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18. Dezember 1874: 250. Todestag des Unternehmers Karl Gottlieb Oehler

Die Industrialisierung markierte einen politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich bedeutsamen Einschnitt in der deutschen und europäischen Geschichte. Ausgehend vom industriellen Mutterland England erreichten Mechanisierung, Elektrifizierung, Fließbandarbeit und Massenproduktion mit ihren sekundären Folgen hinsichtlich Verwissenschaftlichung, Bevölkerungswachstum, Urbanisierung und sozialem Wandel im Laufe des 19. Jahrhunderts das europäische Festland – und somit auch die Städte und Fürstentümer des Deutschen Bundes. Karl Gottlieb Oehler war einer der Unternehmer der zweiten Welle der Industrialisierung im Bereich Stahl und Chemie, die im deutschsprachigen Raum besonders lukrativ und erfolgreich war. Der geborene Frankfurter erwarb 1850 die von Ernst Sell gegründeten Offenbacher Teerfarbenwerke, die sich unter seiner Führung auf die synthetische Herstellung von organischen Farbstoffen spezialisierten, mit denen beispielsweise Naturmaterialien wie Baumwolle oder Seide eingefärbt wurden. Bis 1905 befand sich der Betrieb unter dem Namen „K. Oehler Anilin- und Anilinfarbenfabrik“ im Familienbesitz, 1906 und 1952 fanden Inhaberwechsel statt, sodass das Werk in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die 1951 nach Entflechtung des „I.G. Farben“-Konzerns neugegründete „Farbwerke Hoechst“ integriert wurde. Oehlers Biografie steht rückblickend exemplarisch für die zahlreicher Unternehmer im Deutschen Bund und später im Kaiserreich, die die Innovations- und Schubkraft der Industrialisierung wissenschaftlich und wirtschaftlich zu nutzen wussten.

Biografie von Karl Gottlieb Oehler

Karl Gottlieb Reinhard Oehler kam am 30. August 1797 als Sohn des Kaufmanns Johann Georg Oehler und dessen Frau in Frankfurt am Main zur Welt. Nach dem Besuch des Gymnasiums bei einem Vormund in Weilburg ermöglichte ein Stipendium ihm das Studium der Theologie an der Universität Gießen. Darüber hinaus studierte Oehler Klassische Philologie und Geschichte an der Universität Heidelberg. Sein hohes Bildungsniveau ermöglichte Oehler eine mehrjährige Tätigkeit als Hauslehrer in Köln und im schweizerischen Aarau an der dort neu errichteten Kantonsschule. Welche Rolle die repressive, restaurative Politik der Obrigkeit im 1815 gegründeten Deutschen Bund – etwa in Form der Karlsbader Beschlüsse von 1819 – beim Weggang Oehlers aus Frankfurt spielte, lässt sich heute nicht mehr mit Sicherheit rekonstruieren. In Aarau lernte er schließlich seine erste Ehefrau Elise Hunziger kennen, deren Vater Johann Georg Hunziger, ein Textilkaufmann, Oehler zu einem Chemiestudium in Berlin und Paris ermunterte. Nach dem Abschluss gründete er in einer Kleinstadt am Bodensee zunächst selbst eine Baumwollfärberei, bevor er in den 1820er-Jahren schließlich in der Baumwollfärberei seines Schwiegervaters in der Schweiz zu arbeiten begann. Dort trafen zwei bedeutende Felder der Industrialisierung aufeinander: Die Textilindustrie, die bereits im 18. Jahrhundert in England ein enormes Wirtschaftswachstum bedingt hatte, und – durch die Nutzung synthetischer Farben – die boomende chemische Industrie.

Erwerb der Offenbacher Asphaltfabrik von Ernst Sell

1850 wagte Oehler schließlich eine unternehmerische Weiterentwicklung, indem er die in Offenbach am Main ansässige Teerdistillations- und Asphaltfabrik erwarb, die der gebürtige Darmstädter Ernst Sell 1842 als erste ihrer Art gegründet hatte. Das auch auf Betreiben des Gießener Chemieprofessors Justus Liebig, der als erster Chemiker systematisch die organische Chemie erforschte, entstandene Unternehmen bezog den als Ressource notwendigen Steinkohleteer von den Frankfurter Gaswerken, wo er als Nebenprodukt der Holzverkohlung anfiel. Die organische Chemie entwickelte sich im 19. Jahrhundert zu einem der beliebtesten naturwissenschaftlichen Forschungsgebiete. 1833 wurden Anilin und Chinolin – klare, farblose chemische Verbindungen – als zwei der über 10.000 Komponenten von Steinkohleteer isoliert. Ernst Sell selbst, ein Student Liebigs, betrieb aufbauend auf dem Fünfkugelapparat zur Elementaranalyse chemischer Verbindungen, den sein Professor entworfen hatte, Grundlagenforschung, auf die Oehler wiederum nach 1850 aufbauen konnte. Als Anilin- und Anilinfarbenfabrik betrieb er die vormalige Asphaltfabrik weiter und wurde durch die um 1860 durchgesetzte Fokussierung auf anilin-basierte Farbstoffe taktgebend in der chemischen Farbenindustrie seiner Zeit.

Übergabe an die Söhne und Entwicklung der Nachfolgekonzerne

1870 übernahmen Oehlers Söhne Karl und Eduard, die beide der 1835 geschlossenen zweiten Ehe mit der schweizer Beamtentochter Luise Jaeger entstammten, die Führung des inzwischen auf dem gesamten Gebiet des 1871 gegründeten Kaiserreichs bekannten Unternehmens. 1884 übertrugen sie dem renommierten Chemiker Paul Friedländer die Leitung des wissenschaftlichen Labors des Teerfarbenwerks. 1905 verkauften Karl Oehlers Söhne rund 30 Jahre nach dem Tod ihres Vaters, der am 18. Dezember 1874 in Frankfurt am Main verstorben war und auf dem Frankfurter Hauptfriedhof begraben wurde, die Anilinfarbenfabrik an das Frankfurter Unternehmen „Griesheim-Elektron“, das ebenfalls in der chemischen Industrie angesiedelt war. 1925 gehörte der Konzern zu denjenigen Unternehmen, die sich auf Betreiben des Chemikers Carl Bosch und des Industriellen Hermann Schmitz zur „I.G. Farbenindustrie AG“ zusammenschlossen. Die „I.G. Farben“ stiegen bis 1945 zum größten Chemieunternehmen der Welt steht auf, und stehen heute als Chiffre dafür, wie „kriegswichtige“ deutsche Unternehmen unter den Nationalsozialisten opportunistisch von „Arisierung“, dem Einsatz von Zwangsarbeiterinnen und -arbeitern und Ausbeutung profitierten. Mit dem Konzentrationslager Auschwitz III Monowitz westlich von Krakau errichtete die „I.G. Farben“ 1941 das erste nicht staatlich finanzierte Konzentrationslager, in dem mehrere tausend jüdische Zwangsarbeiter untergebracht wurden, die in der Kautschukproduktion des Unternehmens Arbeitern mussten. Nachdem die „I.G. Farben“ nach 1945 von den Alliierten im Sinne einer Dekartellisierung entflochten worden war, wurde der Offenbacher Unternehmenszweig als „Naphtol-Chemie Offenbach“ weitergeführt und letztlich bei den „Farbwerken Hoechst“ integriert.

Bei der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung sind unter anderem folgende Publikationen zum Thema erhältlich: