Herausgeber: HLZ, Ref. I/2
Radikalisierung und Militantisierung: eine notwendige Unterscheidung
Holger Marcks
Radikal zu sein war schick in den 1960er und 1970er Jahren: global, in Deutschland und auch in Hessen. Insbesondere Frankfurt am Main galt als Hochburg des deutschen Linksradikalismus: die Sponti-Bewegung, Häuserkampf und schließlich die Konflikte um die Startbahn-West prägten die Hochhausstadt zu jener Zeit. Ihre Personifizierung fanden sie in dem späteren grünen Außenminister Joschka Fischer und einem der Poster-Boys der Studentenbewegung: Daniel Cohn-Bendit. Als dieser 1968 von Paris nach Frankfurt übersiedelte, hatte er gerade mit seinem Bruder Gabriel ein programmatisches Taschenbuch veröffentlicht: „Linksradikalismus. Gewaltkur gegen die Alterskrankheit des Kommunismus“.[1]
Der Titel spielt auf eine Schrift des russischen Revolutionsführers Lenin an, der im linken Radikalismus eine „Kinderkrankheit“ der kommunistischen Bewegung sah.[2] Gemeint waren damit Strömungen der Arbeiterbewegung, die auf dem Wege einer sozialen Revolution den Kapitalismus überwinden wollten. Also etwa durch (gewerkschaftliche) Strategien der Arbeiterselbstverwaltung. Und nicht durch eine politische Revolution: einer Eroberung der Regierungsmacht oder gar eine ›Diktatur des Proletariats‹. Als radikal galten diese Ansätze dennoch, weil sie eine Umwälzung ›von unten‹ – von den sozialen und kulturellen Wurzeln her – anstrebten: (anarcho-)syndikalistisch oder rätedemokratisch etwa.[3]
In dieser Tradition sahen die Cohn-Bendits die 68er. Etwa wegen ihres partizipatorischen Ansatzes und ihrer alternativen Kultur, mit dem sich die ›Neue Linke‹ vom autoritären Marxismus bolschewistischer Prägung abgrenzte. Dessen Neigung zu Terror und bürokratischer Herrschaft war ihnen, sozusagen, zu extrem – und gleichzeitig nicht radikal genug: ein Antagonismus, der irritieren mag, gelten ›extrem‹ und ›radikal‹ doch nicht gerade als Gegensätze. Mit älteren Bedeutungen des Radikalismus-Begriffs geht das aber konform. Man denke nur an die radikalen Demokraten, die sich 1848/49 zunächst in der Frankfurter Paulskirche, dann auf süddeutschen Schlachtfeldern für eine bürgerliche Selbstverwaltung einsetzten, wie wir sie heute leben.[4]
Wenn der Extremismus den Radikalismus überschreibt
Mit den Begriffen der Radikalisierungsforschung lassen sich derlei Feinheiten nicht bearbeiten. Zwar kennt sie Nebendiskussionen über den Unterschied von Radikalismus und Extremismus, darüber thront aber ein Radikalisierungsbegriff, der ersteren mit letzterem überschreibt. Denn als Radikalisierung gilt v.a. die Hinwendung zum Extremismus.[5] Und das häufig in Relation zur bestehenden Ordnung: Akteure sind dabei nicht an sich extrem, sondern dann, wenn sie in einem starken Gegensatz zum gesellschaftlichen bzw. politischen System stehen – ideell und/oder praktisch. In dieser Deutung werden die frühe NS-Bewegung mit den frühen Demokraten, islamistische Terroristen im Westen mit aufständischen Frauen im Iran auf den gleichen Begriff gebracht.
Zwar ist es in der Wissenschaft legitim, Komplexität zu reduzieren, um gemeinsame Nenner in der Verständigung über einen Forschungsgegenstand zu haben. Doch die Debatte, ob ein solcher Radikalisierungsbegriff, wie er in den 2000er Jahren ahistorisch etabliert wurde, nicht mehr vernebelt als verbindet, steht immer noch aus.[6] Dabei böte ein differenziertes Verständnis von Radikalismus und Extremismus v.a. bei historischen und transnationalen Vergleichen eine Handhabe des folgenden Problems: Radikale oder extremistische Akteurstypen mögen hier im Widerstand sein, aber woanders in der Mitte stehen; mögen einst Bewegung gewesen, später herrschende Ordnung geworden sein.
Immerhin erfordert ein solch differenziertes Verständnis zu bestimmen, was die unterschiedlichen Rationalitäten, die zugrundeliegenden Eigenheiten und Denkweisen, von Radikalismus und Extremismus in ihrem Kern ausmacht. Durch ein solch substantielles Verständnis wird die relationale Perspektive gebrochen, in welcher ein Akteur maßgeblich über sein Verhältnis zum politischen Kontext betrachtet und der Blick auf seine ideologische Substanz verstellt wird. Man bedenke nämlich: Die liberale Demokratie ist historisch und international betrachtet immer noch ein radikales Projekt; und auch: der extremistische Charakter von Akteuren verschwindet nicht einfach, sobald sie die Macht übernehmen. Doch inwiefern hilft nun ein solch substantielles Verständnis speziell bei der Analyse von Gewaltphänomenen?
Radikal, aber nicht gewaltsam – und vice versa
Einig ist man sich in der Radikalisierungsforschung (die vornehmlich Extremisierungsforschung ist) darin, dass Ideen Handlungen maßgeblich beeinflussen. Keiner schießt einfach um sich, wenn ihm zufällig eine Waffe in die Hände fällt. Es braucht eine Interpretation der aktuellen Situation, aus der es opportun erscheint, die Waffe zu nutzen (oder auch nur zu besorgen): Vorstellungen also, die ein Feindbild definieren und politische Emotionen strukturieren. Wer wann in welchem Maße ein legitimes Ziel von Gewalt ist, wird durch entsprechende Frames und Narrative vorgezeichnet.[7] Darüber hinaus ist aber umstritten, ob der Radikalisierungsprozess eher eine Frage von attitude oder von action ist: Inwiefern ist es Einstellungswandel, inwiefern Verhaltensänderung?[8]
Dieses Verhältnis gewichtet und theoretisiert jeder Forscher unterschiedlich. Gleichwohl herrscht Einigkeit, dass radikale Akteure nicht unbedingt Gewalt anwenden. Man hat ja auch historische Beispiele vor Augen. Der historische Anarchismus etwa war zweifellos eine sehr radikale Ideologie. Gleichwohl organisierten sich die Anhänger dieser Form des Linksradikalismus v.a. in Gewerkschaften, die eine Arbeiterselbstverwaltung anstrebten. Zwar gibt es eine Reihe von Gewalttaten, die dem Anarchismus zugerechnet werden, doch handelt es sich bei dieser „ersten Welle des modernen Terrorismus“[9] v.a. um Aktionen einer sektiererischen Spielart desselbigen, verübt von Einzelgängern und Trittbrettfahrern.[10]
Zugleich bestand diese Welle vorwiegend aus gezielten Attentaten; es wurden also konkrete Verantwortungsträger eliminiert, wie etwa 1885 beim Mord an Carl Rumpf, dem Chef der politischen Polizei in Frankfurt am Main.[11] Dieser selektive target mode steht in Kontrast zur kategorischen Gewalt etwa des islamistischen Terrorismus oder des Rechtsterrorismus, wo anonyme Menschen allein wegen ihrer Gruppenzugehörigkeit zur Zielscheibe werden.[12] Der rechtsextreme Anschlag von Hanau 2020 ist dafür ein Beispiel von vielen. Wir sehen also, dass Akteure zuweilen in besonders radikalem Widerspruch zur bestehenden Ordnung stehen und trotzdem keine oder nur begrenzt Gewalt anwenden – und wir sehen Akteure, die besonders gewaltsam sind, im klassischen Sinne aber nicht als radikal gelten können.
Gewaltsamer Radikalismus vs. gewaltsamer Extremismus
Zwei Probleme sind damit angezeigt: Erstens mahnt es uns, gewaltsames Handeln nicht zu sehr an eine radikale Einstellung zu koppeln; und zweitens bekräftigt dies, dass zwischen Einstellungen und politischer Gewalt bzw. ihrer Letalität durchaus ein enger Zusammenhang besteht.[13] Dieser Widerspruch ließe sich durch eine Differenzierung von Radikalismus und Extremismus ein Stück weit auflösen. So ließe sich argumentieren, dass – idealtypisch betrachtet – radikale Ideologien die strukturellen oder kulturellen Wurzeln empfundener Probleme anzugehen versuchen, während extremistische Ideologien dazu tendieren, Personengruppen ins Visier zu nehmen, die jene Probleme vermeintlich verkörpern.[14]
Damit ist nicht gesagt, dass Radikalismus keine Gewalt hervorbringen könne. Er betrachtet die Gewaltfrage aber weniger zugespitzt, da er primär die Verhältnisse für die Abgründe zwischen den Menschen verantwortlich macht. Damit ist ihm ein geringeres Gewaltpotential eingeschrieben als dem Extremismus, der bestimmten Menschengruppen direkt die Verantwortung zurechnet. Das eine bringt ein kompliziertes, weil soziostrukturiertes Feindbild mit sich, das andere ein simplifiziertes, weil auf seine wesentlichen Elemente reduziertes, essentialisiertes Feindbild.[15] Der Radikalismus tendiert daher zu begrenzter und selektiver, der Extremismus zu exzessiver und kategorischer Gewalt.[16] Wann aber schlagen sie überhaupt in Gewalt um?
Der Schritt vom Extremismus in die Gewalt ist relativ naheliegend. Er denkt ›in Extremen‹: einem dichotomen Freund-Feind-Denken, das Menschengruppen unmittelbar als (existentielle) Bedrohung ausmacht; es greift so leicht eine Notwehrlogik.[17] Beim Radikalismus, der ›von den Wurzeln her‹ denkt, bedarf es hingegen eines Umwegs bei der Gewaltlegitimation: Es müssen Menschen mittelbar für die Verhältnisse verantwortlich gemacht werden, weil sie diese als Nutznießer aufrechterhielten oder weil sie Entscheidungen träfen, die Unrecht reproduzierten. Radikalismus und Extremismus mögen zwar gleichsam Formen von Widerstand sein, sie stellen aber unterschiedliche Ausgangspunkte für militante Wege dar.
Unterschiedliche Pfade der Militanz
Insofern politische Gewalt also ganz unterschiedliche Rechtfertigungen haben kann, ist der Weg in die Gewalt als eigenständiger Prozess zu analysieren, der dem Weg in den Radikalismus oder Extremismus nachgelagert ist. Damit trägt man nicht nur dem Problem Rechnung, dass es grundverschiedene Pfade der Militanz gibt, sondern auch dem, dass Radikalismus und Extremismus zwar Bedingungen für politische Gewalt sind, aber nicht automatisch in solcher münden. Die dafür nötige konzeptionelle Klarheit schafft die Unterscheidung zwischen Radikalisierung – also die Hinwendung zu Radikalismus bzw. Extremismus – und Militantisierung: der Hinwendung zu Ideen und Praxen der Gewalt.[18]
Dies ist denn auch nicht als finale Trennung auch von attitude und action zu verstehen, als stünde Radikalisierung für einen Einstellungs- und Militantisierung für einen Verhaltenswandel. Radikalismus und Extremismus lassen sich zwar als Einstellung begreifen, da sie aber handlungsanleitend wirken, sind sie eben auch Teil der Verhaltenserklärung. D.h., sie haben eine kognitive und eine programmatische Dimension: Wie nimmt man die Welt wahr – und wie will man sie bearbeiten? Dabei prägt erstere Dimension die letztere vor. Und die wiederum bedingt das repertoire of action eines Akteurs. Einstellungen beinhalten daher immer eine Schnittstelle zur Praxis und fungieren als Stellschraube in der Gewaltfrage. Andersrum heißt das aber auch: Veränderungen bei Aktionen setzen veränderte Ideen von Aktionen voraus.
Handlungen lassen sich daher nie ohne Einstellungen erklären. Das gilt für den Blick auf Prozesse sowohl der Radikalisierung (wo ja auch nicht-gewaltsame Handlungen etwa für die Protestforschung von Interesse sind) als auch der Militantisierung. Entsprechend wäre unter letzterem Prozess zu verstehen: Die Rationalisierung und/oder Anwendung von politischer Gewalt auf Grundlage einer politischen Einstellungsform. Ein solcher Begriff der Militantisierung zielt also darauf, die militanten Momente in den Ideen und Handlungen eines Akteurs bzw. einer Akteursgruppe zu extrahieren, um die Frage zu bearbeiten, wie speziell die Gewaltfrage im jeweiligen Falle rationalisiert wird und wie sich militante Ideen in militante Handlungen übersetzen.
Kollektive und individuelle Militantisierung
Dass hierfür eine substantielle Unterscheidung von Radikalismus und Extremismus grundlegend ist, mag das Beispiel des Antimilitarismus zeigen: Es gibt (radikale) Antimilitaristen, die streng pazifistisch sind, weil sie gewaltförmige Kulturen als Wurzel des Problems betrachten; und es gibt (extreme) Antimilitaristen, die die Verkörperungen des Problems (z.B. Vertreter des Militärs und Rüstungsunternehmer) als legitime Ziele von Gewalt ansehen. Gleichwohl bleibt es aber eine Herausforderung, (militanten) Radikalismus und Extremismus genau zu bestimmen. Sie dienen als Idealtypen zur analytischen Orientierung; in der Realität können die zugrundeliegenden Eigenschaften schwanken und verschmelzen.
Bereits auf individueller Ebene besteht das Problem, dass Akteure oftmals ambivalente, ja widersprüchliche Einstellungen haben und der Blick auf eine komplexe Realität nicht mal ideologisch konsistent ist. Auf der kollektiven Ebene kommt hinzu, dass die Einstellungen unter den beteiligten Akteuren variieren. Eine Gruppe mag einen ungefähren Konsens haben, die Beteiligten unterscheiden sich aber stets in kognitiver, programmatischer und letztlich auch in praktischer Hinsicht. Zumal eine Gruppe stets im Fluss ist: Aus Ereignissen ziehen die Beteiligten unterschiedliche Schlüsse und Konsequenzen. Und auch die Zusammensetzung der Gruppe verändert sich permanent: Alte scheiden aus, Neue kommen hinzu.
Prozesse der Radikalisierung und Militantisierung sind auf individueller Ebene primär ein psychologisches Problem: was passiert im Kopf von jemandem, wenn er entsprechende Entwicklungen nimmt? Auf kollektiver Ebene ist es primär ein Problem der Diffusion, steht hier doch die Frage nach der Verbreitung von (praktischen) Ideen im Vordergrund.[19] Wenn eine Gruppe extremer und/oder militanter wird, bedeutet dies eben, dass die extremen und/oder militanten Ideen einzelner Mitglieder an Einfluss gewinnen. Und wenn eine ganze Bewegung sich in diese Richtung entwickelt, impliziert das, dass solche Ideen gruppenübergreifend Verbreitung finden. In beiden Fällen übernehmen dabei Einzelne die entsprechenden Ansichten. Deswegen ist der individuelle Prozess sekundär auch ein Diffusionsproblem; so wie der kollektive Prozess sekundär ein psychologisches Problem ist.
Wenn Radikalismus in extremistische Militanz kippt
Ein weiteres Problem auf der kollektiven Ebene stellt der Umstand dar, dass Prozesse gegenläufig sein können. So können sich Teile einer radikalen Bewegung (Einzelne oder Gruppen) militantisieren und andere nicht; es können in einer solchen Bewegung sogar die moderaten Kräfte die Überhand gewinnen, eine (kleine) Minderheit aber ins Militante abrutschen. Möglich ist dabei auch, dass Akteure, die eigentlich in einem radikalen Umfeld eingebettet sind, in den Extremismus kippen. Einzelne (Gruppen) mögen etwa ihr Weltbild aus verschiedenen Ideen zusammenstellen und gleichzeitig am komplexen Anspruch radikalen Denkens scheitern: Es kommt dann zu einer zugespitzten Interpretation der Narrative, die der Bewegung zugrunde liegen.
Derlei Zuspitzungen können radikalen Milieus eine extremistische Färbung geben, einschließlich der Markierung ganzer Personengruppen als Bedrohung und (semi-)kategorischer Gewalt. So zu sehen etwa beim Insurrektionalismus, jener sektiererischen Strömung des Anarchismus, die auf Militanz und Aufstand setzte. Hier führte ein ausgeprägter Radikalismus – u.a. die Ablehnung jeglicher Reformen oder auch Organisationen, weil diese Herrschaft reproduzieren würden – zur programmatischen Zuspitzung, dass die Zustände nur mit Gewalt verändert werden können.[20] Dabei kam es zwar v.a. zu selektiven Attentaten, doch auch Anschläge auf Zusammenkünfte der „herrschenden Klasse“ blieben nicht aus.[21]
Noch deutlicher zeigt sich der Kippmoment im Kontext der Neuen Linken. Im Grunde linksradikal, kam es mit der Übertragung des Klassengedankens auf die Weltsystemebene zu essentialistischen Zuspitzungen: Bürger der Metropole im Allgemeinen und Angehörige des Staatsapparats oder Großkapitals im Besonderen galten als Unterdrücker des Weltproletariats im Trikont (Afrika, Asien und Lateinamerika).[22] Die RAF trat ihren militanten Pfad v.a. über den Umweg dieses frameworks ein. Schon 1968, bei den Frankfurter Kaufhaus-Brandstiftungen, hatten ihre späteren Mitglieder symbolisch angedeutet, die bürgerliche Bevölkerung insgesamt als potentiellen Feind zu betrachten.[23] Eine Welle linksextremer Militanz sollte schließlich folgen.
Radikale Begriffsarbeit (in Maßen)
Die Verflechtung von Einstellung und Handlung bleibt zentrales Problem der Gewaltforschung. Ressourcen und Organisationsformen, soziale Umfelder und transnationale Einbettungen gehören zwar zur Erklärung von Verläufen der Militantisierung dazu. Doch diese Aspekte sind stets mit jenem Problem verkoppelt, da Einstellungen die Wahl der Mittel und der Strukturen anleiten, aber auch zwischen Kontexten und individuellen Ausprägungen vermitteln. Es braucht daher – in Forschung und politischer Bildung – Konzepte, mit denen sich Phänomene politischer Gewalt auf ihre geistigen Wurzeln zurückführen lassen. Eine radikale Begriffsarbeit also, die unter die Oberfläche der üblichen Korrelationen von Ideologie und Gewalt geht.
In vielen Studien sehen wir noch immer eine nur grobe Sortierung ideologischer Gruppen, die Besonderheiten einer jeweiligen ideologischen Struktur außer Acht lässt. Allein der omnipräsente Dualismus von links/rechts verblendet schon, dass etwa Linksradikalismen wie der Anarchismus konträr zu Linksextremismen wie dem Marxismus-Leninismus standen. Letzterer hingegen legte eine Gewaltintensität zu Tage, die der von Rechtsextremismen kaum nachstand. Zu bestimmen, ob die Substanz eines Akteurs eher radikale oder eher extremistische Momente aufweist, verspricht daher nicht nur einen analytischen Mehrwert, sondern bietet auch neue Möglichkeiten des Vergleichs: gerade auch transnational und historisch.
Gleichwohl ist Radikalismus nicht mit Bodenständigkeit zu verwechseln. Eher ist es eine Denke, die leicht den Boden unter den Füßen verliert. Radikale Ideologien neigen zu einem überbordenden Dekonstruktivismus, der sich sozialen Institutionen und/oder bestehenden Normen verschließt. Derlei Akteure sind daher oft instabil: organisatorisch und ideell. Andersrum sind auch extremere Momente nicht gleich zu dämonisieren. Es gibt ein berechtigtes Maß an Vereinfachung und Zuspitzung, also Komplexitätsreduktion, damit eine gemeinsame Realität, diskursive Verständigung und politische Wirkmacht möglich sind. Das gilt nicht zuletzt auch für Wissenschaft und Bildung selbst: Ihre Konzepte schneiden nicht nur Realität; sie verpacken sie auch. Eine radikale Begriffsarbeit kann daher nur in Maßen erfolgen. Am Ende muss immer noch gewährleistet sein, dass man über das Gleiche spricht.
Zum Autor
Holger Marcks ist assoziierter Mitarbeiter der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) in Frankfurt a.M. sowie Research Fellow am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH). Seit 2013 forscht er durchgehend in wissenschaftlichen Projekten zu Radikalisierung, Extremismus und politischer Gewalt. Er ist derzeit Co-Leiter einer Forschungsstelle innerhalb der Bundesarbeitsgemeinschaft „Gegen Hass im Netz“.
Quellenverzeichnis
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[1] Cohn-Bendit, Gabriel und Cohn-Bendit, Daniel: Linksradikalismus. Gewaltkur gegen die Alterskrankheit des Kommunismus, Reinbek b.H. 1968.
[2] Lenin, Wladimir Iljitsch: Der ›linke Radikalismus‹, die Kinderkrankheit im Kommunismus (1920), in: Lenin, Wladimir Iljitsch, Werke, Bd. 30, hgg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU. Ost-Berlin 1959, S. 1–105.
[3] Vgl. dazu auch Bock, Hans Manfred: Geschichte des linken Radikalismus in Deutschland. Ein Versuch. Frankfurt a.M. 1976.
[4] Zum radikalen Charakter der bürgerlichen Demokratiebewegungen siehe exemplarisch Haasis, Hellmut G.: Spuren der Besiegten. Band 2: Von den Erhebungen gegen den Absolutismus bis zu den republikanischen Freischärlern 1848/49. Reinbek b.H. 1984.
[5] Für eine nicht mehr ganz aktuelle, aber systematische Auswertung der Semantiken siehe Schmid, Alex P.: Radicalisation, De-Radicalisation, Counter-Radicalisation. A Conceptual Discussion and Literature Review. ICCT Research Paper. Den Haag 2013.
[6] Radikalisierung wurde schnell zu einem Trendkonzept in der Forschung zu politischer Gewalt nach den islamistischen Anschlägen von Madrid 2004 und London 2005. Hier kamen, anders als bei den Anschlägen in den USA 2001, die Angreifer nicht von außen, sondern wuchsen in der Gesellschaft auf, die sie attackierten. Unter dem Eindruck eines home-grown terrorism wendete sich das Interesse stärker der Frage zu, was jemanden zu politischer Gewalt greifen lässt. Intuitiv wurde dieser Prozess als Radikalisierung bezeichnet. Ein Begriff, der seitdem nicht in Frage gestellt wurde, selbst dort, wo er explizit die Hinwendung zu Extremismus und Gewalt meint. Vgl. dazu Neumann, Peter: Radikalisierung, Deradikalisierung und Extremismus. In: APUZ, Nr. 29–31, Jg. 63, 2013, S. 3–10.
[7] Vgl. dazu Marcks, Holger und Pawelz, Janina: From Myths of Victimhood to Fantasies of Violence. How Far-Right Narratives of Imperilment Work. In: Terrorism & Political Violence, Nr. 7, Jg. 34, 2020, S. 1415–1432.
[8] Vgl. dazu Abay Gaspar, Hande et al.: Was ist Radikalisierung? Präzisierung eines umstrittenen Begriffs. PRIF Report 5/2018. Frankfurt a.M. 2018.
[9] Siehe dazu grundlegend Rapoport, David C. (Hg.): Terrorism. Critical Concepts in Political Science. Volume One: The First or Anarchist Wave. Abingdon & New York 2006.
[10] Siehe Marcks, Holger: Who’s the Criminal? Anarchist Assassinations and the Normative Conflict about Legitimate Violence. In: Karl Härter, Tina Hannappel & Jean Conrad Tyrichter (Hg.): The Transnationalisation of Criminal Law in the Nineteenth and Twentieth Century. Political Crime, Police Cooperation, Security Regimes and Normative Orders. Frankfurt a.M. 2019, S. 99–132.
[11] Siehe Hohmann, Andreas und Dieter, Johannes: Mord im Sachsenlager 5. Die Ermordung des Polizeirat Rumpff im Jahre 1885. Frankfurt a.M. 2001.
[12] Siehe dazu Biene, Janusz; Kaiser, Daniel und Marcks, Holger: Widerstand im Spiegel von Herrschaft. Eine relationale Typologie terroristischer Gewalt. In: Christopher Daase et al. (Hg.), Herrschaft in den Internationalen Beziehungen. Wiesbaden 2017, S. 223–243.
[13] Vgl. etwa Piazza, James A.: Is Islamist Terrorism More Dangerous? An Empirical Study of Group Ideology, Organization, and Goal Structure. In: Terrorism & Political Violence, Nr. 1, Jg. 21, 2009, S. 62–88.
[14] Siehe Marcks, Holger: Radikalismus und Extremismus als konträre Rationalitäten. Eine Radikalisierung des Radikalisierungsbegriffs. In: Behemoth, Nr. 2, Jg. 12, 2019, S. 24–34.
[15] Siehe ebd., S. 29–30. Vgl. auch Biene, Janusz; Kaiser, Daniel und Marcks, Holger: Widerstand im Spiegel von Herrschaft. Eine relationale Typologie terroristischer Gewalt. In: Christopher Daase et al. (Hg.), Herrschaft in den Internationalen Beziehungen. Wiesbaden 2017, S. 234–235.
[16] Siehe dazu grundlegend Goodwin, Jeff: A Theory of Categorical Terrorism. In: Social Forces, Nr. 4, Jg. 84, 2006, S. 2027–2046.
[17] Vgl. dazu Marcks, Holger und Pawelz, Janina: From Myths of Victimhood to Fantasies of Violence. How Far-Right Narratives of Imperilment Work. In: Terrorism & Political Violence, Nr. 7, Jg. 34, 2020, S. 1417–1419.
[18] Siehe dazu Marcks, Holger: Radikalismus und Extremismus als konträre Rationalitäten. Eine Radikalisierung des Radikalisierungsbegriffs. In: Behemoth, Nr. 2, Jg. 12, 2019, S. 30–32.
[19] Vgl. dazu Marcks, Holger et al.: Escalation Through Cooperation. How Transnational Relations Affect Violent Resistance. In: Felix Anderl et al. (Hg.): Rule and Resistance Beyond the Nation State. Contestation, Escalation, Exit. Lanham 2019, S. 179–200.
[20] Siehe van der Walt, Lucien und Schmidt, Michael: Schwarze Flamme. Die revolutionäre Klassenpolitik des Anarchismus und Syndikalismus. Hamburg 2018, S. 164–171.
[21] Siehe Marcks, Holger: Who’s the Criminal? Anarchist Assassinations and the Normative Conflict about Legitimate Violence. In: Karl Härter, Tina Hannappel & Jean Conrad Tyrichter (Hg.): The Transnationalisation of Criminal Law in the Nineteenth and Twentieth Century. Political Crime, Police Cooperation, Security Regimes and Normative Orders. Frankfurt a.M. 2019, S. 116.
[22] Vgl. dazu Kaiser, Daniel und Marcks, Holger: Floating with the Tide. The Formation of the ‚Third Wave‘ and the Influx of American Radicals. In: Alberto Martin Alvarez und Eduardo Rey Tristán (Hg.): Revolutionary Violence and the New Left. Transnational Perspectives. New York 2017, S. 203–222.
[23] Sie richteten sich mitunter gegen die Gleichgültigkeit des Bürgertums gegenüber dem Krieg in Vietnam. Hinein spielte dabei auch eine vulgärmarxistische Essentialisierung der „bürgerlichen Klasse“, die bereits den Marxismus-Leninismus von einer eigentlich radikalen, soziostrukturierten Weltsicht in den Extremismus hat kippen lassen.