18. Mai 1872: 150. Geburtstag von Bertrand Russell
Es herrscht wieder Krieg in Europa. Die jahrzehntelangen Expansionsbemühungen des russischen Präsidenten Wladimir Putin - von Tschetschenien, Georgien, Syrien bis zum jetzigen Krieg gegen die Ukraine - haben die Frage nach Perspektiven von globalen Friedensbewegungen in das Zentrum politischer Debatten gerückt. In der aktuellen Kriegslage zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine lohnt es sich besonders einen Blick auf den 150. Geburtstag eines der einflussreichsten und bekanntesten Friedensaktivisten des 20. Jahrhunderts zu richten: Bertrand Arthur William Russell, 3. Earl Russell. Bertrand Russel war neben seinen verschiedenen wissenschaftlichen Professionen, seinen schriftstellerischen Tätigkeiten und interdisziplinären Forschungen eine Leitfigur transnationaler pazifistischer Bewegungen und Wortführer eines Pazifismus, der den Einsatz von bewaffneten Mitteln nicht kategorisch ausschloss. Sein bewegtes Leben zeigt, dass sich eine theoretische Beschäftigung mit wissenschaftlichen Disziplinen und ein aktivistisches Leben zur Herstellung und Sicherung von Frieden keineswegs ausschließen.
Familie, Ausbildung und Privatleben
Bertrand Russel wurde am 18. Mai 1872 in der Nähe der walisischen Ortschaft Trellach geboren. Seine Familie entstammte der britischen Aristokratie. Sein Großvater John Russel war britischer Premierminister. Nach einer behüteten, aber in großen Teilen einsamen Kindheit und Jugend, erhielt Russel an der Universität Cambridge, an der bereits sein Vater studiert hatte, ein Stipendium für das Fach Mathematik. Zeitlebens war er der Mathematik eng verbunden. Gegen den Widerstand seiner Familie heiratete Russel seine erste Ehefrau Alys Pearsall Smith. Versuche der Familie, diese Beziehung durch politische Einflüsse, wie das Beschaffen einer Position in der britischen Botschaft in Paris, zu torpedieren, scheiterten. Die Ehe hielt dennoch nur bis 1902. Später heiratete Russel seine Geliebte Dora Black, diese Ehe scheiterte ebenfalls. 1936 heiratete Russel Patricia Helen Spence, auch diese Ehe wurde geschieden. Seine letzte Ehe mit Edith Finch hielt dann bis zum Lebensende.
Mathematisches Hauptwerk
An seinem wissenschaftlichen Hauptwerk, dem monumentalen Principia Mathematica, arbeitete Russel zwischen den Jahren 1902 und 1913. Auf dem Weg der Erstellung seines Hauptwerkes umgab sich Russel mit Freunden aus Cambridge, wie dem Philosophen George Edward Moore, dem später weltweit berühmt gewordenen Ökonomen John Maynard Keynes und dem Mitherausgeber der Principia Mathematica, Alfred North Whitehead.
Politisches und pazifistisches Engagement zwischen 1913 und 1952
Der Erste Weltkrieg stellte für Russel eine zentrale Zäsur dar, die einherging mit der Einstellung seiner mathematischen Forschungen ab 1914. Ab diesem Zeitpunkt setzte sich Russel als Aktivist und Autor gegen die Kriegsteilnahme des Vereinigten Königreichs ein. Er unterstützte Netzwerke und Gruppen, die sich aktiv für eine Kriegsdienstverweigerung einsetzten. Russel wurde bekannt für seine Aussage, dass es besser gewesen wäre, wenn sich Großbritannien neutral im Ersten Weltkrieg verhalten und eine Form der Appeasement-Politik eigenommen hätte. Er war sich in der Rückschau sicher, dass dadurch sowohl die nationalsozialistischen als auch die kommunistischen Diktaturen in Europa vermeidbar gewesen wären. Er wurde aufgrund seiner Haltungen und seiner Veröffentlichungen zu einer sechsmonatigen Gefängnisstrafe verurteilt. Da die Haftbedingungen milde waren und Russell die Erlaubnis erhielt, im Gefängnis zu lesen und zu schreiben, verfasste er während seiner Haftzeit mehrere Bücher. Mit seiner Familie zog Russel, nachdem er viele internationale Reisen durchgeführt und dabei unter anderem mit Wladimir Iljitsch Lenin gesprochen hatte, auch aufgrund des hohen politischen Drucks in seiner Heimat in die USA um. Er lehrte zunächst an den Universitäten von Chicago und Los Angeles. 1939 verließ Russell Los Angeles, um am City College of New York einen Ruf auf eine Professur anzunehmen. Jedoch wurde die Universität von fundamentalistischen Christen und konservativen Politikern dazu gezwungen, die Ernennung zurückzuziehen, da Russel angeblich durch seine Veröffentlichungen gegen religiöse und moralische Sittenvorstellungen der Zeit verstoßen habe. Ausschlaggebend für diese Kritik war sein Buch „Ehe und Moral“, für das er 1950 den Nobelpreis für Literatur erhielt.
Im Zweiten Weltkrieg veränderte Russel seine pazifistischen Einstellungen aufgrund des Vernichtungskrieges der Nationalsozialisten in Europa. Er war fest davon überzeugt, dass Adolf Hitler militärisch besiegt werden müsse, um in Europa Frieden zu schaffen. Russel sagte: „Ich stelle fest, dass ich in diesem Krieg meine pazifistische Einstellung nicht beibehalten kann.“ Russel sprach sich ebenfalls für einen Präventivkrieg der westlichen Verbündeten gegen die Sowjetunion aus und nahm damit nicht, wie im Verlauf des Ersten Weltkrieges, gewaltfreie pazifistische Positionen ein. Ziel dieser Intervention sollte es sein, einen am Horizont bereits aufscheinenden Atomkrieg frühzeitig verhindern zu können. 1944 zog Russel zurück nach Großbritannien, lehrte in Cambridge und arbeitete für die BBC.
Leitfigur des Pazifismus und „Russell-Tribunal“
Auch nach dem Zweiten Weltkrieg blieb Russel ein „Public intellectual“ – ein Intellektueller, der sich in die Debatten und Kontroversen der Zeit aktiv einmischte. Russel größte Angst war ein möglicher Dritter Weltkrieg, der aus seiner Sicht aufgrund der zunehmenden Atombewaffnungen der einstigen Alliierten USA und Sowjetunion eine große Gefahr für die Menschheit darstellte. So war er die treibende Kraft des Russell-Einstein-Manifests, das sich mit den Folgen eines Atomkrieges beschäftigte und für den Frieden warb. In verschiedenen Situationen fungierte er als Vermittler zwischen den Staatschefs und schrieb u.a. während der Kuba-Krise 1962 Bittbriefe an beide Präsidenten. Im Russell-Tribunal untersuchte er US-amerikanische Kriegsverbrechen in Vietnam. Am 2. Februar 1970 starb Bertrand Russell im hohen Alter von 97 Jahren in Penrhyndeudraeth (Wales) an einer Grippe.