Dr. Wolfgang Kraushaar – 50 Jahre RAF-Anschläge auf die US-Hauptquartiere
Am 11. Mai 2022 jährt sich der Beginn der sogenannten „Mai-Offensive“ der Roten Armee Fraktion (RAF) zum 50. Mal. Die RAF verübte am 11. Mai 1972 einen Sprengstoffanschlag auf das Hauptquartier des V. Korps der US-Armee, das United States European Command und das Hauptquartier der Central Intelligence Agency (CIA) im I.G.-Farben-Haus in Frankfurt am Main. Drei Bomben detonierten vor dem I.G.-Farben-Haus sowie vor dem Offizierscasino und töteten Oberstleutnant Paul A. Bloomquist des V. US-Korps. 13 weitere Personen wurden durch die Explosionen zum Teil schwer verletzt. Die „Mai-Offensive“ war eine Reihe von sechs Sprengstoffanschlägen, die die RAF zwischen dem 11. und 24. Mai 1972 in der Bundesrepublik verübte. Der Anschlag in Frankfurt am Main war der erste Anschlag der sogenannten ersten Generation von RAF-Mitgliedern auf staatliche beziehungsweise US-amerikanische Einrichtungen in Deutschland. Zwei der insgesamt sechs Anschläge richteten sich gegen Militäreinrichtungen der USA. Am 24. Mai tötete ein Bombenanschlag auf das US-Hauptquartier in Heidelberg drei weitere US-Soldaten. Die Morde sind ein Teil einer langen Serie von Anschlägen und Attentaten, die insgesamt 33 Todesopfer forderten und über 200 zum Teil schwer Verletzte nach sich zogen. Die Sprengstoffanschlagsserie veränderte die Bundesrepublik Deutschland nachhaltig. Zusammen mit dem nur einige Wochen nach der „Mai-Offensive“ stattgefundenen Olympia-Attentat in München und Fürstenfeldbruck am 5. September 1972 durch die palästinensische Splittergruppe „Schwarzer September“ stellte die „Mai-Offensive“ einen Wendepunkt bundesdeutscher Sicherheitspolitik im Umgang mit politischer Gewalt dar. Die Bekämpfung politischer Gewalt wurde einer der zentralen Aufgaben im Bereich "Innere Sicherheit".
Die Gedenkstätte Point Alpha lud in Kooperation mit der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung am 10. März 2022 den renommierten Wissenschaftler und RAF-Experten Dr. Wolfgang Kraushaar für einen Vortrag im Rahmen der Abendveranstaltung „50 Jahre RAF-Anschläge auf die US-Hauptquartiere“ ein. Die Veranstaltung fand Corona-konform mit Abstands- und 2G+-Regeln vor 38 Besucherinnen und Besucher im Haus auf der Grenze in Geisa statt.
Wolfgang Kraushaar begann seinen Vortrag mit der Vorgeschichte der Roten Armee Fraktion. Kraushaar verwies darauf, dass die RAF - aus einer radikalisierten und militanten Abspaltung der sogenannten „68er-Bewegung“ stammend - sich selbst als militärische Avantgarde sah, die das kapitalistische und post-nationalsozialistische System mit Bomben revolutionieren wollte. Auch deshalb gaben sich, so Kraushaar, die Gründungsmitglieder den Namen Rote Armee Fraktion - in Anlehnung an die Rote Armee der Sowjetunion, die das Deutsche Reich gemeinsam mit den Alliierten militärisch von den Nationalsozialisten befreite. Bereits kurz nach der Baader-Befreiung am 14. Mai 1970 veröffentlichten die Mitglieder der RAF eine zweifache Ankündigung: der Aufbau eines Militärapparates und der Ausbau der Logistik, um als „Stadtguerilla“ agieren zu können.
Kraushaar beschrieb ausführlich, wie sich die RAF 1971 an die nordkoreanische Führung mit einem Brief, der zufällig in West-Berlin gefunden wurde, wandte. In diesem Schreiben, das, wie Kraushaar in Bezug auf Ermittlungsakten vermutete, von Ulrike Meinhof geschrieben wurde, findet sich die ausführlichste Darstellung der eigenen Namensgebung der Gruppenmitglieder. Der Hilferuf nach logistischer Unterstützung an die nordkoreanische Führung zeigte laut Kraushaar, dass die RAF besonders zwischen Mai 1970 und Mai 1972 den eigenen Ansprüchen einer militärischen Avantgarde nicht gerecht werden konnte. Die RAF-Mitglieder waren mehr mit der Logistik als mit der vermeintlichen Befreiung des sogenannten Proletariats und den Randgruppen der Gesellschaft, wie es noch in den ersten Schriften angekündigt wurde, beschäftigt. Erst mit der „Mai-Offensive“ 1972 begann die RAF, ihren Worten über Banküberfälle und Polizistenmorde hinaus tödliche Taten folgen zu lassen.
Nach Kraushaar waren weder der Zeit noch die Orte der Anschläge der „Mai-Offensive“ 1972 zufällig gewählt. Auslöser für die Planungen und Konzeption der „Mai-Offensive“ war die Eskalation und Zuspitzungen des US-amerikanischen Militärs unter Befehlsgewalt von Präsident Nixon im Vietnamkrieg ab Ende März 1972. Die Verminung des wichtigen Handelshafens Hai Phong in Nordvietnam und die massive Ausweitung der Flächenbombardements, die sich auch gezielt gegen die Zivilbevölkerung und Nachschublieferungen richteten, haben, so Kraushaar, die akuten Planungen der RAF-Anschläge gegen das US-Militär in Frankfurt am Main und Heidelberg erst richtig ins Rollen gebracht.
Kraushaar schilderte im Detail den besonders grausamen Anschlag in Heidelberg und führte detailreich aus, wie Captain Clyde R. Bonner, Specialist Charles Peck und Specialist Ronald A. Woodward durch die Wucht der Explosionen getötet wurden. Generell wies Kraushaar daraufhin, dass die Mai-Offensive kontraproduktiv für die Ziele der RAF gewesen sei. Besonders der Anschlag auf das Springer-Verlagsgebäude am 19. Mai 1972, der ausschließlich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, aber nicht die von der RAF verhassten BILD-Journalistinnen und -Journalisten traf, habe zu einem Umdenken in der radikalen Linken in Westdeutschland geführt. Wurde die RAF bis 1972 noch von einem nicht unerheblichen Anteil der radikalen linken Strömungen in der BRD positiv rezipiert, änderte sich die Wahrnehmung der RAF in den meisten linksalternativen bis linksradikalen Milieus besonders nach der „Mai-Offensive“ schlagartig. Als bekanntes Beispiel für die vehemente Kritik an der RAF-Sprengstoffserie erwähnte Kraushaar die RAF-kritische Rede des bekannten Philosophen Oskar Negt im Rahmen einer Solidaritätsaktion für Angela Davis in Frankfurt am Main wenige Tagen nach den ersten Anschlägen der RAF. Negt machte in seiner Rede vor der Frankfurter Oper deutlich, dass die RAF sich auf einem militärischen Irrweg befand und nicht durch linke und linksradikale Kräfte in der BRD weiterhin unterstützt werden sollte.
Die voluminösen Schilderungen der Planungen und Durchführungen der RAF-Anschläge in Frankfurt am Main und Heidelberg von Kraushaar konnten auf ganzer Ebene überzeugen und hielten auch für geschichtsinteressierte Personen immer wieder öffentlich eher unbekannte Details und Überraschungen parat. So stellte Kraushaar fest, dass die Informationen zum Lageplan des US-Headquarters in Frankfurt am Main von desertierten afroamerikanischen US-Soldaten stammten, denen die linksradikalen Milieus in der Bundesrepublik Deutschland bei der Flucht vor einem Kampfeinsatz in Vietnam geholfen hatten. Nach Aussage des ehemaligen CIA-Agenten K. Barton Osborne vom 23. Juni 1976 im Prozess gegen die RAF-Mitglieder in Stuttgart-Stammheimbefand sich im zerstörten Gebäude des Secret Service in Heidelberg tatsächlich die Computer-Anlage, mit der die US-Armee den Nachschub für die Flächenbombardierungen in beiden Teilen Vietnams berechnete.
Im letzten Teil seines Vortrages ging Wolfgang Kraushaar auf die Unterstützungsnetzwerke der RAF in Heidelberg ein. Mit dem Sozialistischen Patientenkollektiv (SPK) und der Heidelberger Rechtsanwaltskanzlei von Eberhard Becker und Siegfried Haag verfügte die RAF, so Kraushaar, in Heidelberg über Spezialwissen zu den Begebenheiten vor Ort. In Frankfurt am Main lebten die RAF-Mitglieder selbst in sogenannten konspirativen Wohnungen und kannten sich bestens aus.
Dr. Wolfgang Kraushaar baute seine komplexen Darstellungen durch eine Mischung aus Detail- und Metaerzählungen souverän und gewohnt kenntnisreich auf. Dem knapp 60 Minuten langen Vortrag schloss sich eine spannende Diskussion an. Wir bedanken uns bei Dr. Wolfgang Kraushaar für die spontane Übernahme des Vortrages und die tollen Ausführungen sowie bei der Gedenkstätte Point Alpha für die hervorragende Ausrichtung der Abendveranstaltung.
Bericht von Robert Wolff