
Das Wirtschaftswunderland
Nur 15 Monate nach Kriegsende, im Juli 1946, rollt im Opelwerk Rüsselsheim das erste Nachkriegsauto vom Band. Dieser „Opel Blitz“, ein Leicht-LKW mit 1,5 Tonnen, hat Strahlkraft, nicht nur wegen seines Namens. Hessens Wirtschaft nimmt nach 1945 schnell Fahrt auf. Und das, obwohl viele Industrieanlagen zerstört sind, und Energie und Rohstoffe fehlen.
Die Währungsreform
Nach Kriegsende droht auch in Hessen eine Inflation. Der Grund: In der ersten Nachkriegsnot beschaffen sich die Menschen Lebensmittel über Bezugsscheine, durch Tauschgeschäfte oder gegen „Zigarettenwährung“ auf dem Schwarzmarkt. Die Folge: Die aktuelle Währung Reichsmark ist im Übermaß vorhanden und hat ihren Kaufwert verloren.
Deshalb beschließen die Besatzungsmächte der Westzonen gemeinsam mit deutschen Wirtschaftsfachleuten eine Währungsreform. „Gemacht“ wird sie in Hessen, koordiniert vom späteren Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard, der zu jener Zeit als Direktor für Wirtschaft in der Bizonen-Verwaltung in Frankfurt arbeitet.
Das neue Geld
Am 20. Juni 1948, einem Sonntag, wird die D-Mark erstmals ausgezahlt. Jeder Bürger erhält anfangs 40 D-Mark, im Tausch gegen 40 Reichsmark. Ausgegeben wird die Summe komplett in Scheinen: einem Zwanzigmarkschein, zwei Fünfmark-, drei Zweimark-, zwei Einmark- und vier Einhalbmarkscheine. Diese D-Mark-Banknoten wurden zuvor in den USA gedruckt. Nach Deutschland kamen sie in einem geheimen Geldtransport namens „Operation Bird Dog“: die 23.000 Holzkisten kamen zunächst per Schiff aus den USA nach Bremerhaven und von dort mit Sonderzügen und LKWs nach Frankfurt. Münzen werden im Zuge der Währungsreform erst ab 1949 ausgegeben.

„Jetzt kommt das Wirtschaftswunder“
Die 1950er und 1960er Jahren erlebt Hessen wie das übrige Westdeutschland als Zeit des sogenannten Wirtschaftswunders. Die Wirtschaft boomt. Neue Unternehmen entstehen, Waren und Güter werden produziert und ins Ausland exportiert, die Menschen haben Arbeit und können sich wieder etwas leisten.
Der rasante Aufschwung wird auch in der alltäglichen Kultur aufgegriffen. Zum Beispiel vom politischen Kabarett, das in den 1950er Jahren die aktuellen gesellschaftspolitischen Entwicklungen satirisch und scharfzüngig kommentiert. 1958 besingen die zu jener Zeit bekannten Kabarettisten Wolfgang Neuss und Wolfgang Müller in dem Kinofilm „Wir Wunderkinder“ das Wirtschaftswunder und die Nachkriegsgesellschaft mit folgendem Text:
Lied vom Wirtschaftswunder
Die Straßen haben Einsamkeitsgefühle
Und fährt ein Auto, ist es sehr antik
Nur ab und zu mal klappert eine Mühle
Ist ja kein Wunder nach dem verlorenen Krieg
Aus Pappe und aus Holz sind die Gardinen
Den Zaun bedeckt ein Zettelmosaik
Wer rauchen will, der muss sich selbst bedienen
Ist ja kein Wunder nach dem verlorenen KriegEinst waren wir mal frei
Nun sind wir besetzt
Das Land ist entzwei
Was machen wir jetzt?
Jetzt kommt das Wirtschaftswunder
Jetzt kommt das Wirtschaftswunder
Jetzt gibt’s im Laden Karbonaden schon und Räucherflunder
Jetzt kommt das Wirtschaftswunder
Jetzt kommt das Wirtschaftswunder
Der deutsche Bauch erholt sich auch und ist schon sehr viel runder
Jetzt schmeckt das Eisbein wieder in Aspik
Ist ja kein Wunder nach dem verlorenen KriegMan muss beim Autofahren nicht mehr mit Brennstoff sparen
Wer Sorgen hat, hat auch Likör und gleich in hellen Scharen
Die Läden offenbaren uns wieder Luxuswaren
Die ersten Nazis schreiben fleißig ihre Memoiren
Denn den Verlegern fehlt es an Kritik
Ist ja kein Wunder nach dem verlorenen Krieg
Ist ja kein Wunder nach dem verlorenen KriegWenn wir auch ein armes Land sind
Und so ziemlich abgebrannt sind
Zeigen wir, dass wir imposant sind
Weil wir etwas überspannt sind
Wieder hau‘n wir auf die Pauke
Wir leben hoch hoch hoch hoch hoch höher hochDas ist das Wirtschaftswunder
Das ist das WirtschaftswunderZwar gibt es Leut, die leben heut noch zwischen Dreck und Plunder
Doch für die Naziknaben, die das verschuldet haben
Hat unser Staat viel Geld parat und spendet Monatsgaben
Wir sind ne ungelernte Republik
Ist ja kein Wunder, ist ja kein Wunder
Ist ja kein Wunder nach dem verlorenen Krieg
Lied von Wolfgang Neuss
Kein Wunder ohne „Gastarbeiter“
Auf der Konferenz in Jalta beschließen die Staatschefs der USA, Großbritanniens und der Sowjetunion, Deutschland nach ihrem Sieg in Besatzungszonen aufzuteilen. Ende der 1950er Jahre melden die ersten hessischen Unternehmen Vollbeschäftigung. Zusätzliche Arbeitskräfte werden über spezielle Länderabkommen aus dem Ausland angeworben. Anfang April 1956 trifft die erste Gruppe italienischer Arbeiter in Darmstadt ein, ihre Landsleute bilden bis 1963 die stärkste Gruppe der ausländischen Beschäftigten in Hessen. In einer zweiten Anwerbewelle folgen Arbeitskräfte aus Spanien, Griechenland, Portugal und der Türkei. Die Zahlen wachsen wie der Aufschwung sprunghaft: 1958 leben knapp 8.000 ausländischer Arbeiter in Hessen, 1960 schon 25.000, und 1963 rund 87.000.
Die frühen Arbeitsmigranten werden „Gastarbeiter“ genannt. Sie kommen in der Hoffnung, schnell Geld verdienen und dann wieder in ihre Heimat zurückgehen zu können. Davon gehen auch die Deutschen aus. Manches Unternehmen in Frankfurt oder Hanau baut seinen Fremdarbeitern eigene Wohnheime. Doch meist werden die Gastarbeiter in einfachen Sammelunterkünften untergebracht, eingesetzt werden sie überwiegend für schwere körperliche, oft mit Schmutz verbundene Arbeit in der industriellen Produktion, in Baugewerbe und Bergbau.
Gekommen. Geblieben. Angekommen?
Trotz der nicht einfachen Bedingungen holen viele Gastarbeiter ihre Familien nach und bleiben dauerhaft in Hessen. Städte wie Offenbach, Hanau oder Frankfurt stehen dafür mit ihrem hohen Anteil von Bürgerinnen und Bürger mit migrantischen Wurzeln. Heute gestalten die Kinder und Enkel der ersten Fremdarbeiter-Generationen nicht nur in Hessen ganz selbstverständlich alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens mit. Und doch bleibt auch nach Jahrzehnten die Frage nach Identität und Zugehörigkeit. Das schildert zum Beispiel die Frankfurter Autorin Deniz Ohde 2020 in ihrem Debüt „Streulicht“. Der Roman, der es direkt auf die Shortlist für den Deutschen Buchpreis schafft, schildert das Aufwachsen einer jungen Deutschen mit einer türkischstämmigen Mutter am Rand des Industrieparks Höchst.



