Antisemitismus im digitalen Zeitalter
Ein Gastbeitrag von Dr. Deborah Schnabel, Direktorin der Bildungsstätte Anne Frank
Im digitalen Zeitalter hat Antisemitismus eine neue Dimension erreicht – sowohl in der Quantität als auch in der Qualität. Durch die Dynamiken sozialer Netzwerke wird er verstärkt und global verbreitet. Digitale Plattformen wie TikTok, Instagram oder Telegram spielen dabei eine ambivalente Rolle – sie sind sowohl Multiplikatoren für Hass als auch Orte der politischen Meinungsbildung. Gerade bei jungen Menschen prägen diese Räume Ansichten und Haltungen – und das häufig, bevor sie überhaupt in analogen Kontexten sichtbar werden. So verbreiten sich antisemitische Einstellungen teils unbemerkt und bleiben viel zu oft unwidersprochen.
1. Postdigitale Realität: Keine Parallelwelt
Der digitale Raum wird häufig als „zweite Realität“ wahrgenommen. Doch diese Trennung greift zu kurz. Unsere Welt – und ganz besonders die der Gen Z – ist postdigital geworden: Online- und Offline-Leben sind miteinander verflochten. Meinungen werden heute vielfach im Netz geformt und erst dann ins Analoge getragen. Inhalte verbreiten sich schneller als je zuvor, verstärkt durch Plattformmechanismen wie TikToks „For You“-Page, die algorithmisch relevante Inhalte empfiehlt – oft unabhängig davon, ob sie auf Hass, Desinformation oder Verschwörungserzählungen beruhen.
Ein markantes Beispiel dafür ist der 7. Oktober 2023, als der Terrorangriff der Hamas auf Israel eine massive Welle antisemitischer Desinformation, Verschwörungsmythen und Hassbotschaften in sozialen Netzwerken auslöste. Diese Entwicklung zeigt, dass der Nahostkonflikt wiederholt als Brandbeschleuniger für Antisemitismus im digitalen Raum wirkt.
2. Herausforderung für die politische Bildung
Antisemitismus unterscheidet sich von anderen Formen der Menschenfeindlichkeit durch seine spezifische Struktur und Funktion. Während Rassismus, Sexismus oder antimuslimischer Rassismus darauf basieren, Gruppen als minderwertig zu klassifizieren und ihnen gesellschaftliche Teilhabe zu verwehren, konstruiert Antisemitismus jüdische Menschen als übermächtig und verantwortlich für gesellschaftliche Missstände. Dies äußert sich besonders in Verschwörungstheorien, die sie als steuernde Macht hinter globalen Krisen und Unrechtsstrukturen darstellen. In der Folge wirkt Antisemitismus nicht nur als Form der Diskriminierung, sondern auch als ein narratives Erklärungsmodell für gesellschaftliche Probleme. Typischerweise wird Antisemitismus oft nicht als solcher erkannt, da er chiffriert („Ostküste“, „Finanzelite“) oder als Umwegkommunikation hinter vermeintlicher „Israelkritik“ getarnt wird. Während andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit meist direkt auf soziale oder biologische Merkmale abzielen, arbeitet Antisemitismus mit einer paradoxen Zuschreibung von vermeintlicher Macht und Schuld.
Wo sich Antisemitismus online zeigt, ist er nicht nur ein Spiegel gesellschaftlicher Ressentiments, sondern schafft selbst neue Realitäten. Die Dynamiken sozialer Netzwerke begünstigen gerade emotionalisierende und polarisierende Inhalte. Zugespitzte, verkürzte und drastische Erzählungen sind häufiger zu finden als ausgewogene und multiperspektivische Haltungen. Die Frage, wie hoch die Gefahr ist, in der Echokammer tatsächlich radikalisiert zu werden, verdient eine deutlich intensivere akademische Behandlung. Denn noch gibt es zu wenig wissenschaftliche Befunde darüber, ob junge Menschen Antisemitismus in den Sozialen Medien erkennen bzw. wie sie mit Antisemitismus in den Sozialen Medien umgehen.
Aus der politischen Bildungspraxis ist allerdings bekannt, dass antisemitische und israelfeindliche Haltungen aus den Sozialen Medien im Alltag reproduziert werden. In einer quantitativen Befragung der Bildungsstätte Anne Frank unter 159 hessischen Lehrkräften aus dem September 2024 identifizierten die Befragten die Sozialen Medien als Haupt-Informationsquelle ihrer Klassen über die aktuelle Situation im Nahen Osten. Die wenigsten der befragten Lehrkräfte gaben an, im Unterricht regelmäßig darüber zu sprechen, welche Informationen die Lernenden in den Sozialen Medien über die Geschehnisse im Nahen Osten konsumieren. Gleichzeitig berichteten Lehrkräfte, ihre Lernenden würden regelmäßig problematische Inhalte aus dem Netz reproduzieren und Antisemitismus in den Sozialen Medien eher nicht erkennen. Laut den befragten Lehrkräften fehlt es vor allem an Angeboten zur Medienkompetenz, die gesellschaftspolitische Themen mitdenken.
Zudem müssen auch die Grundprinzipien pädagogischer Interventionen gegen Online-Antisemitismus überdacht werden. Aus Studien ist bekannt, dass das Konzept der Gegenrede auf Social Media nicht funktioniert, sogar eher noch dazu führt, dass sich antisemitische Inhalte verbreiten. Dringend müssen daher Bildungsprogramme entwickelt werden, die sich auf Forschung zu den Wirkweisen von Algorithmen und Validierungsfeatures, also den „Belohnungsmechanismen“, in den Sozialen Medien beziehen.
3. Analyse der Plattformmechanismen
Die Funktionsweise sozialer Netzwerke verstärkt die Verbreitung antisemitischer Inhalte auf struktureller Ebene. Diese Dynamiken sind tief in die Architekturen der Plattformen eingebettet und stellen sowohl für die Regulierung als auch für die politische Bildung enorme Herausforderungen dar.
3.1 Algorithmische Verstärkung
Alle algorithmisch strukturierten Sozialen Medien priorisieren ihrer Natur nach Inhalte, die hohe Interaktionen generieren – insbesondere solche, die Emotionen wie Empörung, Wut oder Sensationslust hervorrufen. Im Gegensatz zu Frühphasen der Entwicklung sozialer Netzwerke regiert heute der “content graph”, nicht der “social graph”: Videos werden Nutzenden nicht hauptsächlich deswegen ausgespielt, weil sie bei befreundeten Personen auf der Plattform gut ankommen. Vielmehr hat jedes Video eine grundsätzliche Chance, in einem personalisierten Content-Strom zu erscheinen – und so schnell eine hohe Viralität zu erreichen.
3.2 Echokammern und Filterblasen
Die personalisierten Empfehlungen von Plattformen wie TikTok basieren auf dem vorherigen Verhalten von Nutzenden. Wer sich antisemitische Inhalte ansieht oder mit ihnen interagiert, wird gezielt mit ähnlichen Videos konfrontiert. Diese Mechanik führte dazu, dass einem von der Bildungsstätte Anne Frank zu Testzwecken neu erstellter Test-Account, der sich zunächst nur allgemein für den Nahostkonflikt interessierte, innerhalb weniger Stunden ausschließlich Videos mit extrem einseitigen und antisemitischen Narrativen angezeigt wurde. Das Publikum wird durch solche „Radikalisierungstunnel“ in Echokammern geschleust, die andere Perspektiven systematisch ausblenden – und das Gefühl vermitteln, die eigenen Ansichten würden von einer großen Anzahl Menschen geteilt.
3.3 Hashtag-Ökonomie
Antisemitische Inhalte werden häufig durch Stichwörter organisiert und verbreitet, die teilweise irreführend oder codiert sind. Diese Hashtags ermöglichen es, eine breite Zielgruppe anzusprechen – und dabei die Moderation der Plattform zu umgehen. Hashtags wie #bankers, #newworldorder oder #globalelite werden genutzt, um klassische antisemitische Narrative über jüdische Kontrolle und Macht zu verbreiten. Der Hashtag #newworldorder führt etwa auf TikTok zu Videos, die Mitglieder der jüdischen Bankiersfamilie Rothschild als Drahtzieher globaler Ereignisse darstellen. Im Kommentarbereich solcher Videos wird die subtile Andeutung von den Rezipierenden dann ausbuchstabiert – und etwa mit der antisemitischen Kindsmordlegende in Verbindung gebracht (“babyeater Rothschild”).
3.4 Emotionalisierung und Polarisierung
Die Plattformmechanismen belohnen Inhalte, die stark emotionalisieren – unabhängig vom Wahrheitsgehalt. Antisemitische Beiträge nutzen diese Logik gezielt, um Aufmerksamkeit zu generieren. Gewaltvideos, die beispielsweise vermeintliche israelische Angriffe auf Krankenhäuser zeigen, werden oft mit dramatischer Musik und provokativen Untertiteln versehen. Diese Darstellungen verzerren die Realität und fördern Polarisierung, da sie sofort unhinterfragt nach Empathie und Zorn verlangen. Ein derartiges Video kann innerhalb von Stunden ein Publikum von Hunderttausenden und eine Welle antisemitischer Kommentare auslösen – auch, wenn es sich Stunden später als Fake herausstellen sollte.
3.5 Herausforderungen bei der Moderation
Die Moderation antisemitischer Inhalte ist trotz oberflächlich streng erscheinenden Community-Richtlinien auf den meisten Plattformen unzureichend. Gemeldete Inhalte bleiben oft stundenlang publik und können in dieser Zeit ihre Wirkung entfalten, selbst, wenn sie später gelöscht werden. Die Meldungen selbst werden im ersten Schritt zumeist von KIs bearbeitet, deren Entscheidungen oft nicht nachvollziehbar sind. Eine der größten Herausforderungen gerade für KI besteht darin, codierte Sprache und visuelle Andeutungen zu erkennen: So werden Begriffe wie „Globalisten“ oder „Finanzelite“ häufig verwendet, um antisemitische Inhalte subtil zu verpacken.
3.6 Monetarisierung
Die ökonomischen Interessen von Plattformen wie auch den dort aktiv Influencenden stehen häufig im Widerspruch zu ethischen Standards. Inhalte, die polarisieren und hohe Interaktionsraten erzeugen, sind besonders lukrativ, da sie Werbeeinnahmen generieren – für die Plattform selbst, aber auch für Großaccounts, die auf Sponsoring-Verträge oder Content-Dividenden spekulieren.Diese Art Empörungsökonomie lädt geradezu dazu ein, mit antisemitischen Klischees zu spielen und die Grenzen der Content-Moderation auszureizen.
3.7 Der persönliche Bezug
Influencende bzw. Content-Creators haben in den Sozialen Medien eine Schlüsselfunktion. Sie präsentieren nicht nur Inhalte, werben für Produkte, geben Tipps oder erzählen aus ihrem Leben. Sie fungieren für Millionen Nutzende auch als Identifikationsfiguren und Vorbilder. Als solche genießen sie häufig eine besondere Glaubwürdigkeit: Wer hohe Klick- und Followzahlen vorweisen kann, ist in den Augen vieler eine verlässliche Instanz. Diese Vertrauenswürdigkeit strahlt dann schnell auch auf andere Bereiche als die Kernthemen der Profile aus.
So kommt es, dass eine Lifestyle-Influencerin sich durchaus politisch äußern kann, ohne dass dies kritisch hinterfragt wird. Nach dem 07. Oktober 2023 standen sie in den Sozialen Medien zudem unter einem besonderen Positionierungsdruck. Viele von ihnen, auch jene ohne Vorwissen zum Nahostkonflikt, äußerten sich schnell und einseitig.
Dabei wurde und wird zu selten offengelegt, dass Influencende eben nicht aus persönlicher Expertise heraus sprechen. Ihre Rolle als bei der Multiplikation und Meinungsbildung muss daher deutlich mehr Berücksichtigung in der politischen Bildung finden.
4. Formen des Antisemitismus online
4.1. Klassische antisemitische Stereotype
Klassische Stereotype, die jüdische Menschen als gierig, manipulierend oder mächtig darstellen, finden sich auch im digitalen Raum. Es ist nicht ungewöhnlich, auf Stürmer-Karikaturen, Zitate aus den gefälschten “Protokollen der Weisen von Zion”, Reden von NSDAP-Größen etc. auf Plattformen wie Instagram oder Facebook in Form von Memes oder Videos zu stoßen. Dabei schreckt das Alter der Quellen keineswegs ab, sondern erzeugt sogar eine scheinbare Authentizität, die mit aktuellen Ereignissen verknüpft und so als Teil einer historischen Kontinuität verkauft wird.
Beispiele dafür sind Posts, die jüdische Menschen die Verantwortung für historische und aktuelle wirtschaftliche Krisen zuschreiben. Während der COVID-19-Pandemie kursierten Memes, die jüdische Menschen mit Impfstoffen und angeblich wirtschaftlichen Profiten daraus in Verbindung brachten. Diese Inhalte griffen klassische Narrative der „jüdischen Kontrolle“ auf und wurden mit Hashtags wie #newworldorder oder #plandemic verschlagwortet, um ihre Reichweite zu steigern.
4.2. Sekundärer Antisemitismus
Sekundärer Antisemitismus, der sich durch Schuldabwehr und Täter-Opfer-Umkehr äußert, ist online weit verbreitet. In Kommentaren und Posts werden häufig Aussagen nach der Bauart „Die Deutschen müssen endlich mit ihrem Schuldkult aufhören“ oder „Die Juden nutzen den Holocaust, um uns unter Druck zu setzen“ geteilt.
Prägnante Beispiele sind Videos auf YouTube, in denen die Shoa als „Propaganda der Siegermächte“ dargestellt wird. Solche Inhalte suggerieren, dass die Erinnerung an den Holocaust instrumentalisiert werde, um politische oder wirtschaftliche Vorteile zu erzielen. Sie bedienen sich pseudo-historischer Argumente und relativieren gleichzeitig die Verbrechen des Nationalsozialismus.
4.3 Antizionismus und israelbezogener Antisemitismus
Israelbezogener Antisemitismus tarnt sich oft als legitime Kritik an der israelischen Politik, überschreitet jedoch die Grenze, wenn das Existenzrecht Israels infrage gestellt, der Staat dämonisiert oder mit dem Nationalsozialismus gleichgesetzt wird. Diese Form des Antisemitismus zeigt sich besonders während eskalierender Konflikte im Nahen Osten.
Hierfür stehen virale Videos auf Instagram, die die israelische Armee mit dem NS-Regime gleichsetzen. In Bildmontagen werden etwa Bilder von Panzern und Streitkräften der IDF (Israelische Verteidigungsstreitkräfte) mit Archivaufnahmen der Wehrmacht verknüpft, begleitet von Texten wie „Die neuen Nazis tragen Blau und Weiß“. Solche Darstellungen dämonisieren Israel, indem sie dessen Handlungen pauschal mit den Verbrechen der Shoa gleichsetzen. Die Kommentare unter solchen Beiträgen zeigen die Wirkung: In den Kommentaren ist von einem „zionistischen Genozid“ zu lesen und Forderungen nach „Widerstand gegen den israelischen Terrorstaat“ werden zum Ausdruck gebracht. Solche Inhalte brechen mit internationalen Definitionen legitimer Kritik, wie sie etwa in der IHRA-Arbeitsdefinition festgelegt sind, und fördern antisemitische Narrative, die weit über eine sachliche Kritik hinausgehen.
Derartige Inhalte finden sich häufig auch auf Plattformen wie Twitter, wo Hashtags wie #ZionistNazis, #Zionazis etc. verwendet werden, um gezielt antisemitische Botschaften zu verstärken. Sie kombinieren historische Falschdarstellungen mit emotionalisierenden Begriffen, die sowohl antisemitische Ressentiments ansprechen als auch neue schaffen.
4.4 Verschwörungserzählungen
Sie sind der vielleicht häufigste antisemitische Online-Inhalt: Fast jede Verschwörungserzählung hat eine antisemitische Komponente. Klassischerweise konstruieren Verschwörungserzählungen eine Gruppe von Drahtziehern globaler Ereignisse, versehen sie mit antisemitischen Attributen (Beziehung zum Geld, staaten- und heimatlos, perfide, getarnt) – und verstärken dabei bestehende Ressentiments. Dabei genügen Andeutungen – sogenannte Dogwhistles (Hundepfeifen) werden von ihrem Publikum verstanden, ohne dass sie eigens ausgesprochen werden müssen.
Ein Beispiel ist die Behauptung, jüdische Menschen kontrollierten die Weltwirtschaft und Medien. Diese Narrative wurden während der Diskussionen um die Inflation in Europa oder die steigenden Energiekosten verstärkt. Auf Plattformen wie Telegram kursierten beispielsweise Beiträge, die den „Rothschilds“ und anderen als jüdisch markierten „Eliten“ die Schuld an globalen Preissteigerungen zuschrieben.
4.5 Holocaust-Leugnung und -Verharmlosung
Holocaust-Leugnung und -Verharmlosung nehmen in Sozialen Medien verschiedene Formen an, von expliziten Leugnungen bis hin zu Vergleichen mit trivialen Ereignissen. Auf X und Telegram finden sich regelmäßig Posts, die die Shoa als „übertrieben“ darstellen oder als „Lüge der Siegermächte“ bezeichnen.
Ein Beispiel ist der Hashtag #Holohoax, der genutzt wird, um Holocaust-Leugnung zu verbreiten. Diese Posts sind oft mit vermeintlich wissenschaftlichen Quellen oder manipulierten Bildern versehen, um Glaubwürdigkeit zu erzeugen. Im Querdenken-Milieu wurde der Holocaust häufig mit der COVID-19-Pandemie gleichgesetzt, etwa durch das Tragen von „Impfsternen“, die an den gelben Stern erinnern sollten, oder durch Vergleiche der eigenen Situation mit der von Anne Frank.
4.6 Antisemitismus durch Humor und Ironie
Eine subtile, aber gefährliche Form des Antisemitismus ist die Verbreitung durch vermeintlich humorvolle Inhalte. Memes und Satire-Clips auf Plattformen wie Instagram oder TikTok nutzen komische Mittel, um antisemitische Botschaften zu transportieren. Diese Inhalte wirken harmlos, verstärken jedoch Stereotype.
Immer wieder wird beispielsweise mit dem gierigen Kraftwerksbesitzer Montgomery Burns eine Figur aus der Serie „The Simpsons“ verwendet und dessen vermeintliche Ähnlichkeit zu einem Mitglied der Bankiersfamilie Rothschild herausgestellt, um das Bild eines „jüdischen Bankiers“ zu karikieren. Derartige Inhalte verbreiten sich rasend schnell, da sie als „Witz“ wahrgenommen und oft unkritisch geteilt werden.
5. Betroffenenperspektive: Psychische und gesellschaftliche Folgen
Online-Antisemitismus in Sozialen Medien hat tiefgreifende Auswirkungen auf die Betroffenen. Diese reichen von psychischen Belastungen bis hin zu gesellschaftlicher Ausgrenzung. Besonders jüdische Nutzende erleben digitale Räume oft als feindselige Umgebungen, in denen Hassrede und Bedrohungen allgegenwärtig sind. Die psychologischen und sozialen Folgen sind gravierend und verstärken das Gefühl der Unsicherheit sowie die Marginalisierung in der analogen Welt.
Jüdische Menschen, die in sozialen Netzwerken ihre Identität offenlegen, müssen mit alltäglichen antisemitischen Angriffen rechnen. Diese Angriffe umfassen Beleidigungen, Bedrohungen und die Verbreitung hasserfüllter Verschwörungserzählungen. Dabei müssen die Äußerungen nicht zwangsläufig offen gewaltförmig sein. Ein typisches Phänomen ist etwa Positionierungsdruck: Jüdische Influencende werden dabei regelmäßig aufgefordert, sich „für Israel zu rechtfertigen“ – selbst wenn ihre Beiträge nichts mit dem Nahostkonflikt zu tun haben. Diese ständige Politisierung ihrer Identität führt dazu, dass sie Diskussionsräume meiden, was ihre Meinungsfreiheit und gesellschaftliche Teilhabe einschränkt.
Der Bildungsstätte Anne Frank ist der Fall einer jüdischen Instagram-Bloggerin bekannt, die regelmäßig Nachrichten erhält, in denen sie als „Parasitin“ oder „Feindin der Menschheit“ beschimpft wird. Nach einem Beitrag über Chanukka (das jüdische Lichterfest) wurde sie mit hunderten Kommentaren überschwemmt, die den Holocaust relativierten und ihr voraussagten, „das Schicksal ihrer Vorfahren zu teilen“. Diese kontinuierlichen Angriffe zwangen sie, ihre Inhalte einzuschränken und ihre Kommentarfunktion zu deaktivieren – ein Schritt, der ihre Sichtbarkeit und Interaktionsrate wiederum einschränkte.
Die ständige Konfrontation mit Antisemitismus in Sozialen Medien hat zwangsläufig Auswirkungen auf die gesellschaftliche Teilhabe jüdischer Menschen. Viele ziehen sich aus öffentlichen Diskursen zurück, um sich vor weiteren Angriffen zu schützen. Dies verstärkt die mangelnde Sichtbarkeit jüdischer Perspektiven im digitalen und analogen Raum.Die unzureichende Repräsentation erzeugt wiederum eine stärkere Normalisierung antisemitischer Inhalte – ein Teufelskreis.
6. Handlungsoptionen: Strategien gegen Antisemitismus online
Die wachsende Verbreitung antisemitischer Inhalte verlangt nach Maßnahmen, die sowohl die Plattformen selbst als auch Bildungseinrichtungen, Zivilgesellschaft und politisch Gestaltende adressieren. Diese Optionen müssen technische, gesellschaftliche, pädagogische und nicht zuletzt auch regulatorische Ansätze vereinen, um Antisemitismus wirksam zu bekämpfen.
Zuvörderst gilt es, bei den Plattformen selbst anzusetzen. Diese müssen in die Pflicht genommen werden, Hassrede effektiv zu erkennen und zu unterbinden. Automatisierte Filtersysteme sind oft unzureichend, um codierte Sprache oder visuelle Anspielungen zu erkennen. Deshalb sind menschliche Redaktionen, die spezifisch für Antisemitismus geschult sind, unverzichtbar.
Viele Plattformen wie etwa TikTok legen bereits jetzt Rechenschaftsberichte darüber ab, wie viele hetzerische Inhalte gemeldet und entfernt wurden. Dabei ist Antisemitismus selten als eigene Kategorie ausgewiesen. Dieser müsste ausdrücklich benannt und spezifisch adressiert werden. Maßnahmen wie diese sollten zudem von unabhängigen Gremien überprüft werden, um die Einhaltung zu gewährleisten. Wo die Plattformen ihrer verlegerischen Sorgfaltspflicht nicht nachkommen, müssen sie im Zweifel durch Strafzahlungen in die Verantwortung genommen werden.
Bildung ist ein zentraler Schlüssel im Kampf gegen Antisemitismus online. Die gleichzeitige Vermittlung von Medienkompetenz und politischer Bildung ist essenziell, um Jugendliche und Erwachsene in der postdigitalen Welt zu befähigen, Hassrede zu erkennen und zu hinterfragen. Jugendliche sollten lernen, algorithmische Mechanismen und Echokammern zu verstehen. In Workshops und Schulprojekten können sie durch Beispiele aus TikTok oder Instagram erfahren, wie Soziale Medien ihre Wahrnehmung beeinflussen.
Eine antisemitismuskritische Bildungsinitiative muss aber auch die Content-Creators in die Verantwortung nehmen. Influencende sind erfahrungsgemäß oft sehr ansprechbar und nehmen entsprechende Fortbildungsangebote gern wahr. Danach können sie Inhalten höhere Reichweiten geben – und mit authentischen, aus echten persönlichen Lernerfolgen stammenden Botschaften große Reichweiten erzielen. Idealerweise werden dabei auch jüdische Perspektiven gestärkt, die Empathie und Solidarität fördern.