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17. November 1973: 50. Jahrestag der ersten Anschläge der Revolutionären Zelle in West-Berlin und Nürnberg

In der Nacht vom 16. auf den 17. November 1973 explodierte in der Niederlassung von International Telephone & Telegraph Corporation (ITT) in West-Berlin ein Sprengsatz. Als die Feuerwehr und die Rettungskräfte eintreffen, geht gerade ein Brandsatz auf dem Parkplatz des ITT-Geländes los und beschädigt ein Fahrzeug des Unternehmens schwer. Einen Tag später, in der Nacht vom 17. auf den 18. November 1973, explodiert an einer Mauer an der Hauswand des SEL-Gebäudes in Nürnberg ein zweiter Sprengsatz. Wenig später geht bei der Deutschen Presse-Agentur ein Bekennerschreiben der Revolutionären Zelle (RZ) ein, die die Verantwortung für die beiden Anschläge übernimmt.

Wer die Revolutionäre Zelle war, ist den Ermittlungsbehörden zu diesem Zeitpunkt ein Rätsel. Gleichzeitig bekommen die Ermittlungsbehörden aus der ganzen Welt weitere Anschläge auf Gebäude des US-amerikanischen Unternehmens ITT und dessen Tochterfirmen gemeldet: Rom, Barcelona, Zürich, Paris und New York. Auch hier sind die Täterinnen und Täter unbekannt.

Hintergründe der Anschläge

Aus dem ersten Bekennerschreiben der bis dahin unbekannten Gruppe geht hervor, dass die Angriffe auf die SEL in Nürnberg und die ITT-Niederlassung in West-Berlin fast zeitgleich am 16. und 17. November stattfinden sollten – ein doppelter Schlag, der den Konzern ITT erschüttern sollte. Die Taktik war neu, die Ausführung unheimlich präzise und das Ziel klar definiert. Die RZ griff ITT an, weil sie das Unternehmen als Symbol für die Verstrickung multinationaler Konzerne in politische Unterdrückung und neokoloniale Wirtschaftspraktiken ansahen. Speziell richtete sich ihr Fokus auf die Rolle von ITT beim Militärputsch in Chile 1973, bei dem der demokratisch gewählte Präsident Salvador Allende gestürzt und durch das Militärregime unter General Augusto Pinochet ersetzt wurde. Es gab Vorwürfe und einige Beweise dafür, dass ITT aktiv versucht hatte, den Putsch zu fördern und zu unterstützen, um ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen in Chile zu schützen.

Dies wurde von den RZ und anderen bewaffneten linken Gruppen als exemplarisch für die Art und Weise angesehen, wie große Kapitalinteressen die Politik in Entwicklungsländern manipulieren und dabei repressive Regime unterstützen. Durch Angriffe auf ITT wollten die RZ also ein Zeichen gegen Imperialismus, Kapitalismus und politische Unterdrückung setzen. Diese Aktionen waren Teil ihrer breiteren Strategie, mittels politischer Gewalt Aufmerksamkeit auf politische Themen zu lenken und Druck auf Unternehmen und Regierungen auszuüben, ihre Praktiken zu ändern. Sie betrachteten ihre Aktionen als Teil eines globalen Kampfes für soziale Gerechtigkeit und gegen Unterdrückung. Die Ermittlungsbehörden fragen sich: Wer ist die Revolutionäre Zelle? Und was sind ihre Ziele?

Wer und was waren die Revolutionären Zellen?

Die Revolutionären Zellen, wie sich die Revolutionäre Zelle ab 1976 selbst nannten, waren eine linksradikale militante Netzwerkgruppierung, die in den 1970er und 1980er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland aktiv war. Die RZ formierten sich vor dem Hintergrund einer zunehmenden Unzufriedenheit mit der traditionellen Politik und einem wachsenden Interesse an radikaleren Formen des politischen Aktivismus. Die Studentenbewegung von 1968 hatte zu einer Politisierung der Jugend geführt und viele Fragen bezüglich Ungerechtigkeit, Imperialismus, Kapitalismus und der Rolle Deutschlands in der Welt aufgeworfen. Nachdem die Studentenbewegung an Schwung verloren hatte, suchten einige Aktivisten nach neuen Wegen, um politische Veränderungen herbeizuführen. Besonders Wilfried Böse und Brigitte Kuhlmann entwickelten von Frankfurt am Main aus ein neues „Stadtguerilla“-Konzept in klarer Abgrenzung zur Roten Armee Fraktion (RAF).

Im Gegensatz zur RAF waren die RZ dezentral und netzwerkartig organisiert, wobei die Mitglieder meist in ihren normalen Berufen und Lebensumständen verblieben und somit im Alltag kaum auffielen. Diese „illegale Legalität“ war ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal zu anderen Gruppen. Die Zellenstruktur ermöglichte es ihnen, unabhängig voneinander zu operieren, was die Flexibilität erhöhte und das Risiko minimierte. Sie hatten keine starre Hierarchie oder zentrale Führung, was ihre Strukturen schwer durchschaubar machte.

Die Ziele der RZ waren vielfältig und umfassten ein breites Spektrum politischer und sozialer Themen:

  1. Antiimperialismus und Antikapitalismus: Sie sahen sich im Kampf gegen imperialistische und kapitalistische Strukturen, die sie für soziale Ungerechtigkeit, Unterdrückung und Ausbeutung verantwortlich machten.
  2. Internationale Solidarität: Sie unterstützten Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt und setzten sich für Themen wie die „Palästinenserfrage“ oder den Kampf gegen Apartheid in Südafrika ein.
  3. Soziale Gerechtigkeit: Die RZ engagierten sich auch in lokalen sozialen Kämpfen, etwa in der Unterstützung von Mieterbewegungen oder in der Frauenrechtsbewegung.
  4. Direkte Aktion: Sie glaubten, dass politische Veränderung durch direkte Aktionen und militante Kampagnen erreicht werden könnte, was Anschläge und Sabotageakte einschloss.

Die Revolutionären Zellen versuchten, durch ihre Aktionen politische Themen in das öffentliche Bewusstsein zu rücken und Veränderungen in der Gesellschaft zu bewirken. Ihre Methoden und die Legitimität ihrer Gewaltanwendung sind jedoch bis heute umstritten. Die RZ führten eine Reihe von Bombenanschlägen und Sabotageakten durch, die oft materiellen Schaden verursachten und manchmal Menschen gefährdeten und zum Teil auch schwer verletzten. Dies führte zu einer Debatte über die Angemessenheit ihrer Taktiken und darüber, ob ihre Aktionen tatsächlich effektiv dazu beitrugen, ihre politischen Ziele zu erreichen. Insgesamt bleibt die Bewertung der RZ und ihrer Gewaltanwendung ein komplexes und kontroverses Thema, das Fragen über die Grenzen des politischen Widerstands, die Rolle von Gewalt in der Politik und die Verantwortung politischer Aktivistinnen und Aktivisten aufwirft.

Frankfurt am Main und das Rhein-Main-Gebiet waren besonders in den 1970er Jahren neben West-Berlin, dem Ruhrgebiet und Hamburg ein regionaler Schwerpunkt verschiedener RZ-Gruppen. Neben Anschlägen in Wiesbaden und Frankfurt am Main waren verschiedene Revolutionäre Zellen besonders im Kontext der Proteste gegen den Bau der Startbahn West des Frankfurter Flughafens aktiv. Bis heute ist ungeklärt, ob Mitglieder der Revolutionären Zellen den hessischen Wirtschaftsminister Heinz-Herbert Karry am 8. Mai 1981 im Schlaf erschossen haben.

Ende der Geschichte(n) der RZ

Die Geschichten der Revolutionären Zellen lassen sich nicht auf ein genaues Enddatum festlegen, da die Gruppe allmählich an Bedeutung verlor und ihre Aktivitäten im Laufe der Zeit abnahmen. Jedoch gibt es einige wesentliche Markierungen, die das Abklingen ihrer Aktivitäten kennzeichnen. So begannen die Aktivitäten der RZ in den späten 1980er Jahren merklich nachzulassen. Die politische Landschaft veränderte sich, insbesondere durch das Ende des Kalten Krieges und den Fall der Berliner Mauer 1989, was zu einem Umbruch in den linken politischen Bewegungen in Deutschland führte. Zu Beginn der 1990er Jahre waren die Revolutionären Zellen weitgehend inaktiv geworden. Die veränderten politischen und sozialen Bedingungen in Deutschland nach der Wiedervereinigung sowie interne Konflikte und ein Mangel an Nachwuchs führten zu einer weiteren Schwächung des Gewaltnetzwerkes. Die juristische Aufarbeitung der Taten der RZ setzte sich auch nach dem Abklingen ihrer Aktivitäten fort, teilweise bis in die 2000er Jahre hinein. Der letzte Prozess gegen Mitglieder der RZ endete 2014 in Frankfurt am Main mit einem Freispruch. Die Geschichte der RZ ist jedoch nicht nur durch ihr operatives Ende gekennzeichnet, sondern auch durch die anhaltende Auseinandersetzung mit ihrem Erbe und ihren Auswirkungen auf die politische Kultur in Deutschland. Die RZ bleiben ein Gegenstand historischer Forschung und Diskussion, besonders im Kontext der Geschichte linker politischer Militanz in Deutschland. Heute sind die Revolutionären Zellen weitgehend vergessen worden. Dabei ist eine Auseinandersetzung mit der Geschichte der RZ in der politischen Bildung längst überfällig, um Einblicke in die Natur und Dynamik sozialrevolutionärer Bewegungen in der Bundesrepublik zu gewinnen. Das kann auch zu aktuellen Debatten beitragen: über Fragen der politischen Gewalt, Radikalisierung und die Grenzen des Widerstands gegen als ungerecht empfundene Systeme.

Bei der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung sind unter anderem folgende Publikationen zum Thema erhältlich: