Abschluss des Themenmonats 50 Jahre „Mai-Offensive“ der RAF der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung
Heute vor 50 Jahren, am 15. Juni 1972 gegen 19 Uhr, konnten Ulrike Meinhof und Gerhard Müller in der Walsroderstraße 11 in Langenhagen bei Hannover festgenommen werden. Am Abend zuvor war eine junge Frau bei dem Lehrer Fritz Rodewald erschienen. Sie hatte ihn gebeten, am 15. Juni zwei Personen für zwei bis drei Tage in seiner Wohnung in Langenhagen zu beherbergen. Rodewald hatte zugesagt und angegeben, wann er für die beiden Besucher zu erreichen sei. Bereits im Gespräch mit seiner Lebensgefährtin am Abend und besonders im Laufe des nächsten Tages kam ihm wegen der gesamten Umstände jedoch der Verdacht, dass es sich bei den unbekannten Besuchern um Mitglieder der RAF handeln könnte. Rodewald benachrichtigte daraufhin die Polizei, die die Wohnung ab etwa 16.30 Uhr beobachtete. Gegen 17.50 Uhr brachen Meinhof und Müller in die Wohnung von Rodewald im Haus Walsroderstraße 11 ein, da Rodewald, wie von der Polizei angewiesen, nicht Zuhause war. Als Müller um 19 Uhr die Wohnung verließ, um an einer Telefonzelle Kontakt zu Unterstützerkreisen aufzunehmen, schlug die Polizei zu. Müller wurde festgenommen, bevor er zur Waffe greifen konnte. Daraufhin begannen die anderen Polizisten, die immer noch nicht wussten, um wen es sich bei der Frau in der Wohnung handelte, den Zugriff durchzuführen. Meinhof konnte unter massivem körperlichen Widerstand festgenommen werden. Das Ende der „Mai-Offensive“ 1972 war damit besiegelt, die Führungsriege der RAF verhaftet.
In der Wohnung wurden zahlreiche Gegenstände sichergestellt, darunter Waffen, Munition und selbstgebaute Bomben, wie sie in anderen konspirativen RAF-Wohnungen gefunden und bei den Anschlägen der „Mai-Offensive“ eingesetzt worden waren. Auch bei der Festnahme von Gudrun Ensslin am 7. Juni 1972 in Hamburg konnten Schusswaffen sichergestellt werden. Bernhard Braun und Brigitte Mohnhaupt trugen bei ihren Festnahmen am 9. Juni 1972 in West-Berlin ähnliche Sprengkörper und Waffen bei sich. Bei Gerhard Müller in Hannover fanden die Ermittler Schlüssel, die ihnen den Zugang zu den konspirativen Bombenwerkstätten in Frankfurt am Main und in anderen Städten ermöglichten. Am 15. und 16. Juni 1972 konnte ein Großteil der noch verbliebenen RAF-Logistik zerschlagen, Waffen und einsatzfähige Bomben sichergestellt sowie notwendige Materialien für viele weitere Sprengsätze konfisziert werden. Erst am 15. Juni 1972 endete damit die „Mai-Offensive“ der RAF, die ohne den enormen Fahndungsdruck und den Festnahmen der wichtigsten RAF-Mitglieder sicher zu weiteren blutigen Anschlägen geführt hätte.
Die Polizei und die politisch zuständigen Akteure feierten in den kommenden Tagen ihren vermeintlichen Sieg gegen die RAF. Die Anspannung der letzten Tage und Wochen wich einer Siegesgewissheit, die sich als massive Fehleinschätzung herausstellen sollte. Der vermeintliche Sieg der Ermittlungsbehörden gegen die RAF sollte sich im Nachhinein als Pyrrhussieg erweisen. Die RAF begann mit Hilfe ihrer Unterstützerkreise in den kommenden Monaten und Jahren aus den Gefängnissen heraus ihren Kampf gegen den „US-Imperialismus“ und gegen die Bundesrepublik fortzuführen. Die Ermittlungsbehörden und die Politik hatten sich getäuscht. Zwar waren mit Baader, Meins, Raspe, Ensslin, Meinhof und weiteren RAF-Mitgliedern viele wichtige Führungspersönlichkeiten festgenommen worden, aber ein wichtiger Teil des Unterstützungsnetzwerks war weiterhin unbekannt geblieben. Selbst in der geschichtswissenschaftlichen Aufarbeitung der RAF sind diese Unterstützungsnetzwerke, die überhaupt erst erklären, warum sich weitere RAF-Gruppen und -Strukturen nach der Zerschlagung der sogenannten „ersten RAF-Generation“ in den Folgejahren gründen konnten, weitestgehend unbekannt. Es klingt bei der Fülle an Literatur und Material zur Geschichte der RAF fast skurril, aber eigentlich steht die RAF-Forschung gerade erst am Anfang.
Die „Mai-Offensive“ 1972 als Herausforderung für die politische Bildungsarbeit
Bis heute wissen wir nur sehr wenig über die tatsächlichen RAF-Strukturen, die RAF-Unterstützerkreise und den Fortbestand der RAF-Logistik zwischen Juni 1972 und der Geiselnahme der RAF in der deutschen Botschaft 1975 in Stockholm. Dass jedoch gerade um die RAF-Führungsfiguren Baader, Meinhof, Ensslin, Meins und Raspe ein Personenkult entstand, der sich durch verschiedene journalistische Publikationen und Adaptionen der RAF-Geschichte in Funk, Medien und Filmen zu einem „Mythos RAF“ entwickelte und zum Teil bis heute Bestand hat, wissen wir. Einerseits geht damit einher eine Verklärung der RAF als Gruppe, die vermeintlich die Bundesrepublik spätestens im sogenannten „Deutschen Herbst“ 1977 zum Wanken gebracht hätte, was jedoch nie der Fall war. Andererseits erzeugt der "Mythos RAF" zum Teil eine Verklärung der Ziele der RAF, die als vermeintlich sozialrevolutionäre Gruppierung in Wort und Tat für eine bessere Gesellschaft gekämpft habe. Gerade die „Mai-Offensive“ 1972 der RAF zeigt jedoch deutlich, dass es einen nicht unerheblichen Widerspruch zwischen den Worten, ausgedrückt in Konzeptpapieren und Bekennerschreiben, und den Taten der RAF gab. Die Anschläge der RAF richteten sich während der „Mai-Offensive“ 1972 u.a. gegen die US-Armee und sollten den Kampf der vietnamesischen Guerillaeinheiten des Vietcongs im Vietnamkrieg unterstützen. Die Anschläge waren jedoch so konzipiert, dass sie über die symbolische Ermordung und Verletzung einzelner US-Soldaten hinaus keinen Effekt auf den Vietnamkrieg hatten. Die Anschläge gegen die deutsche Polizei, den zuständigen Ermittlungsrichter gegen die RAF am Bundesgerichtshof und den Springer-Verlag waren ebenfalls symbolisch gegen die „Feinde“ der RAF gerichtet, verletzten aber überwiegend Menschen, die mit den angeprangerten Menschenrechtsverletzungen und der vermeintlichen Volksverhetzungen überhaupt nichts zu tun hatten.
Aus diesem Grund ist es gerade für die politische Bildungsarbeit wichtig, die Opfer der RAF in den Mittelpunkt der Betrachtung zu rücken. Fokussiert man sich bei der Erzählung und Aufarbeitung der Ereignisse auf die individuellen Schicksale der RAF-Opfer im Kontext der „Mai-Offensive“ 1972 wird deutlich, dass es eine nicht unerhebliche Diskrepanz zwischen den Worten und den Taten der RAF gab. Diese Diskrepanz zwischen dem Leid der Opfer, ihren Familien sowie Angehörigen und den Worten sowie vermeintlichen Zielen der RAF ermöglicht es, eine kritische Distanz zwischen der Geschichte der RAF und den medial überrepräsentierten RAF-Mythen herzustellen. Damit verbunden muss auch ein Umdenken bei der Beschreibung der RAF-Geschichte in wissenschaftlichen, journalistischen und bildungspolitischen Kontexten sein. Nicht mehr die Gruppe und die verklärenden Beschreibungen einzelner weniger RAF-Mitglieder sollten im Zentrum der RAF-Geschichte stehen. Vielmehr müssten die Diskrepanzen zwischen vermeintlichen Zielen und umgesetzten Handlungen, zwischen politischer Selbstverortung und tatsächlicher „revolutionärer“ Praxis sowie die Konzeption der Anschläge und deren tatsächliche Umsetzung herausgearbeitet und kritisch aufgearbeitet werden. Damit einhergeht auch eine kritische Aufarbeitung der Rolle der Politik und der Ermittlungsbehörden im Kampf gegen die RAF, um besonders jungen Menschen deutlich zu machen, in welchem Spannungsfeld die Geschichte der RAF zu verorten ist. Und, um noch einen wichtigen Punkt zu nennen: Es ist unumgänglich, sich kritisch mit der bisherigen Erinnerungsarbeit zur Geschichte der RAF und ihrer Opfer auseinanderzusetzen. Wie heute an die Opfer und Geschädigten der RAF gedacht und erinnert wird, sagt viel über den Stand der derzeitigen historisch-kritischen Aufarbeitung der Geschichte der RAF in der Bundesrepublik aus.
Was bleibt? Die Geschichte der RAF ist aufgrund der medialen Überrepräsentation der Gruppe in Medien, Kultur, Gesellschaft und Politik ein Teil der Gegenwart und muss gerade deshalb in der politischen Bildungsarbeit einen größeren Stellenwert einnehmen. Der „Mythos RAF“ muss erst noch geknackt werden. Erste Versuche dessen sind erkennbar, die Aufarbeitung der RAF muss aber weiter intensiv betrieben werden, damit Mythen, Legenden und Verschwörungserzählungen in Zukunft keinen Platz mehr finden. Forschung und politische Bildungsarbeit müssen dabei Hand in Hand gehen.
Weitere Informationen zur Vorgeschichte der RAF in Hessen und zur Anschlagsserie „Mai-Offensive“ 1972 sind abrufbar in unserer Podcast-Reihe „Die RAF in Hessen – 50 Jahre „Mai-Offensive“ 1972“.