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Medienzentrum Hanau / Bildarchiv

Not und Verzweiflung in den ersten Nachkriegsjahren

Am 1. September 1939 überfällt die deutsche Wehrmacht auf Befehl von Adolf Hitler Polen. Damit beginnt der Zweite Weltkrieg, in dem allein in Europa bis zum 8. Mai 1945 etwa 43 Millionen Menschen umkommen. Sie sterben als Soldaten, Zivilisten und Gefangene in den nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern. Die Hitlerarmeen überziehen fast alle europäischen Länder mit Krieg. Besonders betroffen sind die osteuropäischen Staaten. Obwohl die beiden Diktatoren Hitler und Stalin einen Nichtangriffspakt geschlossen haben, marschieren deutsche Truppen am 22. Juni 1941 in die Sowjetunion ein. Mit rund 25 Millionen Toten bringt die Sowjetunion die größten Opfer in diesem Krieg. Aber auch die anderen von deutschen Truppen besiegten und besetzten Staaten im Osten Europas haben große Verluste zu beklagen. Ihre genauen Zahlen lassen sich nur schätzen:

Land

Militärische VerlusteZivile Verluste
Sowjetunion8,7 Millionen16 Millionen
Polen125.0006 Millionen,
davon 3 Millionen polnische Juden
Jugoslawien300.0001,7 Millionen

 

Von den in Ungarn getöteten 840.000 Menschen waren 540.000 ungarische Juden, die in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern ermordet wurden. Rumänien zählte 460.000 Opfer und die Tschechoslowakei 400.000 Getötete. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs werden die meisten Deutschen, die in den ehemaligen deutschen Ostgebieten, in der Tschechoslowakei, Ungarn und Rumänien gelebt haben, ausgewiesen. 14 Millionen Männer, Frauen und Kinder fliehen in das von den Alliierten besetzte Deutschland.

„Ich werde ihre Städte ausradieren“


In seiner Kriegsführung kannte Hitler als Oberbefehlshaber der Wehrmacht keine
Grenzen. Seit Juli 1940 ließ er in Großbritannien Städte aus der Luft angreifen.
London wird erstmal am 24. August 1940 bombardiert. Verheerend ist der Angriff auf
die Industriestadt Coventry am 14. November 1940, bei der auch die mittelalterliche
Kathedrale zerstört wird. Als die britische Air Force mit Luftangriffen auf deutsche
Ziele reagiert, verkündet Hitler im Berliner Sportpalast: „Ich werde ihre Städte
ausradieren.“ Es ist aber anders gekommen.

Als Hanauer Schülerinnen und Schüler 2025 in einer Ausstellung Fotos von ihrer im
Zweiten Weltkrieg zerstörten Stadt sehen, können sie es nicht glauben. So soll Hanau
vor 80 Jahren ausgesehen haben? Eine einzige Trümmerwüste. In der Altstadt stehen
1945 von 450 Häusern noch sieben. Ähnlich sieht es in Frankfurt, Kassel, Darmstadt,
Offenbach oder Gießen aus. Nur Wiesbaden ist weitgehend verschont geblieben.

Es fehlt an allem


Die amerikanische Militärregierung und die von ihnen eingesetzten deutschen Beamten bemühen sich zwar aus Leibeskräften, aber immer wieder stoßen sie an Grenzen, besonders bei der Versorgung mit Lebensmitteln. Denn das Wetter zeigt sich von seiner schlechtesten Seite. Missernten sind die Folge, auch weil Düngemittel und Saatkartoffeln fehlen. Die Winter sind besonders hart mit so hohen Minustemperaturen, dass die Flüsse wochenlang zugefroren bleiben. Viele sterben durch Kälte und Hunger. Wer Mut hat, versucht nachts Kohlen aus Lastwagen und Güterzügen zu stehlen. Die Strafen dafür sind hoch.

Wieder daheim, kam mir beim Anblick der fieberglänzenden Kinderaugen ein Gedanke. Ich nahm den Rucksack, ging zum Güterbahnhof und stahl Kohle. Auf dem Heimweg wurde ich von einem Polizeibeamten angehalten und musste mit zur Wache.

Ein einquartierter Familienvater mit einem kranken Kind berichtet am 5. August 1947 in den „Hessischen Nachrichten“, wie er aus Verzweiflung Kohlen klaut und dabei zweimal erwischt wird.

„Noch vor Weihnachten bekamen wir ein Zimmer, mussten aber nun mit den Intrigen der Vermieterin fertig zu werden versuchen. Drei bis fünf Tage in der Woche hatten wir oft nur Salat von roten Rüben – Frühstück, Mittagessen und Abendbrot. Das Kind bekam etwas Griessuppe; heute ist es zweieinhalb Jahre alt und wiegt nur 9 Kilo. Es wurde eisig kalt und die uns pro Monat zugewiesenen 50 kg Kohlen brannten nur dann, wenn man ständig in den Ofen blies. In vier Tagen waren wir fertig damit. Kurz vor Weihnachten wurde das Kind krank, der Arzt verordnete Wärme. Er gab uns auch einen Schein für das Wirtschaftsamt, damit wir zusätzlich Kohlen bekämen. Beim Wirtschaftsamt lachte man jedoch nur, und als ich sagte, das Kind überstehe die Krankheit in der kalten Stube nicht, erhielt ich zur Antwort: „Die Kinder sterben nun sowieso alle.“ Wieder daheim, kam mir beim Anblick der fieberglänzenden Kinderaugen ein Gedanke. Ich nahm den Rucksack, ging zum Güterbahnhof und stahl Kohle. Auf dem Heimweg wurde ich von einem Polizeibeamten angehalten und musste mit zur Wache. Meine Begründung nützte nichts: Ich musste Strafe zahlen und unverrichteter Dinge wieder abziehen. Doch begab ich mich nicht heim. Ich wollte mein Kind retten und kehrte schnurstracks zum Bahnhof zurück. Wieder hatte ich Pech und wurde ertappt. Man sagte mir, wenn ich ein drittes Mal erwischt würde, müsste ich für acht Tage ins Gefängnis. Was sollte ich tun? In weitem Umkreis kein Wald: Einen Obstbaum umzuhauen wäre Frevel gewesen. Da erblickte ich in einem Geschäft Schaufelstiele. Ich erstand fünf Stück, ging heim und wir hatten für wenige Stunden etwas Wärme. Noch 15 solcher Stiefel kaufte ich, dann gabs nichts mehr. Mein Kind bekam einen Rückfall, die Krankheit legte sich auf die Lunge und bis heute ist es noch schwer krank, wird vielleicht nie wieder gesund werden.“

Zum Sterben zu viel – zum Leben zu wenig
 

Als wahrer Segen erweisen sich Spenden aus den USA. Dort haben sich 22 Hilfsorganisationen zusammengefunden, um in Deutschland mit Millionen von CARE-Paketen die schlimmste Not zu lindern. Verschickt werden Lebensmittel, aber auch Wolle, Stoffe und warme Kleidung. Wo es möglich ist, führen die Amerikaner Schulspeisungen ein. Das ist für die Kinder oft die einzige warme Mahlzeit am Tag. 1947 berichten Ärzte, dass vier von fünf Deutschen unterernährt sind. Besonders betroffen sind Kinder. Das Schweizer Rote Kreuz holt Hunderte von ihnen mit Lazarettzügen ab, um sie wieder aufzupäppeln.

Die Lebensmittel, die über spezielle Karten zugeteilt werden, sind äußerst knapp bemessen.
Anfang 1947 wird veranschlagt, aber oft nicht erreicht:

 Zuteilung monatlichZuteilung täglichTägliche Kilokalorien
Fett200g7,1g51
Zucker500g18,0g72
Käse125g4,5g11
Magermilch1500g53,6g18
Kartoffeln12kg428,6g279
Gesamt  1548

 

Aufruf des Fuldaer Landrats Stieler


1548 kcal sind nicht nur in kalten Wintern mit ungeheizten Räumen entschieden zu wenig. Wer arbeitet, braucht entschieden mehr. Nur mehr gibt es nicht. Die Besatzungsbehörden gehen deshalb mit Razzien gegen den blühenden Schwarzmarkt vor. Sie suchen bei Landwirten nach versteckten Kartoffeln, die nicht, wie vorgeschrieben, abgeliefert wurden, und nach heimlich geschlachteten Schweinen. In den Großstädten wie Frankfurt führt die Polizei Razzien gegen Schwarzhändler durch, die auf Lastwägen in das Polizeipräsidium gebracht werden.

Im Juni 1946 richtet der Fuldaer Landrat einen dramatischen Aufruf an die „Bauern und Bäuerinnen“ in seinem Kreis, den die „Fuldaer Volkszeitung“ am 1. Juni 1946
druckt:

„In den nächsten Tagen werdet ihr nochmals angegangen werden, das letzte verfügbare Brotgetreide und die letzten verfügbaren Kartoffeln abzugeben, damit wir den Anschluss an die neue Ernte finden. Die Gefahr, dass wir in den letzten Wochen vor der neuen Ernte kein Brot und keine Kartoffeln haben, ist riesengroß: Als neuer Landrat bitte ich Euch: „Lasst unsere Mitmenschen nicht verhungern!“

Fuldaer Landrat an die „Bauern und Bäuerinnen“ in der „Fuldaer Volkszeitung“ am 1. Juni 1946

Die jetzigen Rationen reichen schon zu einer vollen Arbeitsleistung nicht mehr hin. Den Kindern in den Städten schaut der Hunger aus den Augen. Jedes Pfund Kartoffeln oder Brotgetreide hilft einen Menschen sättigen. Gebt nicht dem Vieh, was Menschen dringend benötigen. Tuet gegenwärtig mehr, als es Eure Pflicht ist. Wie wohl noch nie in der deutschen Geschichte hat das Übel „Hunger“ so das Volk überfallen wie gegenwärtig. Wie kaum zuvor hat die fünfte Bitte des Vaterunsers „Unser täglich Brot gib uns heute“ so inhaltsvoll vor unserer Seele gestanden, wie in diesen Tagen. Ich weiß, so gut wie er selbst, wie Ihr gegenwärtig durch alle möglichen Schwierigkeiten in Haus, Hof und Feld geplagt seid. Ich weiß, wie schwer Ihr dem Boden den Ertrag abringen müsst, und ich weiß auch, dass unter denen, die Ihr sättigen müsst, manche Unwürdige sind, und trotzdem müsst ihr helfen.

Ich weiß, dass ich in dieser schweren Lage von Euch nicht im Stiche gelassen werde. Wer an dieser Not achtlos, hartherzig und unbarmherzig vorbeigeht, soll nicht mehr zu unserer Gemeinschaft gehören.

Bericht aus dem DP-Lager Frankfurt-Zeilsheim

Bei den Juden, die den Konzentrations- und Vernichtungslagern entkommen sind, sieht das anders aus. Sie sind oft die einzigen Überlebenden. Die Amerikaner nennen sie „Displaced Persons“ und richten für sie spezielle Lager ein. Manche der DPs verlassen Deutschland für immer, andere entscheiden sich zu bleiben. Die „Frankfurter Rundschau“ bringt am 2. September 1947 einen Bericht aus dem DP-Lager in Frankfurt-Zeilsheim:

„3500 Personen, überwiegend polnischer Herkunft, sind im Lager Zeilsheim, einem der ältesten Lager der US-Zone, registriert, für die ungefähr 1000 Zimmer zur Verfügung stehen.
Seit dem 21. April sind neue Registrierungen gesperrt, so dass Ehefrauen und Neugeborene ohne amtliche Aufenthaltsgenehmigung dort weilen müssen. Es gibt jetzt einige hundert Nichtregistrierte im Lager. Sie bekommen keine Lebensmittelzuteilung.
Niemand will sich am Wiederaufbau Deutschlands, das so viel Unglück über sie gebracht hat, beteiligen. 193 Personen werden augenblicklich in den vierzehn Kursen der Fachschule unterrichtet, die handwerkliche Ausbildung übernimmt. Das erstrebte Ziel ist die Qualifikation zu einem praktischen Beruf, den sie später in Palästina ausüben wollen. (…)
Der Vizepräsident des Lagers Ostrowski, ein früherer Gymnasiallehrer, gehörte aktiv der polnischen Untergrundbewegung an. „Meine Großmutter hatte 63 Enkel: jetzt sind wir nur noch drei!“ Von 1.200 Schülern seiner früheren Schule sind noch 11 am Leben. Er erzählt uns von den Schwierigkeiten, mit denen jeder im Lager zu kämpfen hat.
„Wir glaubten, wir seien jetzt frei, wir paar Juden, die den Krieg überlebt haben … An physische Leiden haben wir uns gewöhnt, wir leiden jetzt moralisch. Wir werden psychisch gelähmt.(…) Alle sind wir nach Deutschland in der Hoffnung gekommen, innerhalb weniger Wochen nach Palästina auswandern zu können. Nun sind wir schon mehr als zwei Jahre hier. Die wenigen Mittel, die wir durch den Verkauf unseres Eigentums aus Polen hatten mitbringen können, sind aufgebraucht, und finanzielle Unterstützung bekommen wir keine.“
Aus allen Gesprächen, die wir führten, sprach die unerschütterliche Hoffnung, das Ziel, die Einwanderung in Palästina, in naher Zukunft zu erreichen.

Aus Vertriebenen und Flüchtlingen werden „Neubürger“

Aber die größte Herausforderung für alle sind die Vertriebenen, die aus den abgetrennten deutschen Ostgebieten, aus der Tschechoslowakei, Ungarn und Rumänien in die Westzonen geflohen sind. Bis Mitte 1949 kommen über 650.000. Sie machen damit gut 15 Prozent der hessischen Bevölkerung aus. Hinzu kommt noch eine Viertelmillion Übersiedler aus anderen deutschen Ländern und aus der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ). Familien, die über genügend Platz verfügen, müssen zusammenrücken und Flüchtlinge aufnehmen. Das sorgt für böses Blut. Kaum jemand will sich freiwillig einschränken oder etwas abgeben. Aber: Trotz aller kulturellen Unterschiede und sonstigen Widerstände gelingt die Integration der Vertriebenen erstaunlich gut.

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