbrücke, mit der bis zur Aufgabe der Blockade am 12. Mai 1949 über mehrere Monate hinweg Lebensmittel, Treibstoff und andere lebenswichtige Güter nach Westberlin transportiert wurden – eine logistische Meisterleistung.

Biografie Ernst Reuters, seine Rede und ihre Symbolwirkung

Ernst Reuter, geboren 1889 in Schleswig-Holstein, gehörte ab 1912 zunächst der SPD an, wandte sich nach seiner Kriegsgefangenschaft in Russland dann aber dem Kommunismus zu. Während der bolschewistischen Oktoberrevolution 1917 unterstützte er die Revolutionäre als Volkskommissar in Saratow und gehörte zwischen 1919 und 1922 der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) an. Anschließend kehrte er zur SDP zurück und wurde 1931 Oberbürgermeister von Magdeburg. Nach seiner Amtsenthebung durch die Nationalsozialisten und zweimaliger Inhaftierung in Konzentrationslagern emigrierte Reuter 1935 ins türkische Exil. 1946 ins besetzte Berlin zurückgekehrt, stieg er rasch zum wichtigsten sozialdemokratischen Politiker Berlins auf und wurde im Juni 1947 von der Stadtverordnetenversammlung zum Oberbürgermeister gewählt. Wie auf der Niederwaldkonferenz im Juli 1948 setzte Reuter sich fortwährend für die Gründung eines (provisorischen) westdeutschen Nachkriegsstaates unter Einbeziehung Westberlins ein. Als populäre Galionsfigur des Freiheitskampfes der Stadt Westberlin trat Ernst Reuter am 9. September 1948 im hitzigen und unsicheren politischen Klima des beginnenden Kalten Krieges, der mit der Blockade Westberlins einen ersten Höhepunkt erreicht hatte, vor ein etwa 300.000 Menschen zählendes Publikum. Mit viel Pathos erhob er den 9. September zu dem Tag, an dem „das Volk von Berlin seine Stimme erhebt“. Rhetorisch feine und emotional vorgetragene Sätze wie „Uns kann man nicht eintauschen, uns kann man nicht verhandeln, und uns kann man auch nicht verkaufen“ oder der spitzzüngige Rat an die SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands), als neues Symbol statt dem stilisierten Händedruck zwischen dem KPD-Vorsitzenden Wilhelm Pieck und SDP-Chef Otto Grotewohl bei der Zwangsvereinigung von KPD und SPD am 22. April 1946 „die Handschellen, die sie den Berlinern anlegt“ zu wählen, trafen den politischen Zeitgeist und beeindrucken bis heute.

Reuters Berliner Gegenspieler: Der Sohn des Reichspräsidenten Friedrich Ebert

Friedrich Ebert Junior, der sowohl in der SPD wie später in der SED Ämter und Funktionen ausübte, fungierte nach den Landtagswahlen 1946 in der SBZ als Präsident des Brandenburgischen Landtages. Der 1894 in Bremen geborene Sohn des ehemaligen Reichspräsidenten Ebert wurde am 30.11.1948 von einem sogenannten „Volkskongress“ im Berliner Admiralspalast in einen provisorischen „Demokratischen Magistrat“ gewählt und als Oberbürgermeister vereidigt. Jener Kongress erklärte die Gesamtberliner Stadtverordnetenversammlung von 1946 sowie den repräsentativ gewählten Magistrat für abgesetzt. Ebert Junior blieb bis 1967 Oberbürgermeister von Ost-Berlin und stieg bis zum stellvertretenden Staatsratsvorsitzenden der DDR auf. Ernst Reuter hingegen starb am 29. September 1953 im Alter von 64 Jahren.

Nachwirkungen der Kundgebung

Rund um das Brandenburger Tor kam es im Nachgang an die Kundgebung, die im Westsektor vor dem Reichstagsgebäude stattgefunden hatte, zu Ausschreitungen. Ostberliner Bürgerinnen und Bürger, die von in den Ostsektor der Stadt zurückkehren wollten, wurden von der Volkspolizei daran gehindert. Schließlich machten die Polizisten aus dem Ostsektor von ihren Schusswaffen Gebrauch und töteten den 15-jährigen Wolfgang Scheunemann.

Sowohl in Westdeutschland als auch im westlichen Ausland erfreute sich die Rede Ernst Reuters hoher medialer und gesellschaftlicher Aufmerksamkeit. Geschickt hatte Reuter Westberlin zum Symbol des „freien Westens“ erhoben. So trug seine Rede am 9. September 1948 nicht nur dazu bei, den Widerstands- und Durchhaltewillen der von der sowjetischen Blockade gebeutelten Westberliner Bevölkerung zu stärken, sondern förderte auch die gesellschaftspolitische Akzeptanz und Unterstützung für die westalliierte Luftbrücke in den USA, Frankreich und Großbritannien.