08. Mai 1899: 125. Jahrestag des Beginns des dritten Kongresses der Freien Gewerkschaften in Frankfurt am Main
Angesichts der zahlreichen Streiks, zu denen die Lokführergewerkschaft GDL in den letzten Wochen und Monaten aufgerufen hat, sind Gewerkschaften als Vereinigungen von Arbeitnehmerinnen und -nehmern einer bestimmten Berufsgruppe zur Durchsetzungen von deren beruflichen und sozialen Interessen aktuell wieder in aller Munde. Ein entscheidendes Mittel der Gewerkschaften – die Verhandlung von Tarifverträgen – erstritten die seinerzeit der deutschen Sozialdemokratie nahestehenden Freien Gewerkschaften vom 8. bis 13. Mai 1899 im Rahmen ihres dritten Kongresses in Frankfurt am Main. 130 Delegierte vertraten an diesen sechs Tagen die Interessen von rund 500.000 gewerkschaftlich organisierten Arbeiterinnen und Arbeitern, debattierten über Tarifgemeinschaften sowie die Agenda der Gewerkschaften bei der Lösung der sozialen Frage im deutschen Kaiserreich und bekannten sich schlussendlich mehrheitlich zum Einsatz von Tarifverträgen.
Ursprünge 1848/1849 und frühe Entwicklung der Gewerkschaftsbewegung
Im Zusammenhang mit der Deutschen Revolution von 1848/1849 gründeten sich ausgehend von den Berufsgruppen der Buchdrucker und der Zigarrenarbeiter erste regional begrenzte gewerkschaftsähnliche Vereine, die Forderungen nach der Verbesserung der Arbeitsbedingungen sowie der Festsetzung eines Mindestlohns artikulierten und häufig Zentren in großen Industriestädten hatten. Im Rahmen des ersten „Allgemeinen Arbeiter-Kongresses“, der vom 23. August bis zum 3. September 1848 in Berlin stattfand, gründete der sozialistische Politiker Stephan Born mit der „Allgemeinen Deutschen Arbeiterverbrüderung“ die gewerkschaftliche Keimzelle der deutschen Arbeiterbewegung. Trotz des Scheiterns der Revolution etablierte sich in den Folgedekaden der Streik als Mittel zur Interessensdurchsetzung von Arbeiterinnen und Arbeitern. Neben mehreren hundert Arbeitervereinen, die zwischen 1848/1849 und der Gründung des preußisch-kleinbürgerlich geprägten Kaiserreichs in den deutschen Landen entstanden, wurde 1863 auf besonderes Betreiben von Ferdinand Lassalle, einem der Wortführer der Arbeiterbewegung, außerdem der grundsätzlich gewerkschaftsskeptische „Allgemeine Deutsche Arbeiterverein“ (ADAV) gegründet. 1875 fusionierte er mit der SPD-Vorläuferpartei SDAP zur „Sozialistischen Arbeiterpartei“ (SAP).
Freie Gewerkschaften im Kaiserreich
Reichskanzler Otto von Bismarck bekämpfte sowohl die politische als auch die gewerkschaftliche Arbeiterbewegung, in der sich bis 1877/1878 rund 60.000 Menschen organisiert hatten, als „innere Reichsfeinde“. Das „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ (Sozialistengesetz), das zwischen 1878 und 1890 regelmäßig verlängert wurde, verbot jegliche sozialistischen, sozialdemokratischen und kommunistischen Vereine, Verbände, Versammlungen und Veröffentlichungen. Viele Freie Gewerkschaften lösten sich auf oder wurden verboten. Eine Kandidatur für die Sozialdemokratie bei Reichstagswahlen blieb jedoch weiterhin möglich, sodass mit Wilhelm Liebknecht und August Bebel (und anderen) prominente Sozialdemokraten auf der politischen Bühne vertreten blieben. Zu Bismarcks Sozialpolitik unter dem Credo „Zuckerbrot und Peitsche“ gehörte jedoch auch die Einführung eines Sozialversicherungssystems, um die Arbeiterschaft an das Reich zu binden. Insgesamt scheiterte der Reichskanzler jedoch mit seiner Arbeiterpolitik: Die 1890 entstandenen SPD etablierte sich als mitgliederstärkste deutsche und bei Wahlen erfolgreiche Partei. Nachdem das „Sozialistengesetz“ nach der Absetzung Bismarcks 1890 nicht verlängert wurde, traten die Freien Gewerkschaften wieder aus dem Dunkel von Untergrund- und Exilorganisation hervor, schlossen sich zur „Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands“ als Dachinstitution zusammen und stiegen im ausgehenden 19. Jahrhundert zu den mitgliederstärksten und einflussreichsten deutschen Gewerkschaften auf.
Gewerkschaftskongress in Frankfurt 1899
Auf dem dritten Gewerkschaftskongress in Frankfurt am Main bekannten sich die 130 Delegierten vom 8. bis 13. Mai mehrheitlich zum Koalitionsrecht – also dem individuellen Recht Gewerkschaften beizutreten – und unterstrichen das Selbstverständnis der Arbeiterbewegung als staatserhaltende Kraft. In puncto Tarifverträge trafen in Frankfurt zwei konträre Positionen aufeinander, die Stimmberechtigten entschieden sich jedoch mit einer überwältigenden Mehrheit von 126 zu 4 Stimmen für die folgende, progressive Formulierung: „Tarifliche Vereinbarungen, welche die Lohn- und Arbeitsbedingungen für eine bestimmte Zeit regeln, sind als Beweis der Gleichberechtigung der Arbeiter seitens der Unternehmen bei der Festsetzung der Arbeitsbedingungen zu erachten.“ Mit diesen Worten legte der Gewerkschaftskongress den Grundstein der im heutigen Grundgesetz verankerten Tarifautonomie. Als letzten Tagesordnungspunkt wählten die Anwesenden die sieben Mitglieder der neuen Generalkommission, die je aus einem Vertreter der Zimmerer-, Drechsler-, Tischler- und Schneiderzunft sowie aus einem Maurer, Buchdrucker und Tabakarbeiter bestand. Dass die Gewerkschaften nach 1918 mehrheitlich republiktreue Organisationen waren, unterstreicht die Tatsache, dass sie 1920 durch einen vom „Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund“ initiierten Generalstreik zum Scheitern des antirepublikanischen „Kapp-Lüttwitz-Putsches“ beitrugen. Nur wenige Wochen nach ihrer Machtübernahme zerschlugen die Nationalsozialisten die Gewerkschaften am 2. Mai 1933 gewaltsam. Sie gründeten die „Deutsche Arbeitsfront“ (DAF) als Einheitsverband, der nach Inkrafttreten des „Gesetzes zur Ordnung der nationalen Arbeit“ vom 20. Januar 1934 sämtliche Berufsverbände der Angestellten und der Arbeiter umfasste. Die DAF stieg nach der Abschaffung des Streikrechts zum mit Abstand größten nationalsozialistischen Massenverband. Erst zwölf Jahre später war die Wiederaufnahme eines geregelten Gewerkschaftsbetriebs nach dem Zweiten Weltkrieg möglich.