Herausgeber: HLZ, Ref. I/1
Am Anfang war Rassismus: Über den Radikalisierungsweg des neonazistischen Mörders Stephan Ernst
Sascha Schmidt und Yvonne Weyrauch
In der Nacht vom 1. auf den 2. Juni 2019 ermordete Stephan Ernst den Kasseler Regierungspräsidenten Dr. Walter Lübcke auf der Terrasse seines Wohnhauses in Istha-Wolfhagen. Der Mord an Walter Lübcke ist nach aktuellem Stand der Forschung der erste rechtsmotivierte Mord an einem Politiker in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Der damalige Regierungspräsident war in den Fokus des Täters geraten, als er im Oktober 2015 auf einer Bürgerversammlung in Lohfelden im Landkreis Kassel die Asylpolitik der Bundesregierung rechtfertigte. Aktive des lokalen Ablegers der „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (PEGIDA) hatten sich dort in die erste Reihe gesetzt und Walter Lübcke mit verbalen Einwürfen solange provoziert, bis dieser sich an sie wandte und den später bundesweit bekannt gewordenen Satz formulierte:
„... es lohnt sich, in unserem Land zu leben. Da muss man für Werte eintreten, und wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen, wenn er nicht einverstanden ist, das ist die Freiheit eines jeden Deutschen.“
Die Generalbundesanwaltschaft ist davon überzeugt, dass Stephan Ernst seit dieser Bürgerversammlung seinen Rassismus zunehmend auf Walter Lübcke projizierte und in ihm einen „Volksschädling“ sah. Die Motive für den Mord lägen zweifelsfrei in Ernsts rassistischer und völkisch-nationalistischer Haltung, seiner Vorstellung von einer ethnisch und kulturell homogenen „Volksgemeinschaft“ und der damit verbundenen Angst vor „Überfremdung“. Diese rechte Ideologie scheint Ernst bereits spätestens im Teenager-Alter verinnerlicht zu haben. Wenn auch vermutlich eher in Form diffuser Fragmente, spornte diese rechte Weltanschauung ihn schon im Alter von 15 Jahren zu seiner ersten schweren rassistischen Gewalttat an. Der Mord an Walter Lübcke stellt schließlich den grausamen Höhepunkt einer über 30 Jahre währenden rechten Gewaltbiografie dar. [1]
Rassistische Prägungen im Elternhaus und rassistische Stimmungen in der Gesellschaft
Stephan Ernst wurde im September 1973 in Wiesbaden geboren. Nach einem Umzug nach Hohenstein-Holzhausen im Landkreis Rheingau-Taunus wuchs er mit seinem Bruder im dortigen Elternhaus auf. Nachdem er im Jahr 1989 den Hauptschulabschluss an der Gesamtschule Aarbergen-Michelbach absolviert hatte, begann er zunächst eine Lehre als Maurer, die er jedoch nach rund anderthalb Jahren abbrach. Als Begründung gab Ernst Verletzungen an, die Folge einer Schlägerei waren und die dazu geführt hätten, den Arbeitsbelastungen nicht mehr gerecht werden zu können.
Die Verwicklung in Schlägereien kam in Ernsts Biografie häufig vor. Gewalt prägte seine Jugend – und, seinen Angaben zufolge, auch sein Elternhaus. Im Rahmen einer Anklage und der Frage nach Ernsts Strafmündigkeit im Jahr 1993 erzählte Ernst einem psychiatrischen Gutachter von seinem alkoholkranken Vater, der ihn wiederholt brutal verprügelt habe. Aus Angst vor seinem Vater habe er zeitweise mit einem Messer unter dem Kopfkissen geschlafen. Gleichzeitig beschrieb er die Beziehung zu seinen Eltern zu jener Zeit, so der Journalist Martín Steinhagen, als „ausgesprochen gut“. Seine Eltern hätten, so Ernst gegenüber dem Psychiater, seinen Rassismus geteilt. Den Rassismus seines Vaters beschrieb Ernst auch als Angeklagter im Prozess zum Mord an Walter Lübcke: Der zwischenzeitlich verstorbene Vater sei SPD-Wähler gewesen, der „Ausländer“ gehasst und seinem Sohn verboten habe „mit Kanaken“ zu spielen. Ernsts Anwalt zufolge habe sein Mandant die „ausländerfeindliche Meinung“ seines Vaters „irgendwann übernommen“.
Bereits in der Grundschule hat der junge Ernst Schüler mit Migrationshintergrund angegriffen, weil er sich von ihnen „drangsaliert“ gefühlt habe. Als 15-Jähriger beging Ernst im April 1989 schließlich seinen ersten rassistisch motivierten Anschlag: In einem von türkischen Migrantinnen und Migranten bewohnten Haus in Aarbergen-Michelbach entzündete er im Keller Benzin. Aufgrund der soliden Bauweise des Treppenhauses verursachte der Brand nur Sachschaden. Auf den Einsatz eines mitgebrachten Molotowcocktails hatte Ernst spontan verzichtet. Vor Ort fanden Beamte einen verkohlten Briefumschlag auf denen die Wörter „Hass“ und „Ausländerwahlrecht“ zu lesen waren. Wie häufig zu jener Zeit, sah das Gericht kein politisches Motiv und verurteilte Ernst lediglich wegen Sachbeschädigung. [2]
Die rassistische Haltung, mit der Ernst aufgewachsen zu sein scheint, dürfte durch gesellschaftliche Debatten zusätzlich angeheizt worden sein. Seit Mitte der 1980er Jahre hatte sich bundesweit die Debatte um das Asylrecht in der BRD verschärft. Insbesondere konservative Politiker machten vor der Bundestagswahl 1987 Stimmung gegen sogenannte „Asylbetrüger“. Hiervon profitierten bei Wahlen auch extrem rechte Parteien wie „Die Republikaner“ (REP) und die „Nationaldemokratische Partei Deutschlands“ (NPD). [3] Vor dem Hintergrund einer „vergiftete[n] gesellschaftliche[n] Migrationsdebatte“ [4] (Barbara Manthe) stieg bundesweit auch die Zahl rassistisch motivierter Gewalttaten an. So auch in Hessen: In Wiesbaden beispielsweise sorgte im Sommer 1988 eine Serie von mindestens 25 Brandanschlägen, die sich u.a. gegen überwiegend von türkischen Migrantinnen und Migranten bewohnte Wohnhäuser richtete, für Aufsehen. Hierzu bekannte sich eine unbekannt gebliebene „Wiesbadener Front“.
Rund drei Wochen vor Ernsts Brandstiftung konnten im März 1989 die NPD und die REP Erfolge bei den hessischen Kommunalwahlen erzielen: Im Rheingau-Taunus-Kreis kamen die REP auf 10,5 % der Stimmen (10,8 % in Hohenstein, 17,8 % in Aarbergen). [5] Eine 15-jährige Bewohnerin des Hauses, das Ernst in Brand setzen wollte, berichtete dem Wiesbadener Kurier von einer aufgeheizten Stimmung während des Wahlkampfes. Die gesellschaftliche Debatte bezüglich des Umganges mit Asylsuchenden spitzte sich zu Beginn der 1990er weiter zu. Parallel dazu explodierte die Zahl rechter Gewalttaten. Es war die Zeit der rassistischen Pogrome von Hoyerswerda (September 1991), Rostock-Lichtenhagen (August 1992) und der zahllosen, zum Teil tödlich endenden Brandanschläge und anderer Angriffe bundesweit. In Hessen registrierten die Sicherheitsbehörden in den Jahren 1992 und 1993 79 Brandanschläge, 52 Körperverletzungen sowie zehn versuchte Tötungsdelikte. Zu mehreren Brandanschlägen kam es auch im Landkreis Rheingau-Taunus [6].
Auch Ernst beging in dieser Zeit seine nächsten schweren, rassistisch motivierten Anschläge: Im November 1992 stach er auf der Herrentoilette des Wiesbadener Hauptbahnhofs von hinten mit einem Messer auf einen Kurden ein, der als politisch Verfolgter Asyl beantragt hatte. Der Mann überlebte nur dank einer Notoperation. Ernst hatte bei seiner Vernehmung als Tatmotiv angegeben, sein Opfer habe ihn „sexuell anmachen“ wollen. Die Situation sei für ihn „besonders belastend“ gewesen, weil er den Mann „erkennbar“ als „Ausländer“ wahrgenommen habe. Gut ein Jahr später versuchte Ernst im Dezember 1993 in Hohenstein-Steckenroth einen Wohncontainer, der Geflüchteten als Unterkunft diente, in die Luft zu sprengen. Dafür hatte er auf dem Rücksitz eines zwischen zwei Containern geparkten Pkw eine 17 Zentimeter lange Rohrbombe deponiert, die er mittels einer aufwendigen Vorrichtung zeitverzögert zur Explosion bringen wollte. Die Detonation konnte verhindert werden, weil Bewohner den bereits brennenden Sprengsatz zufällig entdeckten.
Durch Vernehmungsprotokolle aus dieser Zeit ist bekannt, dass Ernst mit den REP, der NPD und der „Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei“ (FAP) sympathisierte. Ermittler fanden nach der Tat ein wohl selbstgemaltes Flugblatt der FAP mit den Parolen „Deutschland den Deutschen“ und „Kein Ausländerwahlrecht“ in Ernsts Zimmer. [7] Die FAP war zu dieser Zeit auch im Raum Wiesbaden aktiv. Ernst beharrte damals, wie auch 27 Jahre später im Prozess zum Mordfall Lübcke, darauf, weder Unterstützer noch Kontakte zu Neonazis gehabt zu haben. Gegenteilige Informationen liegen nicht vor. Fotos und Berichte aus jener Zeit und Region zeugen allerdings von rassistischen und NS-verherrlichenden Sprühereien.
Auch die Wohncontainer in Steckenroth waren bereits vor Ernsts Anschlag mit einem Hakenkreuz und SS-Runen beschmiert worden. Eine Anwohnerin berichtete gegenüber dem Autor Sebastian Hell vom antifaschistischen Fachmagazin „Lotta“, dass es damals zumindest lose rechte Zusammenhänge in der Region gegeben habe. Jugendclubs seien „von rechten Jugendlichen unterwandert gewesen“, Rechtsrock sei regelmäßig gehört und vereinzelt auch Material der NPD-Jugend verteilt worden. Die Anwohnerin erzählte zudem, es sei immer wieder zu Anfeindungen gegenüber kurdischen Geflüchteten sowie Menschen, die sich für Geflüchtete engagierten, gekommen. [8]
Welchen Einfluss diese Zustände auf Ernst hatten bzw. inwieweit er selbst an diesen beteiligt war, bleibt Spekulation. Aus dem psychiatrischen Gutachten, das nach dem Sprengstoffanschlag erstellt worden war, lässt sich zumindest Ernsts tiefsitzender Rassismus und Nationalismus ablesen. Dort heißt es: Deutschsein sei für ihn ein „Wert an sich“ gewesen. Die rassistische Abwertung habe „das eigene Selbstwertgefühl“ gestützt, indem er „sich eigenes Versagen nicht persönlich zurechnen“ musste. Ernsts Rassismus offenbarte sich auch in seiner wiederholt zu Tage getretenen Wahrnehmung von „Ausländern“ als Bedrohung. Auf ein solches Gefühl ging auch eine schwere Körperverletzung zurück, die er in Untersuchungshaft einem türkischen Mitgefangenen mit einem Metallstuhlbein zuführte. Für diese Tat sowie den Messerangriff in Wiesbaden und den Sprengstoffanschlag in Steckenroth wurde der mittlerweile 21-jährige Ernst im Sommer 1995 „wegen versuchten Totschlags“ und der „versuchten Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion in Tateinheit mit Sachbeschädigung“ zu einer Jugendstrafe von sechs Jahren verurteilt. [9]
In der organisierten Neonazi-Szene
Seine Haftzeit trat Ernst in der Justizvollzugsanstalt in Butzbach an. Später wurde er nach Kassel verlegt, wo er eine Umschulung zum Industriemechaniker absolvierte und im Freigang seine spätere Frau kennenlernte. Einer ihm im Gefängnis bescheinigten positiven Sozialprognose zum Trotz radikalisierte Ernst sich in seiner Haftzeit und knüpfte Kontakte zu Mitgliedern der extrem rechten Szene. Nach seiner frühzeitigen Freilassung auf Bewährung im September 1999 ließ er sich in Kassel nieder und arbeitete bei Zeitarbeitsfirmen. Aktiv suchte er Kontakte zur organisierten Neonaziszene. Diese fand er zunächst bei der NPD, der er im Oktober 2000 beitrat. Er nahm regelmäßig an Treffen teil und lernte dort auch führende Aktivisten der militanten Kameradschaftsszene aus Kassel kennen – darunter ehemalige Mitglieder der verbotenen Gruppierungen FAP und „Blood & Honour“. Auch den späteren Mitangeklagten im Mordfall Lübcke Markus H. lernte er dort kennen.
Im Jahr 2002 lehnte Ernst ein Angebot ab, den Vorsitz des NPD-Kreisverbandes zu übernehmen. Es waren vielmehr die gewaltbereiten Kameradschaftskreise, von denen er sich angezogen fühlte. [10] Mit Personen aus diesem Spektrum fuhr er in den kommenden Jahren immer wieder zu Aufmärschen und anderen bundesweit bedeutsamen Versammlungen in und außerhalb von Hessen. Am Rande solcher Veranstaltungen kam es immer wieder zu Gewalttaten. Auch Ernst wurde erneut gewalttätig: Bei einer Demonstration im schleswig-holsteinischen Neumünster im Jahr 2003 ging er auf eine Gegendemonstrantin los und würgte diese. Er wurde zwar wegen Körperverletzung verurteilt, erhielt jedoch trotz seiner Vorstrafen nur eine Bewährungsstrafe. [11]
Immer wieder griffen Ernst und seine Kameraden auch in Kassel und Umgebung Menschen aus rassistischen Motiven an. Im August 2003 verletzten die Neonazis beispielsweise am Rande des Kasseler Volksfests „Zissel“ einen jungen Deutschen, den sie für einen Chinesen hielten, lebensgefährlich mit einem Messer. Die Militanten attackierten auch politische Gegner: Im Februar 2007 provozierten sie bei einem Vortrag, zu dem der DGB eingeladen hatte, eine Schlägerei. Über solche Einzeltaten hinaus sammelte die Szene systematisch im Rahmen sogenannter „Anti-Antifa-Arbeit“ umfangreich personenbezogene Daten: Autokennzeichen und Fotos von Personen aus der Zivilgesellschaft, Mitgliedern politischer Parteien, Journalistinnen und Journalisten und Besucherinnen und Besucher der Kasseler Synagoge. Im Jahr 2019 wurde bei Ernst ein USB-Stick gefunden, der personenbezogene Daten von insgesamt 143 Personen umfasst. Der Großteil der Sammlung stammte wohl aus den Jahren 2001 bis 2007. Zumindest ein Teil davon soll Markus H. gesammelt haben.
Markus H. war auch beteiligt, als Ernst und weitere Kameradschaftsmitglieder am 1. Mai 2009 in Dortmund eine DGB-Demonstration brutal überfielen. Wegen eines Steinwurfes auf Polizisten erhielt Ernst im Jahr 2010 erneut lediglich eine Bewährungsstrafe. Eigenen Angaben zufolge habe sich der mittlerweile zweifache Vater daraufhin von Szeneaktivitäten zurückgezogen. Im Prozess 2020 wurde jedoch bekannt, dass er noch im Juni 2011 an einer Sonnenwendfeier in Thüringen teilgenommen hatte. Zu dieser hatte der führende Neonazi-Kader und stellvertretende NPD-Bundesvorsitzende Thorsten Heise geladen. Gemeinsam mit anderen Kasseler Neonazis hatte Ernst für Heise die „Hausverteidigung“ gegen mögliche Angriffe durch politische Gegner übernommen. Trotz eines vorliegenden Fotos, das Ernst auf der Veranstaltung zeigt, entging dem Landesamt für Verfassungsschutz Hessen dessen Anwesenheit. Dort ging man davon aus, dass Ernst seit 2010 nicht mehr in Erscheinung getreten sei, weswegen seine Akte fristgerecht im Juni 2015 geschlossen wurde. Als „abgekühlter Extremist“ wurde er nicht länger beobachtet. [12]
Reaktivierung durch eine aufgeheizte rassistische Stimmung und neue politische Hoffnungsträger
Für die Jahre nach 2011 sind keinerlei Teilnahmen von Ernst an Neonazi-Veranstaltungen bekannt. Sein Rückzug hing vermutlich mit Befürchtungen vor einer erneuten Haftstrafe zusammen. Mit einem Abwenden von seiner extrem rechten Ideologie und Gewaltbereitschaft hatte der Rückzug jedenfalls nichts zu tun. Dies wurde im Prozess zum Mord an Walter Lübcke deutlich: An seiner neuen Arbeitsstelle sei Markus H. 2011 wieder in sein Leben getreten. Vor dem Hintergrund steigender Zahlen von Asylsuchenden teilte er mit H. die Sorge vor „Überfremdung“ und „bürgerkriegsähnlichen Zuständen“. Spätestens ab 2014, davon ist die Generalbundesanwaltschaft überzeugt, seien sich beide einig gewesen, sich Waffen besorgen zu müssen, um auf diese Zustände vorbereitet zu sein. So legte sich Ernst in den kommenden Jahren mehrere Schusswaffen zu, darunter eine halbautomatische Maschinenpistole, sowie 1.400 Schuss Munition. Zudem absolvierte er mit Markus H. zahlreiche Schießtrainings.
Im Oktober 2015 nahmen beide schließlich an der Bürgerversammlung in Lohfelden teil, bei der Walter Lübcke für eine freundliche Aufnahme von Geflüchteten warb. Vermutlich gepusht durch eine zunehmend asylfeindliche, rassistische Stimmung in Teilen der Gesellschaft wurde dieser Abend für Ernst zu einem „Schlüsselerlebnis“. Markus H. filmte Lübcke und lud noch am selben Abend eine Passage seiner Rede auf YouTube hoch. Das Video verbreitete sich schnell in rechten sozialen Netzwerken und wurde u.a. vom Kasseler PEGIDA-Ableger KAGIDA, dem Hetzportal PI News, der früheren CDU-Politikerin Erika Steinbach sowie in AfD-Kreisen verbreitet. In kurzer Zeit wurde das Video über 100.000-mal aufgerufen. Der virale Erfolg des Videos verlieh Ernst das Gefühl, Teil einer breiten Bewegung zu sein. So schrieb er in einem Chat: „... wir sind nicht mehr allein und wir werden immer mehr“. Zustimmung für seine Sichtweise, „Merkels Flüchtlingspolitik“ führe dazu, dass „die Deutschen aussterben“, fand er auch unter Arbeitskollegen. Mit einzelnen nahm er auch an einem KAGIDA-Aufmarsch in Kassel teil. Walter Lübcke wurde für Ernst zu einer Projektionsfläche. Er machte ihn (mit)verantwortlich für die sexualisierten Übergriffe von Migranten in der Silvesternacht 2015 in Köln, den islamistischen Anschlag von Nizza 2016 und den Mord an zwei Rucksacktouristinnen durch Islamisten in Marokko 2018.
Die kursierenden rechten Narrative von „Überfremdung“, dem „Volkstod“, dem „Großen Austausch“, der „Islamisierung des Abendlandes“ und einem „drohenden Bürgerkrieg“ unterscheiden sich kaum von der neonazistischen Ausrichtung, der Ernst in seiner Kameradschaftszeit anhing. So verwundert es nicht, dass er seine politischen Hoffnungen nun in jene neueren rechten Gruppierungen steckte, die bundesweit zunehmend Zuspruch erhielten: die AfD, PEGIDA und die „Identitäre Bewegung“. Er unterstützte diese Gruppierungen mit Geldspenden. Einem Arbeitskollegen hatte er empfohlen, die AfD zu wählen. Er selbst nahm ab 2015 an verschiedenen AfD-Versammlungen in Erfurt, Eisenach sowie an Stammtischen in Kassel teil – teilweise gemeinsam mit Markus H. Vor den hessischen Landtagswahlen im Oktober 2018 half er der AfD beim Aufhängen von Wahlplakate.
Ausschlaggebend für den Entschluss Lübcke zu töten, sei schließlich der sogenannte „Trauermarsch“ am 1. September 2018 in Chemnitz gewesen. Nach tagelangen rassistischen Hetzjagden infolge eines tödlichen Messerangriffs am Rande eines Stadtfestes hatten führende AfD-Politiker rund 4.500 Menschen nach Chemnitz mobilisiert. Auch Ernst und Markus H. waren dem Aufruf gefolgt und mit AfD-Vertretern wie Björn Höcke, PEGIDA-Chef Lutz Bachmann, führenden Mitgliedern der „Identitären Bewegung“ und zahllosen Neonazis durch Chemnitz gelaufen. Ernst traf dort einen ehemaligen Aktivisten der „Freien Kräfte Schwalm-Eder“, der sich auch zeitweise in der NPD engagierte. Mit ihm stand Ernst nicht nur über einen verschlüsselten Messenger-Dienst in Kontakt. Er und H. hatten mit ihm auch Schießübungen vorgenommen. Dieser Kontakt, wie auch Bekenntnisse ehemaliger Weggefährten nach Ernsts Verhaftung im Juli 2019, zeugen davon, dass Ernst nie einen völligen Bruch mit der lokalen Neonazi-Szene vollzogen hatte. [13]
Im Januar 2021 verurteilte das Oberlandesgericht Frankfurt Ernst wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Im Prozess war zudem ein versuchter Mord an dem Geflüchteten Ahmed I. vom 6. Januar 2016 in Lohfelden verhandelt worden. Laut Anklage soll Ernst, aufgewühlt von den Ereignissen in der Kölner Silvesternacht wenige Tage zuvor, dem Mann von hinten gezielt ein Messer in den Rücken gestoßen haben. Jene Indizien, die für Ernsts Täterschaft sprechen, wurden vom Gericht jedoch als nicht ausreichend für eine Verurteilung gewertet. Das Gericht betonte dabei, dass ein Freispruch nicht bedeute, von der Unschuld des Angeklagten überzeugt zu sein. Es bestünden lediglich „Zweifel an der Schuld“. [14]
Ungebrochener Rassismus: von klein auf bis zum Mord
Der Fall Stephan Ernst verdeutlicht nicht nur, dass von angeblich „abgekühlten“ Neonazis – also jenen, die sich aus einer aktiven oder öffentlich wahrnehmbaren Rolle zurückgezogen haben – weiterhin ein großes Gefahrenpotenzial ausgeht. Er steht auch beispielhaft dafür, dass rechte Gewalttaten auch von Personen ausgehen, die nicht Teil der organisierten Neonazi-Szene sind. Ernsts frühe Radikalisierung liegt ebenso wie seine ersten rassistisch-motivierten Gewalttaten lange vor seiner Zeit als organisierter Neonazi. Sein rassistisch-nationalistisches Weltbild scheint vielmehr familiär geprägt zu sein. Inwieweit rechte Parteien und Gruppierungen bzw. die bereits seit Ende der 1980er Jahre zunehmende flüchtlingsfeindliche Stimmung Ernsts Gewaltbereitschaft verstärkten, ist unklar. Vor dem Hintergrund unzähliger rassistisch-motivierter Gewalttäter zu Beginn der 1990er Jahre, die glaubten im Sinne der Mehrheit der Bevölkerung zu handeln, ist diese Annahme jedoch wahrscheinlich. Schwer zu beurteilen ist auch, inwieweit die familiären Gewalterfahrungen, denen Ernst laut eigenen Angaben in seiner Kindheit ausgesetzt war, eine Rolle dabei spielten, selbst zum Täter zu werden.
Fakt ist: Ernsts Prägung saß so tief, dass auch die 1995 verhängte Haftstrafe kein Umdenken einleitete. In seiner aktiven Zeit in der militanten Neonaziszene dürfte sich seine Ideologie verhärtet haben. Mit Blick auf seine Kontakte zu führenden Aktivisten des militanten und präterroristischen Spektrums, ist davon auszugehen, dass er dort auch Kenntnisse erhalten hatte, auf die er beim Mord an Walter Lübcke zurückgreifen konnte. Bemerkenswert ist, dass trotz weiterer Verurteilungen wegen diverser Straf- und Gewalttaten Ernst stets ohne Haftstrafe davonkam. Der Journalist Christoph Cuntz bezeichnete Ernst daher treffend als „ein Produkt von 30 Jahren Kuschel-Justiz“. [15]
Ernsts Rückzug aus aktiven Szenekreisen hatte mitnichten mit einer ideologischen Abkehr zu tun. Verändert hatten sich nur die politischen Hoffnungsträger, von denen er sich spätestens ab 2014 in seinem rassistischen Weltbild bestätigt sah. Die von diesen Hoffnungsträgern verbreitete Ideologie unterscheidet sich im Kern nicht von den Wahnvorstellungen vor „Überfremdung“ und einem „drohenden Bürgerkrieg“ seiner früheren Stichwortgeber. Dadurch, dass diese neuen Gruppierungen weniger eindeutig dem neonazistischen Spektrum zuzuordnen waren oder sind, passten sie besser, so Martín Steinhagen, „zu seinem Leben als Ehemann, Vater, Facharbeiter bei einem großen Industriebetrieb […] als die Subkultur der Kameradschaften.“ [16] Wie gefährlich die nationalistisch-rassistischen Narrative im vermeintlich bürgerlichen Gewandt sind, zeigte sich in Hessen ab 2019 nicht nur im Mord an Walter Lübcke. Es folgt eine „Zeit des Terrors“ (Frankfurter Rundschau), die in Hessen mit weiteren rassistisch-motivierten Morden und Mordversuchen sowie Umsturzplänen und einer hohen Zahl an Körperverletzungen einhergeht.
Zu den Autoren
Sascha Schmidt ist Politikwissenschaftler, aktiv im „Beratungsnetzwerk Hessen – gemeinsam für Demokratie und gegen Rechtsextremismus“ sowie Leiter der Fachabteilung „Rechtsextremismus / Diskriminierung“ des DGB Hessen-Thüringen. Er schreibt regelmäßig für das Fachmagazin „der rechte rand“ sowie für gewerkschaftliche Publikationen.
Yvonne Weyrauch ist Politikwissenschaftlerin und Dozentin für politische Bildung mit den Schwerpunkten Rechtsextremismus, Antisemitismus und Geschlecht. Zudem ist sie im „Beratungsnetzwerk Hessen – gemeinsam für Demokratie und gegen Rechtsextremismus“ aktiv.
[1] Schmidt, Sascha und Weyrauch, Yvonne: Rechter Terror in Hessen. Frankfurt 2023, S. 224 f., 260 ff.
[2] Steinhagen, Martín: Rechter Terror – Der Mord an Walter Lübcke und die Strategie der Gewalt. Hamburg 2021, S. 103 ff.
[3] Schmidt, Sascha und Weyrauch, Yvonne: Rechter Terror in Hessen. Frankfurt 2023, S. 96.
[4] Manthe, Barbara: Rechtsterrorismus in der „alten“ Bundesrepublik. In: der rechte rand 184/2020, S. 13 f.
[5] Schmidt, Sascha und Weyrauch, Yvonne: Rechter Terror in Hessen. Frankfurt 2023, S. 97 ff.
[6] Ebda, S. 106 f.
[7] Schmidt, Sascha und Weyrauch, Yvonne: Rechter Terror in Hessen. Frankfurt 2023, S. 116 f.
[8] Hell, Sebastian: Irgendwo in Hessen (II) – Hohenstein im Rheingau-Taunus. In: Lotta 78/2020, S. 30 f.
[9] Steinhagen, Martín: Rechter Terror – Der Mord an Walter Lübcke und die Strategie der Gewalt. Hamburg 2021, S. 103 ff.
[10] Steinhagen, Martín: Rechter Terror – Der Mord an Walter Lübcke und die Strategie der Gewalt. Hamburg 2021, S. 142 ff.
[11] Schmidt, Sascha und Weyrauch, Yvonne: Rechter Terror in Hessen. Frankfurt 2023, S. 263 f.
[12] Schmidt, Sascha und Weyrauch, Yvonne: Rechter Terror in Hessen. Frankfurt 2023, S. 159, 164, 191, 263 f.
[13] Schmidt, Sascha und Weyrauch, Yvonne: Rechter Terror in Hessen. Frankfurt 2023, S. 259 ff.
[14] Steinhagen, Martín: Rechter Terror – Der Mord an Walter Lübcke und die Strategie der Gewalt. Hamburg 2021, S. 282.
[15] Cuntz, Christoph: Kuschel-Justiz für Neonazi. In: Wiesbadener Kurier vom 19.12.2019.
[16] Steinhagen, Martín: Rechter Terror – Der Mord an Walter Lübcke und die Strategie der Gewalt. Hamburg 2021, S. 212.