20. August 1799: 225. Geburtstag von Heinrich von Gagern
Vor rund 175 Jahren, am 27. März 1849 verabschiedete die erste gesamtdeutsche Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche eine Verfassung für einen deutschen Nationalstaat. Da die Deutsche Revolution von 1848/1849, die Gründung einer kleindeutschen, konstitutionellen Erbmonarchie mit dem preußischen König an der Spitze, bekanntlich nicht gelang, trat die sogenannte „Paulskirchenverfassung“ nie in Kraft. Ihr progressiver Charakter, allen voran die verfassungsrechtliche Verankerung von Grund- und Menschenrechten, besaß jedoch eine ideengeschichtliche Strahlkraft, die über das Scheitern der Revolution hinaus über das Weimarer Nationaltheater 1919 und den Parlamentarischen Rat von 1948/49 bis heute nachwirkt. Das Gesicht des „Paulskirchenparlaments“ von 1848/49 war mit Heinrich von Gagern ein Politiker, der vor 1848 scharfe Oppositionspolitik im Großherzogtum Hessen betrieben hatte. In den ersten Revolutionstagen wurde Gagern zum Regierungschef in Hessen ernannt, ab Mai 1848 stand er der Frankfurter Nationalversammlung als Präsident vor. Sieben Mal wählte das Parlament ihn in monatlich angesetzten Wahlen in diesem Amt wieder. Wo lagen die Ursprünge von Gagerns politischen Überzeugungen? Wie gelang es ihm, in der Paulskirche regelmäßig eine breite Parlamentsmehrheit (75 bis 91%) hinter sich zu vereinen? Wie positionierte sich Gagern in den entscheidenden Streitfragen? Und wie regierte er auf das Scheitern der Revolution?
Herkunft, Ausbildung und frühe Jahre in der Politik
Heinrich Wilhelm August Freiherr von Gagern kam am 20. August 1799 als Sohn des Politikers, Diplomaten und Kunsthistorikers Hans Christoph von Gagern und dessen Frau Caroline (geborene Freiin von Gaugreben) in Bayreuth zur Welt, wohin die Eltern vor den revolutionären Truppen Napoleons geflohen waren. Das Adelsgeschlecht von Gagern stammte ursprünglich von der Insel Rügen, Heinrich von Gagern war jedoch ein Nachfahre des süddeutschen Familienzweigs, der in und um die Kleinstadt Weilburg im Regierungsbezirk Gießen lebte. Im jugendlichen Alter von 13 Jahren begann Heinrich von Gagern eine militärische Ausbildung auf der Kadettenschule in München und zog als 15-jähriger Unterleutnant in den Krieg gegen Napoleon nach dessen Rückkehr auf den französischen Thron 1815. Die Erfahrungen in den Befreiungskriegen beschrieb Gagern selbst als prägend für seine spätere politische Laufbahn. Sie gelten gesellschaftlich betrachtet als Ursprung eines deutschen Nationalbewusstseins zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Zwischen 1816 und 1819 absolvierte Gagern ein Studium der Rechtswissenschaften in Göttingen und Jena, wo er sich der dortigen Burschenschaft anschloss. Gagern gehörte zu den Organisatoren des Wartburgfests, das am 18. Oktober 1817 anlässlich des vierten Jahrestags der Völkerschlacht bei Leipzig stattfand und einen ersten Höhepunkt der nationalen und konstitutionellen Bewegung im deutschsprachigen Raum darstellte. Nach dem Studium begann er als Hofgerichtsassessor eine Beamtenkarriere im Großherzogtum Hessen, allerdings wandte er sich aufgrund der geringen Gestaltungsmöglichkeiten im Staatsdienst rasch der Politik zu. Im Dunstkreis führender Liberale wie Karl von Rotteck und Carl Theodor Welcker stieg Gagern zu Beginn der 1830er-Jahre zum Oppositionsführer im Landtag des Großherzogtums auf, woraufhin er im restaurativen Deutschen Bund starken Repressionen bis hin zur Entlassung aus dem Staatsdienst ausgesetzt war.
Wirken in der Revolutionszeit 1848/1849
Noch im Februar 1848, wenige Tage nach der Ausrufung der zweiten französischen Republik, die als revolutionäre Initialzündung in ganz Europa fungierte, setzte Gagern sich für die deutsche Einheit im Nationalstaat ein. Am 5. März 1848 wurde er im Großherzogtum zum Regierungschef ernannt, woraufhin er versuchte, die revolutionäre Gärung der radikalen Linken schnell einzudämmen und die Revolution in Richtung der Gründung einer preußisch-kleindeutsche Erbmonarchie ohne Einbeziehung der Deutschösterreicher der Habsburgermonarchie zur dirigieren. Als Abgeordneter des hessisch-darmstädtischen Wahlkreises Zwingenberg wurde Gagern schließlich in die Frankfurter Nationalversammlung gewählt und setzte sich anschließend im Kampf um das Präsidentenamt gegen den radikalen Linken Robert Blum durch. Unter seiner Ägide wurde Erzherzog Johann von Österreich am 28. Juni zum Reichverweser ernannt, womit er de jure Oberbefehlshaber über die Exekutivorgane des Deutschen Bundes wurde. Da das Parlament jedoch nicht über eigene Truppen verfügte – ein Faktor, der in der Forschung als Ursache des Scheiterns der Revolution diskutiert wird – verblieb die Kommandogewalt de facto bei Preußen und Österreich, die jeglichen Truppenbewegungen zustimmen mussten. In der wichtigen Streitfrage der Grenzen der zu schaffenden Nationalstaats setzte Gagern sich bereits früh für eine kleindeutsche Lösung ein, forderte jedoch eine Verbindung zwischen dem künftigen deutschen Nationalstaat und Österreich über einen Staatenbund. Gagern war darüber hinaus Teil der Delegation der Paulskirche, die dem preußischen König Friedrich Wilhelm IV. im April 1849 die Kaiserkrone von Gottes Gnaden antrug. Wilhelm der IV. lehnte diese jedoch mit dem Verweis, es handele sich um „einen imaginären Reif aus Dreck und Lettern“ ab, die Deutsche Revolution war im Scheitern begriffen. Die reaktionären Truppen hatten nicht zuletzt vor dem Hintergrund der langwierigen Debatten in der Paulskirche und der Spaltung der bürgerlichen Abgeordneten in gemäßigte Liberale und radikale Demokraten viel Zeit, um ihre Kräfte über territoriale Grenzen hinweg zu sammeln.
Das Scheitern der Revolution und Wirken nach 1849
Gagern versuchte nach der Ablehnung der Kaiserdeputation, doch noch die Einheit zumindest einiger deutscher Fürstentümer (etwa Hannover und Sachsen) unter Führung des preußischen Königs in der „Erfurter Union“ zu verwirklichen. Im Volkshaus des „Erfurter Unionsparlaments“ wirkte er als Abgeordneter an der Ausarbeitung einer neuen Verfassung („Unionsverfassung“) mit. Das Unionsprojekt scheiterte schließlich im Zusammenhang mit der Punktation von Ölmütz im Herbst 1850, die die drohende militärische Konfrontation zwischen Österreich, das den Deutschen Bund restaurieren wollte, und Preußen, das mit der Erfurter Union im Begriff war, einen neuen Bundesstaat zu gründen, verhinderte.
Im Krieg Dänemarks mit den Herzogtümern Schleswig und Holstein 1850, die wiederum von preußischen Truppen unterstützt wurden, wirkte Gagern als Major auf Seiten der Herzogtümer. In den 1850er- und 1860er-Jahren, die von Stagnation und den Bemühungen der Obrigkeit geprägt waren, den vorrevolutionären Zustand zu restaurieren, blieb Gagern hingegen eher passiv. Zwischen 1864 und 1872 wirkte Gagern zunächst erneut im Staatsdienst, als hessischer Gesandter in Wien, wobei er die letzten vier Jahre dieser Periode zusätzlich der zweiten Kammer des hessischen Landtags angehörte. Die Gründung des deutschen Kaiserreichs – vorangetrieben durch den preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck, der dem Erfurter Unionsparlament als Schriftführer angehörte – durch drei Kriege zwischen 1864 und 1870/71 begrüßte Gagern als politischer Beobachter aus der Distanz. Als Parteiloser gelang es ihm nicht, nach 1871 ein Reichstagsmandat zu erringen. Nach dreijähriger schwerer Krankheit verstarb Heinrich von Gagern am 22. Mai 1880 und wurde auf dem Darmstädter Friedhof begraben. Bis heute zählt er zu den populärsten Politikern der Frankfurter Nationalversammlung. Gagern wurde für sein Lebenswerk unter anderem mit der Ehrenbürgerwürde von Berlin geehrt. Sowohl in Weilburg als auch in der Mainmetropole Frankfurt sind Schulen nach ihm benannt.
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