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30. September 1874: 150. Geburtstag der Sozialarbeiterin und Politikerin Mathilde Wurm (SPD)

Mathilde Wurm (geborene Adler) war neben Rosa Luxemburg, Lore Agnes und Clara Zetkin eines der Gesichter der Frauenbewegung in Deutschland um die Jahrhundertwende. Als Sozialarbeiterin engagierte sie sich im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert für Mädchen und junge Frauen, die ihre Schulausbildung nicht zu Ende führen konnten, als Publizistin schrieb sie unter anderem für die sozialdemokratische Frauenzeitung „Die Gleichheit“. Als Gegnerin des Ersten Weltkriegs schloss sich Wurm 1916 der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD) an, die sich von der Mehrheitssozialdemokratie (MSDP) abgespalten hatte, kehrte jedoch 1922 wieder zur SPD zurück, die sie bis 1933 als eine der wenigen weiblichen Abgeordneten im Reichstag vertrat. Als Tochter jüdischer Eltern emigrierte Wurm wenige Monate nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten gemeinsam mit der sozialistischen Journalistin Dora Fabian (geborene Heinemann) nach England. Dort verstarben die beiden Frauen 1935 unter bis heute ungeklärten Umständen: Scotland Yard vermutete eine Selbsttötung durch Tabletten, diese These halten zeitgenössische Biografinnen und Biografen jedoch für wenig wahrscheinlich. Einen politischen Mord der Gestapo an den beiden Frauen, die eine bedeutende Rolle in der frühen deutschen Exilszene spielten und unter anderem über die nationalsozialistische Aufrüstung aufklärten, schließen Expertinnen und Experten hingegen nicht kategorisch aus.

Herkunft und Tätigkeit als Sozialarbeiterin

Mathilde Sara Adler kam am 30. September 1874 als Tochter jüdischer Eltern in Frankfurt am Main zur Welt. Nachdem sie in Frankfurt eine höhere Töchterschule durchlaufen hatte, zog es die junge Frau ins politische Berlin, wo sie im ausgehenden 19. Jahrhundert als Sozialarbeiterin zu wirken begann. Adler leitete ab 1903 die Frauenabteilung des „Zentralverbands für Arbeitsnachweise“ – einer Stelle zur Vermittlung von Arbeitsverträgen – und engagierte sich dort besonders für junge Frauen ohne abgeschlossene Schullaufbahn, indem sie eine Lehrstellenvermittlung und Beratung für schulentlassene Mädchen gründete. Da das preußisch geprägte Deutsche Kaiserreich trotz der Bismarck’schen Sozialgesetzgebung nicht über ein umfassendes staatliches Sozialsicherungsnetz verfügte, leisteten die Angestellten der Vermittlungsstelle besonders in den wachsenden Großstädten für viele Menschen eine überlebenswichtige Arbeit. In dieser Zeit näherte Adler sich auch politisch der Arbeiterbewegung an und trat der SPD bei, die zur Jahrhundertwende der Bekämpfung als „innere Reichsfeinde“ zum Trotz eine der stärksten parteipolitischen Stimmen in Deutschland darstellte. Adler vernetzte sich in sozialdemokratischen und sozialistischen Kreisen und im Milieu der frühen Frauenbewegung unter anderem mit Rosa Luxemburg, Clara Zetkin, Lore Agnes, Luise Kautsky und Dora Fabian. Auf diese Weise lernte sie auch ihren Partner kennen, den sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten und Journalisten Emanuel Wurm, den sie 1904 heiratete.

Politische und publizistische Karriere in der Weimarer Republik

Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs stellte für die Mehrzahl der Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in Deutschland eine tiefe Zäsur dar: An der Frage der Bewilligung von Kriegskrediten im Reichstag spaltete die SPD sich 1916/17 schließlich in die Mehrheitssozialdemokratie (MSPD), die den Kriegskurs von Kaiser Wilhelm II. nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Diffamierungen als „vaterlandslose Gesellen“ unter Bismarck im Sinne einer „Burgfriedenspolitik“ mittrug, und die Unabhängige Sozialdemokratie (USPD), die den Krieg grundsätzlich ablehnte. Wurm gehörte gemeinsam mit Hugo Haase, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg bis zu deren Auflösung 1922 der USPD an. Im November 1919 nahm Wurm an der jährlich ausgetragenen Leipziger Frauenkonferenz teil, die die Frauenrechtlerin Louise Otto-Peters 1865 begründet hatte, und hielt dort eine einflussreiche Rede mit dem Titel „Die Frauenerwerbsarbeit“. Ab 1919 war Wurm darüber hinaus Mitglied der Berliner Stadtverordnetenversammlung, 1920 errang sie erstmals ein Reichstagsmandat (bis 1922 für die USPD, danach für die SPD), das sie bis zur ihrer Emigration 1933 verteidigen konnte. Im deutschen Parlament engagierte sie sich in besonderem Maße für Frauenrechte und gegen antisemitische Hetze und Übergriffe.

In den 1920er-Jahren etablierte Wurm sich als eine der zentralen Figuren in der Publizistik der Sozialdemokratie und der Frauenbewegung. Neben der Zeitschrift „Die Kämpferin“ gab sie ab 1922 einige Monate die proletarische SPD-Frauenzeitschrift „Die Gleichheit“ heraus, für die zuvor lange Jahre Clara Zetkin verantwortlich gezeichnet hatte. Gezielt arbeiteten die Redakteurinnen und Redakteure unter Wurms Ägide die Biografien bedeutender Frauen und Frauenrechtlerinnen aus Vergangenheit und Gegenwart auf, um den Leserinnen weibliche Vorbilder näherzubringen. Zwischen 1928 und 1930 gab sie überdies gemeinsam mit Dora Fabian die „Sozialdemokratische Pressekonferenz“ heraus.

Emigration und ungeklärte Todesumstände

Nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 sahen sich sozialdemokratische und kommunistische Politikerinnen und Politiker unmittelbar, aber besonders nach dem Reichstagsbrand am 27. Februar und der einen Tag später erlassenen „Reichstagsbrandverordnung“, großen Bedrohungen ausgesetzt. Bei der Abstimmung im Reichstag über das sogenannte „Ermächtigungsgesetz“, mit dessen Hilfe die Nationalsozialisten nach nur wenigen Wochen Regierungszeit Legislative und Exekutive in ihren Händen vereinigten, stimmten lediglich die SPD-Angeordneten unter Führung von Otto Wels geschlossen gegen das verfassungswidrige Gesetz – so auch Mathilde Wurm. Zwar hatte sie bereits 1924 ihre Zugehörigkeit zur Jüdischen Gemeinde aufgegeben, dennoch war ihr bewusst, dass sie in den Augen der Nationalsozialisten sowohl in politischem als auch in rassistischem Sinne ein Feindbild darstellte. Noch 1933 emigrierte sie über die Schweiz nach London, wo sie gemeinsam mit Dora Fabian über die noch verdeckt betriebene kriegsvorbereitende Rüstung in Deutschland berichtete.

Die beiden Frauen wurden am 1. April 1935 tot in ihrer Londoner Wohnung aufgefunden. Bis heute sind die Umstände ihres Todes nicht abschließend geklärt. Die Ermittlungen der Londoner Kriminalpolizei führten zur Annahme eines doppelten Suizids, heutige Rekonstruktionen schließen dies jedoch aus. Die Möglichkeit eines Auftragsmords der Gestapo an den beiden Frauen wird in der Forschung hingegen weiterhin kontrovers diskutiert.

Zum Kalenderblatt über die sozialdemokratische Politikerin und Journalistin Tony Sender gelangen sie hier.

Bei der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung sind unter anderem folgende Publikationen zum Thema erhältlich: