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Zum Raketeneinschlag im polnischen Przewodow am 15.11.2022 – Die NATO und der Bündnisfall nach Artikel 5

Am Nachmittag des vergangenen Dienstags, den 15. November 2022, schlug eine Rakete auf dem Gelände eines landwirtschaftlichen Betriebes in Przewodow ein, einem im Osten Polens wenige Kilometer von der Grenze zur Ukraine gelegenen Dorf. Zwei polnische Staatsbürger starben durch den Einschlag. Es handelte sich um eine Rakete des Flugabwehrsystems S-300 sowjetischer Bauart, die als wesentlicher Bestandteil des ukrainischen Flugabwehrsystems gilt. Polens nationaler Sicherheitsrat war bereits am Abend des 15. November zusammengekommen. Als Reaktion auf den Einschlag und den Tod der beiden Männer wurde der russische Botschafter in Warschau einbestellt. Außerdem alarmierte das zwischen Deutschland und der Ukraine gelegene Land die North Atlantic Treaty Organization (NATO), um zu überprüfen, ob ein Konsultationsverfahren nach Artikel 4 des NATO-Vertrags einzuleiten sei.

Im Kontext des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieges ist seit dem 24. Februar dieses Jahres immer wieder mahnend oder fordernd die Rede von einem Kriegseintritt der NATO-Staaten auf Seiten der Ukraine. Um sich in dieser Debatte fundiert positionieren zu können, ist eine Beschäftigung mit Geschichte, Aufgaben und Zielsetzung der 1949 gegründeten NATO essentiell. Wer oder was ist die NATO? Was sind die Artikel des NATO-Vertrags und wann kommen diese zum Einsatz? Und wo gibt es bei uns weitere Informationen zum Thema?

Wer oder was ist die NATO?

Die NATO entstand nach Ende des Zweiten Weltkrieges mit dem Gründungsvertrag vom 4. April 1949 als das Herzstück des westlichen Systems der kollektiven Verteidigung gegen die Expansionsbestrebungen der Sowjetunion. Hintergrund war das Ringen um Einflusssphären und eine politisch-ökonomische Vormachtstellung in der Welt zwischen den USA auf der einen und der Sowjetunion auf der anderen Seite im beginnenden Kalten Krieg. Zu den Gründungsmitgliedern der NATO zählten Belgien, Dänemark, Frankreich, das Vereinigte Königreich, Island, Italien, Kanada, Luxemburg, die Niederlande, Norwegen, Portugal und die USA.

Das geteilte Deutschland war zunächst kein Mitgliedsstaat, bis die Westalliierten 1955 der von Bundeskanzler Konrad Adenauer forcierten Wiederbewaffnung der 1949 auf dem Gebiet der westlichen Besatzungszonen gegründeten Bundesrepublik sowie deren NATO-Beitritt zustimmten. Dies stellte die Abschlussetappe der militärischen Westintegration der jungen BRD dar. Mit der Auflösung des Warschauer Paktes, dem in Reaktion auf dem westdeutschen NATO-Beitritt gegründeten Verteidigungsbündnisses des Ostblocks, im Jahr 1991 ging ein Bedeutungsverlust der Verteidigungsdimension der NATO einher. Die folgende Transformation hin zu einem System kollektiver Sicherheit unter besonderer Beachtung von proaktiver Krisenprävention und -management ermöglichte die Osterweiterung um Polen, Tschechien und Ungarn 1999 sowie Bulgarien, Rumänien, die Slowakei, Slowenien und die baltischen Staaten 2004. Die Ausdehnung des Bündnisgebiets bis an die Grenze russischen Hoheitsgebietes wurde dort gemeinhin als Bedrohung wahrgenommen. Der Perspektivwandel der NATO in den 1990er-Jahren fand außerdem Ausdruck in den sogenannten „Out-of-area-Einsätzen“ in Bosnien und Herzegowina und im Kosovo. Um den Kosovokrieg zu beenden, führte die NATO trotz des fehlenden Mandates des UN-Sicherheitsrats und damit ohne völkerrechtliche Grundlage Luftangriffe durch, um die Menschenrechtsverletzungen Serbiens im Kosovo zu beenden.

Die Kernelemente des NATO-Gründungsvertrags von 1949

Die Kernelemente des NATO-Gründungsvertrags von 1949 bilden die Artikel 4 und 5. Artikel 4 besagt, dass die Mitgliedsstaaten sich im Falle einer Bedrohung der „Unversehrtheit des Gebiets, der politischen Unabhängigkeit oder der Sicherheit einer der Parteien“ konsultieren. Seit 1949 wurde dieser Artikel sieben Mal in Anspruch genommen, zuletzt am 24. Februar 2022 in Reaktion auf den russischen Überfall auf die Ukraine. Artikel 5 definiert einen bewaffneten Angriff gegen einen oder mehrere der Bündnispartner als einen Angriff gegen alle. Daraus ergibt sich die Verpflichtung in von den Bündnispartnern als notwendig erachteter Form Beistand zu leisten – auch militärisch. In der Geschichte der NATO wurde Artikel 5 erst ein einziges Mal aktiviert: In Reaktion auf die Terroranschläge vom 11. September 2001 in den USA. In der Folge beteiligten sich Deutschland und andere NATO-Staaten am Militäreinsatz gegen die Terrororganisation Al-Kaida in Afghanistan. Eine Zäsur in der Geschichte der NATO stellt die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014 dar. Dass Russland zur Durchsetzung seiner Außenpolitik auch zu militärischen Mitteln griff, führte zu einer verstärkten Territorialverteidigung und erhöhten Verteidigungsausgaben einzelner Mitgliedsstaaten durch die NATO in Europa.

Nach Beratungen mit den NATO-Botschaftern am Vormittag des 16. November in Brüssel bestätigte Generalsekretär Jens Stoltenberg, dass der Einschlag durch eine Rakete eines ukrainischen Luftabwehrsystems verursacht wurde. Es lägen aktuell keine Hinweise auf einen von Russland geplanten Angriff auf einen NATO-Bündnispartner vor.

Podcast „Wir Hessen und die Bundeswehr“ zum NATO-Bündnisfall

In Folge 3 „Hessische Soldaten im Einsatz – Landes- und Bündnisverteidigung“ des Podcast „Wir Hessen und die Bundeswehr“, den die Hessische Landeszentrale für politische Bildung zusammen mit der Bundeswehr in Hessen produziert, erläutert Brigadegeneral Jared Sembritzki, Chief of Staff der US Army in Europe und Africa, welche konkreten Folgen der Bündnisfall für Deutschland und die NATO-Mitglieder hat: „ Auch wenn die NATO gerne als Militärbündnis beschrieben wird, ist sie eine politische Allianz, die über einen ausgesprochen effektiven Militärapparat verfügt. Es sind also nicht die Militärs der Staaten, sondern die Regierungschefs, die die Maßnahmen der NATO und deren Umfang festlegen. Der bekannte Artikel 5 bedeutet nicht, dass die Deutschlands Streitkräfte in der akuten Bedrohungslage sofort in den Krieg ziehen müssen. De facto sagt der Beistandsvertrag lediglich aus, dass ein Angriff auf einen Mitgliedsstaat wie ein Angriff auf alle gewertet wird. Die Art und Weise der Verteidigung kann je nach Bedrohungslage individuell festgelegt werden.“ Alle Folgen und weitere Informationen zur Podcast-Reihe findet ihr hier.

Mittlerweile geht die NATO beim Raketeneinschlag am Dienstag im polnisch-ukrainischen Grenzgebiet von einem tragischen Unglück aus. Bei der Abwehr der russischen Raketen, die ukrainische Ziele (Energieversorgung, Militär etc.) zerstören und erneut Zivilisten töten sollten, habe eine Abfangrakete der ukrainischen Luftwaffe den russischen Marschflugkörper verfehlt. Statt, wie sonst üblich, die Flugabwehrrakete bei Verfehlung des Marschflugkörpers per Fernsteuerung zu zerstören, sei in der Stresssituation des Dauerbeschusses schlicht untergegangen, diese Aktion durchzuführen. Weitere Informationen zum russischen Angriffskrieg in der Ukraine findet ihr in unserem Fragen- und Antworten-Special.

Zum Thema russischer Angriffskrieg in der Ukraine können bei der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung folgende Publikationen bestellt werden: