23. Mai 1848: 175. Geburtstag Otto Lilienthals
„Ein Flugzeug zu erfinden, ist nichts. Es zu bauen, ein Anfang. Fliegen, das ist alles.“ Mit diesen Worten brachte Otto Lilienthal das auf den Punkt, was sein Leben bestimmte – die Faszination, zu fliegen. Lilienthals unvergleichliche Pionierleistungen für den Menschenflug sind international anerkannt und legten den theoretischen Grundstein für Flugzeuge, wie sie noch heute gebaut werden. Zu seiner Geschichte gehört aber auch der Missbrauch seiner wissenschaftlichen Leistungen für die Propaganda des Nationalsozialismus nach seinem Tod. Ein Blick auf das bewegte Leben Lilienthals lohnt nicht nur für Flugbegeisterte.
Kindheit, Jugend und Ausbildung
Karl Wilhelm Otto Lilienthal kam am 23. Mai 1848 als erstes von acht Kindern des Kaufmanns Gustav Lilienthal und dessen Frau Caroline in Anklam im damaligen Preußen zur Welt. Gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder Gustav besuchte Otto Lilienthal ab 1856 das örtliche Gymnasium, wobei die beiden bereits in dieser Zeit mit der Beobachtung von Vogelflug und ersten Flugexperimenten begannen. Ab 1864 besuchte Otto Lilienthal die Potsdamer Provinzialgewerbeschule. In den Jahren 1867 und 1868 entwickelten die Brüder ein Gerät, mit dem sie Experimente zur Erzeugung von Auftrieb und Flügelschlag durchführten, ebenfalls 1867 begann Otto Lilienthal ein durch ein Stipendium finanziertes Studium an der Gewerbeakademie Berlin. Nach einem einjährigen Kriegsdienst im Deutsch-Französischen Krieg 1870 versuchten die Brüder als Selbstständige mit Motoren und Maschinen Geld zu verdienen, scheiterten jedoch.
Lilienthals letzter Flug
Am 9. August 1896 stürzte Otto Lilienthal bei einem Flug bei Stölln in Brandenburg wegen thermischer Verwehungen aus etwa 15 Metern Höhe ab und erlag wenig später seinen Verletzungen. Bis heute hält sich der Mythos, seine letzten Worte auf dem Sterbebett seien gewesen: „Opfer müssen gebracht werden!“ Lilienthal wurde auf dem Berliner Friedhof Lankwitz in einem Ehrengrab der Stadt begraben.
Aufstieg zum „Pionier des Menschenflugs“
Beginnend 1874 führten die Brüder Lilienthal systematische Messungen zum Auftrieb an ebenen und gewölbten Flächen durch. Nach seiner Hochzeit mit Agnes Fischer im Jahr 1878 gründete Lilienthal 1883 eine eigene Firma zur Herstellung des eigens entwickelten und patentierten Lilienthal’schen Kleinmotors. Ab 1894 stellte er dort auch den Normalsegelapparat in Serie her, was die Firma zur ersten Flugzeugfabrik der Welt machte. Basierend auf seinen theoretischen Überlegungen und Experimenten, die die leicht gewölbte Form des Vogelflügels als die mit den günstigsten Widerstandswerten nachwies, veröffentlichte Otto Lilienthal seine Erkenntnisse 1889 im Buch „Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst“. Da die öffentliche Aufmerksamkeit zu dieser Zeit in erster Linie dem Flugprinzip „leichter als Luft“, das heißt Ballons, Luftschiffen und Zeppelinen, galt, riefen Lilienthals später als bahnbrechend erkannte Thesen zum Flugprinzip „schwerer als Luft“ zunächst nur ein geringes Echo hervor. Lilienthals Vorgehen „Vom Schritt zum Sprung, vom Sprung zum Flug“ zeigte mit den ersten menschlichen Gleitflügen im Jahr 1891 Erfolge. Da sein Bruder Gustav an der praktischen Umsetzung der gemeinsam erarbeiteten theoretischen Erkenntnisse nicht mehr beteiligt war, gilt heute einzig Otto Lilienthal als „Pionier des Menschenflugs“. In den 1890er-Jahren gelangen ihm Gleitflüge von bis zu 250 Metern Weite. Mindestens 21 Flugapparate baute Lilienthal, darunter verschiedene Doppeldecker mit bis zu sieben Metern Spannweite. Nach seinen Gleitflugerfolgen berichtete die in- und ausländische Presse ausführlich über die Sensation des ersten fliegenden Menschen.
Missbrauch von Lilienthals Lebensleistung im Nationalsozialismus
Die Nationalsozialisten stilisierten Otto Lilienthal post mortem zu einem „Märtyrer für die nationale Sache“. Im Rahmen ihres Totenkultes erhoben sie Lilienthal als „ersten Flieger der Menschheit“ zum Vorbild für männliche Jugendliche, die sie als Piloten oder fliegerisches Bodenpersonal für die ab 1935 offen aufgebaute Luftwaffe gewinnen wollten. Noch heute ist dies auf der Wasserkuppe in der hessischen Rhön authentisch erlebbar: Die 1939 im Gebäudekomplex der ehemaligen Reichssegelflugschule eröffnete „Lilienthal-Ehrenhalle“ ist auf dem „Berg der Flieger“ noch immer erhalten. Die Nationalsozialisten schufen mit der Ehrenhalle ein architektonisches Denkmal ihrer perfiden Jugendverführung durch Flugbegeisterung. Betritt man die Ehrenhalle, so erblickt man ein Kenotaph (ein leeres Grab eines Verstorbenen) des überlebensgroßen Otto Lilienthal. Zu seinen Füßen steht der Spruch „Opfer müssen gebracht werden!“ Die martialische Atmosphäre in der Halle wird unterstützt durch das Glasbild eines an den antiken Flieger Ikarus erinnernden, von einem Hakenkreuz beflügelten Mannes gegenüber den Eingangspforten als einzige Lichtquelle in der Halle. Die erhaltenen Gebäude der ehemaligen Reichssegelflugschule auf der Wasserkuppe bilden den einzigen authentisch erhaltenen NS-Täterort in ganz Hessen, lediglich ein Hakenkreuz im Glasbild der Ehrenhalle wurde seit 1945 entfernt.