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17. August 1924: 100. Todestag des Philosophen und Pädagogen Paul Natorp

In diesem Jahr wäre Immanuel Kant, der große Denker der Aufklärung, 300 Jahre alt geworden. Mit seiner Formel „sapere aude“ – „habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ – forderte er aufklärerisch den „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ und legte mit seiner Philosophie im Allgemeinen eine entscheidende wissenschaftliche Grundlage für die Moderne. Zu den Denkern, die Kants Ethik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wiederentdeckten und weiterentwickelten, gehörte Paul Natorp. Ab 1885 Professor an der Universität Marburg, begründete er gemeinsam mit Hermann Cohen die „Marburger Schule“. Aufbauend auf einer stark mathematisch und wissenschaftstheoretisch ausgerichteten Interpretation Kants im Neukantianismus, begründete Natorp die Sozialpädagogik und setzte sich politisch für allgemeine Volksbildung und Einheitsschulen ein – im späten 19. Jahrhundert eine gar revolutionäre Forderung.

Herkunft und Ausbildung

Paul Natorp kam am 24. Januar 1854 als Sohn des evangelischen Pastors Gottfried Bernhard Natorp und dessen Frau Emilie (geborene Keller) in Düsseldorf zur Welt. Im Alter von 17 Jahren nahm er ein Studium der Musik, Geschichte, klassischen Philologie (Sprach- und Literaturwissenschaften) und Philosophie in Berlin, Bonn und Straßburg auf. Die Musik begleitete den Intellektuellen zeitlebens. Natorp komponierte über 100 Stücke, mehrheitlich handelte es sich dabei um Kammermusik. 1876 reichte er seine auf Latein abgefasste geschichtswissenschaftliche Dissertation an der Kaiser-Wilhelms-Universität Straßburg ein. Nachdem er einige Jahre als Hauslehrer sein Geld verdient hatte, nahm er 1880 eine Anstellung als Hilfsbibliothekar an der Universität Marburg an. Im Anschluss an seine Habilitation über die Erkenntnistheorie von René Descartes, die mit Hermann Cohen ein bedeutender jüdischer Philosoph betreute, mit Natorp in den folgenden Jahren eng zusammenarbeitete, wurde er 1885 außerordentlicher Professor für Philosophie in Marburg. Natorp heiratete 1887 seine Cousine Helene Natorp. Das Paar hatte drei Töchter und zwei Söhne, die beide im Ersten Weltkrieg schwer verwundet wurden.

Verbindung von Erkenntnisphilosophie und Sozialpädagogik

Gemeinsam mit Cohen entwickelte Natorp Kants Philosophie in Gestalt eines starken methodisch-wissenschaftlichen Unterbaus weiter. In seinen Schriften befasste er sich unter anderem mit dem Schweizer Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827), dem Vordenker der Reformpädagogik, die Ende des 19. Jahrhunderts unter starkem Einfluss Natorps entstand. Im Zentrum von Pestalozzis Bemühungen stand hierbei die Förderung einer ganzheitlichen Elementarbildung der Kinder, die bereits im Elternhaus beginnen sollte. Der Anregung seines Marburger Kollegen Friedrich Alber Lange folgend setzte Natorp sich dafür ein, die soziale Frage zum Gegenstand philosophischen Fragestellungen zu erheben. Von Lange übernahm er auch den Begriff des „ethischen Sozialismus“. Im ausgehenden 19. Jahrhundert fokussierte sich Natorps Interesse dann immer stärker auf die Sozialpädagogik. Im Zusammenhang damit setzte er sich für die Begrenzung kirchlichen Einflusses auf Schulbildung und Staatswesen und für die Stärkung des Gemeinschaftslebens innerhalb der Gemeinschaft ein. Natorp kritisierte die stark hierarchisch organisierte Gesellschaft der Kaiserzeit besonders dahingehend, dass weite Teile der Bevölkerung von Bildung ausgeschlossen blieben. Mit der materiellen Armut ging aus Natorps Sicht eine soziale Verarmung einher, die die Segmentierung der Gesellschaft wiederum vertiefte. Handlungsleitend war für Natorp hierbei ausgehend von Kants kategorischem Imperativ („Handle stets nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“), die Maxime, dass der Mensch erst Mensch durch Erziehung und Gemeinschaft werde.

Politische Ziele der Sozialpädagogik

Natorps zentrale Forderung bestand in einer Sozialisierung der Bildung als Allgemeingut im Sinne einer Ausweitung auf alle Kinder. Hierzu zählten unter anderem die Ersetzung von Volksschulen, die meist nur Arbeiterkinder besuchten, durch Einheitsschulen für alle gesellschaftlichen Schichten, die Abschaffung konfessionsgebundenen Religionsunterrichts sowie die Öffnung der Hochschulen und Universitäten für eine breitere Erwachsenenbildung. Nach Natorps Ideal sollte der Lebensweg des Individuums von der Zugehörigkeit zu Gemeinschaften geprägt sein – vom Kindergarten bis zur Bildungsgemeinschaft freier Bürgerinnen und Bürger. Als überaus fortschrittlich ist aus der Rückschau zu bewerten, dass Natorp in seine Bildungsforderungen auch Mädchen und Frauen miteinschloss. Neben seinem pädagogischen Engagement setzte er sich für die Abschaffung der Todesstrafe und des preußischen Dreiklassenwahlrechts ein. Das Zensuswahlrecht sorgte dafür, dass die Stimmen wohlhabender Preußen bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus deutlich stärker ins Gewicht fielen als die Stimmen von Menschen mit geringeren Steuerleistungen.

Rezeption von Natorps Lebenswerk

Bereits Zeitgenossen galt Natorp als Begründer der Sozialpädagogik, dessen Forderungen in der hierarchisch organisierten und sozial segmentierten kaiserzeitlichen Gesellschaft stark umstritten waren. Cohen, mit dem er eng zusammenarbeitete, trafen regelmäßig antisemitische Äußerungen. In der Weimarer Republik wurde Natorps Konzept der Einheitsschulen schließlich umgesetzt. Seine Pädagogik geriet infolge der Zeit des Nationalsozialismus – nicht zuletzt wegen seiner engen Zusammenarbeit mit Cohen, der jüdischen Glaubens war – weitestgehend in Vergessenheit. Erst in den 1980er-Jahren wurde er als ein Vater der Sozialpädagogik wiederentdeckt und gewürdigt, sodass seine Schriften heute wieder vermehrt zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung gemacht werden. Natorp verstarb am 17. August 1924 im Alter von 70 Jahren in Marburg. In Berlin-Friedenau ist ein Gymnasium nach ihm benannt.

Bei der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung sind unter anderem folgende Publikationen zum Thema erhältlich: