Fragen und Antworten zu Protest und Radikalisierung angesichts aktueller Krisen (Stand September 2024)
Finanzcrash, COVID-Pandemie, Klimakrise und ökologische Transformation, die Frage der Zuwanderung, der russische Angriffskrieg in der Ukraine und der Krieg in Gaza, dazu wachsende soziale Nöte: Auch in Deutschland sind die Menschen seit den frühen 2010er Jahren mit Dauerkrisen konfrontiert. Das Sicherheits- und Wohlstandsversprechen, das lange Zeit recht stabil erschien, gerät ins Wanken. Wie Deutschland und die Welt durch diese Krisen kommen, ist noch nicht ausgemacht. Klar ist aber schon jetzt: Die gestiegene Unruhe und Unsicherheit führt zu Ohnmachtsgefühlen, sinkendem Vertrauen in Institutionen und wachsendem Zuspruch zu antidemokratischen Einstellungen. Die in jüngster Zeit in großer Zahl zu beobachtenden Proteste sind Ausdruck dieser Gemengelage und ein Indikator für den Zustand der Gesellschaft.
Als Akteure sind Gewerkschaften und eine Vielzahl sozialer Bewegungen in den Protesten sehr aktiv. In den letzten Jahren ist aber auch zu beobachten, dass von Pegida über Corona-Spaziergänge bis hin zu den Protesten gegen steigende Energiekosten im letztlich doch nicht so „heißen Herbst“ 2022 antidemokratische und rechtsextreme Tendenzen deutlich sichtbar werden und zeitweise in der medialen Berichterstattung die Oberhand gewinnen. Protest ist legitim und vom Grundgesetz geschützt, dennoch sind Demokratie und gesellschaftlicher Zusammenhalt grundlegend herausgefordert:
Was wissen wir über die aktuellen Polarisierungs- und Stabilisierungstendenzen in unserer Gesellschaft? Wo verlaufen die Grenzen zwischen legitimem Protest und zweifelhafter Mobilisierung durch extremistische Gruppen? Wie viel Radikalität ist wichtig für unsere Gesellschaft und was wissen wir über Radikalisierungsprozesse? Welche Rolle spielen in diesen Dynamiken soziale Medien? Wie ist es um Bemühungen der Prävention, der Demokratieförderung und politischen Bildung in Deutschland bestellt?
In Zusammenarbeit mit Expertinnen und Experten des Leibniz-Instituts für Friedens- und Konfliktforschung (PRIF), Dr. Hande Abay Gaspar, Prof. Dr. Julian Junk und Dr. Daniel Mullis, hat die HLZ an dieser Stelle Antworten auf diese Fragen zusammengestellt. Die Antworten nehmen zwar Bezug auf aktuelle Ereignisse, fokussieren sich aber auf eine Aufbereitung breiteren sozialwissenschaftlichen Wissens, um eine Hilfestellung bei der Meinungsbildung und einen Einstieg in komplexe sozialwissenschaftliche Zusammenhänge zu ermöglichen.
Für Rückfragen zu den Texten wenden Sie sich bitte an Robert Wolff (robert.wolff@hlz.hessen.de).
Wie steht es um den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland?
Seit Beginn der 2010er Jahre wird im öffentlichen Diskurs die Sorge um den schwindenden Zusammenhalt in der Gesellschaft geäußert. In der Forschung wird der Grad des Zusammenhalts häufig an seiner Kehrseite gemessen, nämlich an der Spaltung bzw. Polarisierung einer Gesellschaft oder an der Zunahme antidemokratischer Einstellungen und der Erosion der gesellschaftlichen Mitte. Bei der Interpretation dieser Tendenzen gibt es jedoch widersprüchliche Einschätzungen und Befunde.
So geht der im November 2023 erschienene Zusammenhaltsbericht des Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) der Frage nach, wie stark in Deutschland soziale Gruppen sich in „Blasen”, also in „homogenen sozialen Netzwerken” bewegen und wie sich dies auf den Zusammenhalt auswirkt. Die Ergebnisse zeigen: Die politische Zusammensetzung sozialer Netzwerke wirkt von allen Merkmalen am stärksten polarisierend (dies gilt insbesondere zwischen Grünen- und AfD-Anhängerinnen und -Anhängern), sozioökonomische Netzwerksmerkmale sind indes vor allem für alltägliche Erfahrungen des Zusammenhalts relevant, während regionale Merkmale für grundlegende Werthaltungen prägend sind. Die kulturelle Zusammensetzung der sozialen Blasen wirkt sich hingegen nur begrenzt auf den Zusammenhalt aus. Die Forschenden kommen zum Fazit, dass zwar die „deutsche Gesellschaft [...] weit davon entfernt [ist], in vollständig separierte ‚Blasen‘ gespalten zu sein”, es dennoch „klare Tendenz zur Segregation gibt”.
Auch laut der Pilotstudie des Task Force FGZ-Datenzentrums scheint es eine kulturelle und politische Spaltung der Gesellschaft entlang diverser Konfliktlinien wie Migration, das Vertrauen in staatliche und gesellschaftliche Institutionen, Geschlechterrollen oder auch dem Klimawandel zu geben. Andere Forschende widersprechen der umfassenden Polarisierungsthese deutlich und argumentieren, dass nicht Konflikte oder soziale Unterschiede per se, sondern die Politisierung der Konfliktthemen – sogenannte Triggerpunkte –, etwa durch Rechtspopulisten oder Verschwörungstheoretikerinnen, zur Entwicklung negativer Gefühle gegenüber Menschen mit anderen Ansichten beitragen. Sicherlich kann davon ausgegangen werden, dass Polarisierung und die Emotionalisierung von Konfliktthemen sich gegenseitig bedingen.
Die Spaltung bzw. Polarisierung der Gesellschaft wird häufig auf Krisenerfahrungen zurückgeführt. Die zugrundeliegende Annahme ist, dass sich in Krisenzeiten die Gräben zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen vertiefen, was den Zusammenhalt gefährdet. Es gibt aber auch die Gegenthese, dass gerade in Krisenzeiten der gesellschaftliche Zusammenhalt gestärkt werden kann, weil etwa die Solidarität mit von der Krise besonders Betroffenen steigt (vgl. z. B. Münkler & Wassermann 2008; Röbke 2018). Beispielhaft hierfür sind die Solidaritätsbekundungen für das Gesundheitspersonal in den Anfängen der Corona-Pandemie. In diesem Sinne stellt die Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) von 2023 fest, dass Krisen sowohl zu einer „Schließung“ als auch zu einer „Öffnung“ und damit zu einem stärkeren „Zusammenhalt“ von Gesellschaften führen können.
Nicht nur in Bezug auf die Polarisierungsthese, sondern auch bei der Einschätzung, wie es um die gesellschaftliche Mitte und um antidemokratische Einstellungen steht, finden sich widersprüchliche Einschätzungen. Die Leipziger Autoritarismus-Studien der Heinrich-Böll-Stiftung dokumentieren bereits mindestens seit 2016 gleichermaßen eine Stabilisierung demokratischer Milieus, aber eben auch eine Radikalisierung der antidemokratisch-autoritären Milieus. So geht aus der aktuellsten Veröffentlichung von 2022 hervor, dass die Zahl der Personen mit einem geschlossen rechtsextremem Weltbild zwar abnimmt, sich gleichzeitig jedoch extremistische Milieus verfestigen sowie ausländerfeindliche Einstellungen weiterhin auf hohem Niveau verharren – in Ostdeutschland sogar leicht angestiegen sind.
Auch laut dem ARD-DeutschlandTrend extra haben trotz steigender AfD-Wählerschaft ausgeprägt rechte oder rechtsextreme Einstellungen seit 2016 nicht zugenommen (Stand September 2023). Dementgegen kommt die Mitte-Studie zum Ergebnis, dass „der Anteil von Befragten [...] mit klar rechtsextremer Orientierung [...] erheblich angestiegen ist und dass der Graubereich zwischen Ablehnung und Zustimmung zu den rechtsextremen Einstellungen [...] jeweils deutlich größer geworden” ist und somit „eine Normalisierung rechtsextremer Einstellungen in der Bevölkerung” festzustellen ist. Ähnlich wie bei der Polarisierungsannahme herrschen somit auch bei der Einschätzung der gesellschaftlichen Mitte keine eindeutigen Befunde, weshalb es notwendig ist, den Blick zu erweitern.
Wie hoch ist das Vertrauen in die Demokratie und in demokratische Prozesse?
Bei der Einschätzung des Zusammenhalts lohnt es sich, die Einstellung der Gesellschaft zur Demokratie näher zu betrachten; nicht nur, weil Demokratie Zusammenhalt erzeugt und der Zuspruch zu und das Vertrauen in Demokratie somit wichtige Gradmesser für das demokratische Miteinander sind, sondern auch, weil bei den Protesten gegen Rechtsextremismus im Frühjahr 2024 sich Demokratie als zentraler Angelpunkt erweist. Betrachten wir das Vertrauen der Deutschen in die Demokratie, so zeichnet sich ein eindeutiges Bild ab: Laut der oben genannten Mitte-Studie ist das Vertrauen in die Institutionen und das Funktionieren der Demokratie auf unter 60 % gesunken. Auch der ARD-DeutschlandTREND zeigt: Bereits Ende 2022 konnte bei nur bei 51 % der Bundesbürgerinnen und -bürger eine Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie in Deutschland festgestellt werden, und immer wieder wird in Umfragen sichtbar, dass in der Bevölkerung die Unzufriedenheit mit der Arbeit der Ampelkoalition und mit dem Bundeskanzler auf ein „Rekordtief” gesunken ist oder auf tiefem Niveau verharren. Die Gründe für die wachsende Unzufriedenheit und Besorgnis sind vielfältig. Genannt werden Themen wie Zuwanderung, Klimawandel, soziale Ungleichheit, Wirtschaft, Inflation sowie bewaffnete Konflikte. Welches dieser Themen jeweils dominiert, hängt aber auch von den aktuellen medialen und politischen Debatten ab und ist daher starken Schwankungen unterworfen.
Trotz dieses Unbehagens besteht mit 88 % offensichtlich aber weiterhin ein hohes Grundvertrauen in die Demokratie (Stand Oktober 2022). Ein ähnliches Ergebnis zeigen auch neuere Studien: So zeigt eine Umfrage im Auftrag der Körber-Stiftung vom Sommer 2023, dass „obwohl demokratische Grundwerte wie Freiheit, Gleichheit, Meinungsfreiheit und faire Wahlen für über 90 Prozent der deutschen Bevölkerung von hoher Bedeutung sind”, ein deutlicher „Rückgang des Vertrauens in die deutsche Demokratie selbst” und in ihre Institutionen und Akteure zu verzeichnen ist (54 % der Befragten). Auch eine Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigt, dass zwar weiterhin die Mehrheit der Bevölkerung mit dem Funktionieren der Demokratie unzufrieden ist, dennoch die Demokratie in Deutschland als „robust” einzuschätzen sei. Beide letztgenannten Umfragen zeigen zudem, dass die Demokratiezufriedenheit und –vertrauen insbesondere zwischen Ost und West sowie nach sozialer Lage stark variieren.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt durch die Pluralisierung von Einstellungen und die Diversifizierung von Gruppen sowie durch verschiedene Konfliktthemen und Krisen herausgefordert wird. Auch wenn sich weiterhin keine eindeutige Polarisierung in zwei verfeindete Lager feststellen lässt, deuten Studien dennoch auf tiefgreifende Spaltungstendenzen innerhalb der Gesellschaft einzelner Themen hin. Hinsichtlich des Demokratievertrauens besteht zwar Unzufriedenheit mit dem Funktionieren der deutschen Demokratie, nicht aber mit der Demokratie an sich.
Was ist Protest und welche Rolle spielt er in einer demokratischen Gesellschaft?
Protest ist eine Handlung, die etwas in Frage stellt, einen Widerspruch formuliert und dabei nicht selten auch eine Alternative vorschlägt. Es geht darum, so Verta Taylor und Nella van Dyke, „Veränderungen in institutionalisierten Machtverhältnissen anzustreben oder diese zu verhindern“. Protest entspringt aus der Gesellschaft und hat ihre Veränderung zum Ziel. Er ist immer sowohl Reaktion auf etwas als auch ein wirklichkeitsstiftendes Phänomen, in dem Protest eben nicht nur widerspricht, sondern auch Angebote verbreitet, wie eine Krise, ein Konflikt, eine politische Situation zu deuten ist. Protest ist also nie nur Reaktion, sondern immer auch Aktion.
Es gibt sehr unterschiedliche Formen von Protest. Er kann spontan sein; bisweilen ist er langfristig und kontinuierlich. Protest kann unter Beteiligung sehr vieler Menschen laut sein, aber auch still von einzelnen Individuen vorgetragen werden. Protestiert wird auf Demonstrationen, mittels Streiks oder durch individuelle Aktionen im öffentlichen Raum, in sozialen Medien, mittels Unterschriftensammlungen oder durch parlamentarische Interventionen der Opposition. Im Protestgeschehen werden die Grenzen des rechtlich Zulässigen bisweilen überschritten. Etwa dann, wenn es zu Gewalt kommt oder volksverhetzende Aussagen getroffen werden.
In wissenschaftlichen Arbeiten wird immer wieder betont, dass Ziviler Ungehorsam, etwa in der Form von Blockaden von Straßen durch Menschen, rechtlich zwar unzulässig, aber in einem gewissen Rahmen gesellschaftlich legitim sein kann. Letzteres gelte insbesondere dann, wenn der Ungehorsam demokratische Grundwerte achtet. Plädiert wird zudem dafür, dass auch Protestereignisse, die wie Riots klar gewaltförmig sind, nicht per se als Rowdytum entpolitisiert werden dürfen und sie in einem gesellschaftlichen Zusammenhang gedeutet werden müssen.
Was hat Protest mit Demokratie zu tun?
Protest gehört zur demokratischen Gesellschaft. In der Bundesrepublik Deutschland ist die Möglichkeit zum Protest durch das Grundgesetz garantiert. Zum einen durch Artikel 5, der jedem die freie Meinungsäußerung garantiert. Zum anderen durch Artikel 8, in dem das Versammlungsrecht verankert ist. Protest ist eine Möglichkeit, sich unmittelbar politisch zu äußern und einzubringen und gleichzeitig die Entscheidungsträger zum Handeln in eine bestimmte Richtung aufzufordern.
Auf jeden Fall gehört der öffentliche Widerspruch zur demokratischen Auseinandersetzung – er ist unerlässlich für die Willensbildung und den produktiven Streit über Normen, Regeln und die gemeinsame Zukunft. Medien kommen, so Donatella della Porta und Mario Diani, als Organe, die Aktionen verbreiten und bisweilen auch einordnen, eine wichtige Rolle zu. Sie sorgen für die Vermittlung und Breitenwirkung.
Eng verbunden mit dem Protestgeschehen sind soziale Bewegungen. Roland Roth und Dieter Rucht betonen, dass Protest von sozialen Bewegungen organisiert und ggf. durch sie verstetigt wird. Dabei wird von Bewegungen gesprochen, „wenn ein Netzwerk von Gruppen und Organisationen, gestützt auf eine kollektive Identität, eine gewisse Kontinuität des Protestgeschehens sichert“. Die Bundesrepublik gilt heute, so die beiden, „mit einigem Recht als Bewegungsgesellschaft“. Lange Zeit bestimmten linke soziale Bewegungen Geschehen und Debatten. Seit geraumer Zeit spielen jedoch auch rechte soziale Bewegungen – wie etwa Pegida oder „Querdenken“ – eine wichtige Rolle.
Wie wird in Zeiten von Krisen in Deutschland protestiert?
Es sind unruhige Zeiten. Die Menschen in Deutschland sind verunsichert, machen sich Sorgen um die Zukunft, fühlen sich einsam und politisch nicht gehört. Die Jahre seit der Finanzkrise 2008 und der darauf folgenden europäischen Schuldenkrise waren geprägt von unzähligen weiteren krisenhaften Ereignissen, die wesentlich zum Gefühl der Unsicherheit beigetragen haben: Ab 2015 waren es zunächst die hitzigen Migrationsdebatten, 2020/22 die Corona-Pandemie – die offiziell erst im April 2023 mit dem Ende aller Schutzmaßnahmen als überwunden galt, im Alltag aber schon früher in den Hintergrund trat –, dann der Krieg in der Ukraine und in Gaza. Dazu kommen die hohe Inflation und vor allem die steigenden Energiepreise und über allem die Frage: Wie gehen wir mit dem Klimawandel um? Es waren auch Jahre des Protestes, wovon bis zu den Massendemonstrationen im Frühjahr 2024 für Demokratie und gegen Rechtsextremismus primär die extreme Rechte profitiert hatte.
Protestgeschehen rechts
Mit den wöchentlichen Demonstrationen von Pegida, den „Patriotischen Europäern gegen die Islamisierung des Abendlandes“, in Dresden war bereits im Herbst 2014 zu beobachten, dass sich eine wichtige Schnittstelle zwischen der extremen Rechten und der sogenannten Mitte der Gesellschaft etabliert hatte. Die Proteste waren von Anfang an fremdenfeindlich und machten in der Gesellschaft vorhandene rassistische Ressentiments sichtbar. Auf den Kundgebungen traten immer wieder Aktive der AfD und anderer rechtsautoritärer Organisationen auf. Die Proteste bildeten zwar Ableger in anderen Teilen der Republik, blieben aber im Wesentlichen ein lokales Phänomen.
An vielen Orten Ostdeutschlands gingen die Proteste von Pegida 2015/16 mit Aktionen gegen die ankommenden Flüchtlinge einher: Immer wieder kam es zu schweren Ausschreitungen vor Flüchtlingsunterkünften. Die Gewalt beschränkte sich jedoch keineswegs auf den Osten und so kam es im ganzen Land zu einer Vielzahl an Brandstiftungen an Infrastruktur für Geflüchtete. Zahlen des Bundesministeriums des Innern belegen für 2016, dass seit Beginn der Zählung 2001 noch nie so viele rechte Straftaten erfasst worden waren. Die extreme Rechte hatte mit der Migration ein Thema gefunden, um das sie mobilisieren konnte.
Dies zeigte sich auch im Herbst 2018, als es in Chemnitz zu tagelangen Ausschreitungen kam. In der Nacht vom 25. auf den 26. August war es zu einer tödlichen Auseinandersetzung gekommen. Der später verurteilte Täter war als Asylbewerber nach Deutschland gekommen. An den Demonstrationen beteiligten sich Menschen aus Chemnitz, aber auch bundesweit angereiste Anhänger der extremen Rechten und der AfD. Matthias Quent betont rückblickend, dass die Ereignisse für die Akteure ein „Erweckungserlebnis“ gewesen seien. Man habe den Eindruck gehabt, „jetzt beginnt der nationale Aufbruch, das war das, was die Leute nicht nur im Internet geschrieben, sondern auch gefühlt und nach außen getragen haben“.
Während der Pandemie gingen 2020/22 im ganzen Land erneut zehntausende auf die Straße und wiederum etablierten sich Netzwerke und Strukturen, in denen ‚normale‘ Bürger mit der extremen Rechten zusammenkamen und wiederum eskalierte die Gewalt, wie die Zahlen des Bundesministeriums des Inneren und für Heimat belegen. Diesmal richteten sich die Demonstrationen mit bis zu 300.000 Demonstrierenden im ganzen Land gegen die Corona-Schutzmaßnahmen, die als übertriebene Einschränkung der individuellen Freiheit und staatliche Anmaßung abgelehnt wurden. Auf der Straße trafen sich Friedensaktivisten, ehemalige DDR-Bürgerrechtler, Hippies und Ökos, rechte Reichsbürger, militante Neonazis und AfD-Abgeordnete. Insgesamt waren diese Demonstrationen von allerlei Verschwörungsideologien geprägt.
Im Herbst 2022 gingen die Proteste nahtlos in den „heißen Herbst“ über. Ganz so heiß mit Unruhen und massenhaften Ausschreitungen, wie von einigen befürchtet, wurde er nicht. Dennoch protestierten an unzähligen Veranstaltungen insgesamt über mehrere Wochen jeweils mehr als 100.000 Menschen. Inhaltlich ging es vordergründig um die Energiekrise und die deutsche Unterstützung für die Ukraine. Beobachterinnen und Beobachter berichten aber auch von extremeren Tönen und dass „offen zum Systemwechsel oder Systemumsturz aufgerufen“ wurde.
Inhaltlich aufschlussreich ist ein 10-Punkte-Programm, das Anfang Oktober 2022 in Thüringen in Chatgruppen verbreitet wurde. Darin wird ein Ende der Sanktionen gegen Russland sowie die Wiedereröffnung der Gaspipeline Nord Stream 2 gefordert. Zudem soll die Zensur in sozialen Medien beendet, die vermeintliche Ausgrenzung von Ungeimpften beendet, die GEZ-Gebühren abgeschafft und die „Masseneinwanderung“ gestoppt werden. In Teilen der rechtsextremen Szene hofft man regelrecht auf eine Verschärfung der Krise: Am Tag X sollte im allgemeinen Chaos die Macht ergriffen werden. Beobachterinnen und Beobachter sahen daher eine wachsende Gefahr der „Formierung einer faschistischen Bewegung auf der Straße“.
Es zeigte sich über die Jahre eine sich von Mobilisierung zu Mobilisierung drehende Spirale, in der sich rechtsextreme Netzwerke und Strukturen etablierten, Terrorzellen organisierten und die Gewalt gegen Journalistinnen und Journalisten, Schwarze Menschen, Menschen muslimischen oder jüdischen Glaubens und Personen, die sich den Rechten entgegenstellten, auch tödlich eskalierte. Netzwerke und Strukturen konnten immer wieder aktiviert werden. Dies zeigte sich auch bei den Bauernprotesten im Januar 2024, als rechtsextreme Strukturen erneut in Erscheinung traten.
Protestierende wandten sich dabei wie schon zu Zeiten von Corona direkt an vermeintlich schuldige Politiker. Offene Anfeindungen, Hass im Internet, Demonstrationen an Wohnorten von Politikern sowie immer öfter auch offene Gewalt gegen demokratischen Repräsentanten und Parteien nahm gerade im Wahlkampf für die Europawahl im Mai 2024 deutlich zu. Von den Übergriffen sind Mitglieder aller Parteien betroffen – bis 2021 besonders häufig die AfD. Danach richteten sie sich zunehmend gegen die Grünen. Nach vorläufigen Zahlen war die AfD im Jahr 2023 von 478 Angriffen betroffen, die Grünen hingegen von 1.219. Zusammenfassend heißt es bei der Amadeu-Antonio-Stiftung, dass insgesamt „2.312 Angriffe auf Politiker*innen der demokratischen Parteien verübt wurden, fast fünfmal so viele wie auf Rechtsextreme„.
Selbstverständlich sind die Anliegen der genannten Proteste nicht allesamt rechtsmotiviert. Dennoch stellt die mangelnde Distanzierung der Menschen auf den Demonstrationen von rechten Akteuren ein Problem dar, unter anderem deshalb, weil dadurch Rechtsaußen die Massenproteste für ihre Ziele vereinnahmen und als Erfolg für ihre Sache verbuchen konnte. Heike Kleffner und Matthias Meisner stellten beispielsweise für die Proteste gegen die behördlichen Corona-Schutzmaßnahmen in den Jahren 2020/22 fest, dass die an den Protesten beteiligten Menschen vielfach zumindest den nötigen Mindestabstand zur extremen Rechten vermissen ließen. Sie beschreiben damit eine wichtige Kontinuität des Protestgeschehens in der Bundesrepublik der letzten Jahre. Daneben ist ein weiteres Merkmal der Ereignisse, so lässt sich mit David Begrich bilanzieren, dass die „polizeiliche Einsatztaktik“ oft eindeutig hinter ihren operativen Handlungsmöglichkeiten zurückblieb und die regressiven Proteste damit viel Bewegungsspielraum ließen.
Progressives Protestgeschehen
Parallel zu diesen Entwicklungen auf der rechten Seite waren progressive Mobilsierungen, die auf soziale Gerechtigkeit, politische Teilhabe und gesellschaftliche Pluralität abzielen, durchaus präsent. Insbesondere zu nennen sind die Proteste für Klimagerechtigkeit und eine konsequente Klimapolitik auf der Grundlage der Beschlüsse von Paris. Auf der UN-Klimakonferenz haben sich die Staaten der Welt im Dezember 2015 darauf geeinigt, die Erderwärmung auf „deutlich unter“ 2 Grad Celsius zu begrenzen und möglichst 1,5 Grad Celsius nicht zu überschreiten.
Die ersten Proteste der neuen und vor allem jungen Klimabewegung fanden, organisiert von der Protestgruppe „Ende Gelände“, 2015 am Braunkohletagebau Garzweiler statt. Die Aktionen wurden jährlich an wechselnden Orten wiederholt. Mit zivilem Ungehorsam wurde versucht, in die Produktionsabläufe einzugreifen und ein symbolisches Zeichen zu setzen. Im Frühjahr 2019 schlossen sich auch in Deutschland vor allem Schülerinnen und Schüler den weltweiten Protesten von Fridays for Future an. Sie bestreikten jeden Freitag die Schule und organisierten mehrere weltweite Klimastreiks. Zu den größten Demonstrationen mit weltweit rund 4 Millionen Teilnehmenden kam es kurz vor der Pandemie im Herbst 2019. Während der Corona-Pandemie hatte es die Bewegung indes schwer, sich Gehör zu verschaffen. Die Medien konzentrierten sich auf Gesundheitsfragen und die oben beschriebenen rechtsoffenen Proteste.
Das Hochwasser im Ahrtal im Juli 2021 sowie der Dürresommer 2022 in ganz Europa, verbunden mit den deutlichen Warnungen der UN vor einer drohenden Klimakatastrophe, brachten das Thema Klimawandel nach der Pandemie wieder auf die Tagesordnung. Aber auch Proteste spielten eine wichtige Rolle. Die Besetzungen und auch polizeilichen Auseinandersetzungen rund um den Hambacher Forst, den Dannenröder Forst (Dezember 2020) und den Weiler Lützerath (Januar 2023) schürten die Aufmerksamkeit für den Klimaprotest. Besonders kontrovers wurden die Aktionen der Aktivisten des Aufstands der Letzten Generation diskutiert. Sie attackierten zunächst berühmte Gemälde und Bauwerke mit Farbe und gingen dann dazu über, sich auf Straßen zu kleben. In vereinzelten Fällen blockierten sie Flughäfen.
Die politischen Reaktionen waren heftig, vor allem von konservativer Seite, aber nicht nur. Von „Klimaterroristen“ (Unwort des Jahres 2022) oder der Bildung einer „Klima-RAF“ (Alexander Dobrindt) war die Rede. Die Aktiven seien ein „ernstzunehmendes Sicherheitsrisiko“ (Paul Ziemiak), auf das man am besten mit Wegsperren reagiere. Was verfassungsrechtlich problematisch klingt, wurde in Bayern auf der Grundlage des Polizeiaufgabengesetzes tatsächlich praktiziert: Ohne Verurteilung wurden Protestierende, die sich auf Straßen festgeklebt hatten, tagelang in Präventivgewahrsam genommen, um weitere Aktionen zu verhindern. Die letzte Generation sah sich schließlich sogar mit dem Vorwurf der Bildung einer kriminellen Vereinigung konfrontiert.
Massendemonstrationen für Demokratie und gegen Rechtsextremismus?
Im Frühjahr 2024 gingen für fast alle Kommentierenden unerwartet insgesamt rund fünf Millionen Menschen für Demokratie und gegen Rechtsextremismus auf die Straße. Stetig steigende Umfragewerte der AfD, die reale Option, dass die Partei in einem der ostdeutschen Bundesländer an die Macht kommen könnte und zuletzt die Recherchen von Correctiv, die Mitte Januar aufdeckten, dass auch AfD-Mitglieder im November 2022 an einem nicht-öffentlichen Treffen in Potsdam mit anderen radikalen Rechten teilgenommen hatten, trieben die Menschen auf die Straße. Gegenstand des Treffens war die Diskussion eines „Masterplans“ zur „Remigration“, der nichts anderes als die massenhafte Vertreibung von Menschen aus Deutschland zum Ziel hat, die ihnen als nicht Deutsch genug gelten.
Dabei sind die Proteste gegen Rechtsextremismus und Rassismus kein neues Phänomen. Protestiert wurde auch in der Vergangenheit schon bei Parteitagen rechtsextremer Parteien, Menschen widersetzten sich den Demonstrationen von Pegida und Querdenken, das breit aufgestellte Bündnis Unteilbar mobilisierte 2018 nach den Ereignissen in Chemnitz eine Viertelmillion Menschen nach Berlin, die Seebrücke-Bewegung organisierte bundesweit Demonstrationen gegen die deutsche und europäische Migrationspolitik und im Sommer 2020 versammelten sich noch unter dem Eindruck des rechten Terrors von Hanau in ganz Deutschland zehntausende bei Black Lives Matter-Demonstrationen.
Die Proteste für Demokratie, gegen Rassismus und Rechtsextremismus sind die bisher größten Demonstration in Ost- und Westdeutschland seit Jahrzehnten: Überall in der Republik, in Stadt und Land versammeln sich die Menschen. Die Proteste folgen auf eine zehnjährige Phase des kontinuierlichen Erstarkens der extremen Rechten und insbesondere der AfD und machen deutlich: Die Demokratie ist nicht verhandelbar. Gleichzeitig ist der Impact der Proteste noch nicht absehbar und es dürfte Jahre dauern, die gewachsenen rechtsextremen Strukturen wieder einzudämmen.
Wie schließen extremistische Gruppierungen an gesellschaftlichen Krisen und Polarisierungsdiskursen an?
Politische Krisen, deren Auswirkungen und die Diskurse um sie herum berühren alle Mitglieder der Gesellschaft. Der in der Frage zuvor skizzierte Protest kann dabei als Seismograph dafür gelten, wo in der Gesellschaft der Schuh drückt. Nicht verwunderlich ist dabei, dass auch bereits radikalisierte und insbesondere rechtsextreme Akteure gegenwärtige gesellschaftliche Konfliktthemen mitgestalten und sie mit dem Ziel der Spaltung der Gesellschaft forcieren.
Festzustellen ist zugleich aber auch eine Verschärfung im staatlichen Umgang mit diesen Tendenzen. Im politischen, medialen und öffentlichen Diskurs bedienen sich auch demokratische Akteure in ihren Reaktionen auf radikale und extreme Gruppierungen teilweise einer spaltenden Praxis, wodurch die Themen politisiert, Konflikte zugespitzt sowie Debatten verschärft werden können und es zeichnet sich gerade im Umgang mit den Protesten fürs Klima auch eine zunehmend harte polizeiliche und juristische Gangart ab. Und dies obwohl sich eigentlich fast alle einig darin sind, dass die größte Gefahr für die Demokratie heute von der extremen Rechten ausgeht.
Welche Themen werden aufgegriffen?
Der Blick auf die extreme Rechte zeigt, dass sie bestehende Konflikte und Krisen für sich zu nutzen versucht und dabei jeweils eigene Deutungsangebote formuliert, wie die Situationen zu verstehen und zu lösen sind. Ein zentrales Thema ist Migration, wobei den Menschen eine homogenere Gesellschaft in Aussicht gestellt wird, die mehr Ruhe und Ordnung verspreche. Ein anderes zentrales Muster, das gerade in den Corona-Protesten sowie im „heißen Herbst” zu beobachten war, ist die Formulierung eines fundamentalen Widerspruchs zwischen den Interessen des ‘Volkes, hier unten’ und den regierenden ‘Eliten, da oben’. Die Verschränkung drückt sich nicht in der bloßen Gleichzeitigkeit, sondern vor allem in der konspirativen Verknüpfung der Themen aus. So wurde beispielsweise das Coronavirus auf rechtsextremen Facebook-Profilen als „ausländisches” Virus dargestellt und über die Vergiftung der Bevölkerung durch Impfstoffe diskutiert. Gleichzeitig begrüßten einige Profile von Parteimitgliedern rechtsradikaler Parteien das Coronavirus, weil es angeblich für Frauen und „Ausländer” besonders tödlich wäre. Ebenfalls sind Verschränkungen mit dem Thema des Klimawandels erkennbar, oft mit antisemitischen Argumenten: So behaupten beispielsweise einige rechtsextreme Befürworter einer „völkischen“ Klimapolitik, dass mächtige Teile der „Hochfinanz“ mit Argumenten von Klima- und Pandemiepolitik einen Krieg gegen die nationale Realökonomie führen.
Sind die Themen einmal identifiziert, zeigen sich auch in der konkreten Auseinandersetzung mit diesen wiederkehrenden Umgangsstrategien. So findet häufig eine Einordnung in bestehende Narrative wie Bedrohungs-, Opfer- und Verteidigungsnarrative, eine Emotionalisierung von Inhalten oder eine Verschärfung und Zuspitzung der eigenen extremistischen Ideologie statt.
Welche Sündenböcke und Feindbilder werden konstruiert?
Die Problemadressierung erfolgt durch die Konstruktion von Sündenböcken und Feindbildern. Häufig werden abstrakte, oftmals antisemitisch konnotierte Feindbilder wie die „globale Elite“, „Strippenzieher“, „Hintermänner“ oder „Gelddynastien“ identifiziert. Konkrete Feindbilder sind hingegen ausländische und migrierte Menschen, jüdische Menschen, Israel, Beamte und Beamtinnen, Polizisten und Polizistinnen, die Bundesregierung oder im Kontext der Migrationspolitik häufig auch die „Deutschlandhasser“ und die „Asyllobby“, die, „gegen die verhassten Deutschen“ agiere. Die unterbreiteten Lösungsstrategien reichen sodann von der Delegitimierung demokratischen staatlichen Handelns, der Vereinnahmung legitimer Proteste, Aufruf zum Widerstand oder zur Selbstjustiz bis hin zur Gewaltlegitimierung und Gewaltaufrufen – wie beispielsweise zunehmend gegenüber Amts- und Mandatsträgern (siehe oben).
Wie lässt sich die Instrumentalisierung von Konflikten durch extremistische Akteure erklären und welche möglichen Konsequenzen folgen daraus?
Die Instrumentalisierung gegenwärtiger Konflikte und Krisen durch extremistische Akteurinnen und Akteure – wie sie neben rechtsextremen auch in islamistischen oder in (militant) linksextremen Kreisen beobachtbar ist – lässt sich unter anderem dadurch erklären, dass extremistische Narrative gerade in Krisenzeiten, in denen das Gefühl der Unsicherheit weit verbreitet ist, attraktiv wirken. Soziopolitische Missstände und gesellschaftliche Spannungsverhältnisse, Diskriminierung und Benachteiligung gesellschaftlicher Minderheiten oder auch die individuelle Suche nach Orientierung, Identität und Anerkennung können als sogenannte Push-Faktoren fungieren. Im Gegenzug kann dann die Simplifizierung komplexer Verhältnisse, die Einordnung in ein Schwarz-Weiß-Denken, die Unterbreitung einfacher Antworten oder auch die Darbietung einer kollektiven Identität und Zugehörigkeit als Pull-Faktoren für die Anschließung an extremistische Gruppierungen wirken.
Mögliche Konsequenzen einer Verbreitung, Aneignung oder gar Normalisierung extremistischer Narrative sind die Zunahme gesellschaftlicher Polarisierung, die Etablierung von Feindbildern und damit einhergehende Verstärkung von Ressentiments, Antisemitismus, Rassismus, Hass und Menschenfeindlichkeit, aber auch eine gesteigerte Demokratieskepsis und gesteigertes Institutionsmisstrauen.
Doch auch die unreflektierte Rahmung und Markierung von vermeintlich extremistischen Tendenzen und Gruppierungen im Zuge von wissenschaftlichen, medialen und öffentlichen Diskursen kann wiederum Radikalisierung und Polarisierung vorantreiben. Es ist daher von großer Bedeutung, auf der einen Seite legitime Kritik und legitimen Protest in Bezug auf gesellschaftliche Entwicklungen nicht voreilig zu diskreditieren sowie Möglichkeiten zu politischen Partizipation zu schaffen – auch wenn diese (auch) von extremistischen Personen aufgegriffen oder unterwandert werden – und auf der anderen Seite antidemokratischen und menschenverachtenden Einstellungen gegenüber Sensibilität zu bewahren und klare Grenzen zu ziehen.
Wie unterscheiden sich Radikalisierung und Extremismus?
Der Begriff der Radikalisierung ist in den vergangenen Jahren immer stärker ins Zentrum der medialen und wissenschaftlichen Aufmerksamkeit gerückt. Häufig wird dabei der Radikalisierungsbegriff synonym mit dem Begriff des Extremismus verwendet oder nur unzureichend von diesem abgegrenzt. Auch im Rahmen des gegenwärtigen Protestgeschehens werden im politisch-medialen Diskurs die Ereignisse und Akteure häufig undifferenziert als radikal oder extremistisch bezeichnet. Um jedoch eine unberechtigte Delegitimierung oder gar Diffamierung gesellschaftlicher Entwicklungen oder Akteurinnen und Akteure zu vermeiden, ist Differenzierung notwendig.
Der Radikalisierungsbegriff stammt vom lateinischen Wort radix [Wurzel] und eine radikale Politik ist eine, die Probleme an der Wurzel packen will. Während Radikalität heute häufig mit Gewaltbereitschaft gleichgesetzt wird, galten im frühen 19. Jahrhundert – aus heutiger Sicht – emanzipatorische und liberale politische Bewegungen als radikal. Die Zuschreibung von Radikalität hängt daher immer von den vorherrschenden gesellschaftlichen Normen ab. Radikalisierung kann somit als eine zunehmende grundlegende Infragestellung und/oder Bemühung zur Veränderung des Status quo definiert werden, indem gesellschaftliche Probleme grundlegend adressiert werden. Radikalität ist daher nicht per se problematisch. Selbst der Verfassungsschutz betont, dass radikale politische Auffassungen in unserer pluralistischen Gesellschaftsordnung ihren legitimen Platz haben. Radikale Personen und Gruppen, die im Kontext der Covid-Pandemie, des Klimawandels, des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine oder der gegenwärtigen Energiekrise die politischen Maßnahmen infrage stellen, kritisieren oder gegen diese protestieren, sind daher noch längst keine extremistischen Akteure.
Die zentrale Frage lautet daher, ab wann ein Radikalisierungsprozess als gesellschaftlich problematisch zu erachten ist bzw. wo die Grenze zum Extremismus liegt. Diese Frage lässt sich nicht pauschal beantworten und knüpft an die kontroverse Debatte nach der Legalität auf der einen sowie Legitimität von Einstellungen und Handlungen auf der anderen Seite an. Aus verfassungsschutzrechtlicher Perspektive handelt es sich dann um Extremismus, wenn die Aktivitäten darauf abzielen, die Grundwerte der freiheitlichen Demokratie zu beseitigen. Aus strafrechtlicher Perspektive sind radikale Einstellungen und Handlungen in dem Moment relevant, wenn sie sich im Bereich der Illegalität bewegen, auch wenn diese nicht unbedingt auf die Beseitigung der freiheitlichen Demokratie abzielen.
Die Frage nach der Abgrenzung von Radikalisierung und Extremismus lässt sich aber auch anhand der Legitimität/Illegitimität von Einstellungen und Handlungen bemessen. Hierbei werden nicht in erster Linie die Verfassung oder das Strafgesetzbuch, sondern eine demokratische Grundhaltung als Grundsatz der Demokratie gesetzt. In diesem Sinne können insbesondere im öffentlichen Diskurs Meinungen über die Grenze zwischen Radikalität und Extremismus, die auf Legitimitäts- oder Legalitätsargumenten basieren, auch auseinanderklaffen.
Häufig ist also dann die Rede von Extremismus, wenn der demokratische Bereich verlassen wird und die Grundwerte der liberalen Demokratie unterminiert werden. Demokratiekonformität bzw. Demokratiefeindlichkeit lässt sich anhand unterschiedlicher Maßstäbe bemessen. Die Frage danach, was als radikal akzeptiert und als extrem zurückgewiesen wird, ist damit immer auch Teil gesellschaftlicher Aushandlung, bei dem der Schutz der freiheitlichen Demokratie den Ankerpunkt darstellt. Radikalisierung ist daher nicht automatisch mit Extremismus gleichzusetzen, kann jedoch unter Umständen in extremistische Bestrebungen münden. Entsprechend gilt es bei der Einordnung der gegenwärtigen Protestereignisse und deren Protagonisten ebenfalls zwischen radikalen und extremistischen, also antidemokratischen Zielsetzungen und Bestrebungen zu unterscheiden.
Was wissen wir über Radikalisierungsursachen und -verläufen von Individuen und Gruppen?
Die Forschung hat inzwischen viele Erkenntnisse über einzelne Radikalisierungsverläufe und über die Rolle von extremistischen Ideologien darin. Allerdings ist mittlerweile auch bekannt, dass diese Verläufe anhand der biografischen Kontexte eines jeden Individuums vielfältig sind: Hier geht es um Persönlichkeitsdispositionen, soziale Umfeldfaktoren oder wahrgenommene wie objektive gesellschaftliche Ungerechtigkeitsstrukturen. Es gibt hinsichtlich der Anfälligkeit für problematische Radikalisierungstendenzen kaum vorhersehbare Muster, wohl aber einzelne Warnsignale, die Ansatzpunkte für Prävention sein können. Die Forschung fokussiert aber sehr stark auf die Individualebene. Für das aktuelle Protestgeschehen sind jedoch auch und vor allem die neueren Erkenntnisse aus der sozialen Bewegungsforschung von Interesse. Sie fokussieren auf die Gelegenheitsstrukturen für erfolgreiche Mobilisierung wie gesellschaftliche Spannungsverhältnisse oder sozioökonomische Rahmenbedingungen. Doch zunächst ein Blick in die Forschung zu individueller Radikalisierung, also auf die Mikroebene:
Die Aneignung extremistischer Denkmuster und die Mitgliedschaft in einer extremistischen Gleichaltrigengruppe, insbesondere – aber nicht nur – im Jugendalter, erfüllen zumeist eine (sozio-)biografische Funktion: in der Bewältigung kritischer Lebensereignisse und der Lösung von Entwicklungsaufgaben (Pisoiu et al. 2020), aber auch in der Bewältigung von gesellschaftlichen Missständen. In diesem Sinne wird Radikalisierung zunehmend auch als „individuelle Bewältigungsstrategie für strukturelle Probleme” verstanden (Glaser 2023). Unsicherheitsminimierung, Reduktion von Identitätskonflikten, aber vor allem die Befriedigung allgemeiner Bedürfnisse wie Zugehörigkeit und Anerkennung sind zentral. Gruppenbezogene Ideologien sind dabei aber nicht vollkommen unbedeutend. Sie bieten Einzelnen Weltdeutungen und individuelle Handlungsalternativen für ihre Problemlagen an.
Individuelle Radikalisierungsverläufe sind fast immer mit Gruppenmitgliedschaft verbunden oder zumindest in ein soziales Umfeld eingebettet. In Gruppenprozessen können sich kleine Kreise von Aktivistinnen und Aktivisten herausbilden, die beispielsweise bereit sind, eine Gruppenideologie – manchmal eben auch durch immer exzessivere Formen von physischer oder psychischer Gewalt – in die Tat umzusetzen. Besondere Dynamik entfalten diese Mechanismen, wenn sie in Interaktion mit gruppenexternen Prozessen treten:
Dazu zählen Unrechtserfahrungen und -erzählungen wie Diskriminierung und Marginalisierung von bestimmten, als ähnlich angesehenen Gruppen. Sie werden dann häufig als Teil eines politischen (oder religiösen) Kampfes interpretiert. Auch Erzählungen über die Auseinandersetzung mit Staatsmacht, Repressionen, Konfrontationsgewalt oder Kriminalisierung können eine Radikalisierungsspirale beschleunigen. Kollektive Deutungsmuster entstehen auch durch die Sozialisation in Gegenkulturen oder Popkulturen: So bedienen sich Gruppierungen wie Generation Islam oder die Identitäre Bewegung audiovisueller Formate wie Musikvideos, Ästhetik des Gaming-Bereichs und grundsätzlich der Vielfalt sozialer Plattformen in ihren Rekrutierungs- und Mobilisierungsstrategien.
Welche Ähnlichkeiten gibt es in den Erzählungen verschiedener radikaler Gruppen?
So unterschiedlich Ideologien und Mobilisierungsdynamiken sein können, so häufig tauchen doch bestimmte ähnliche Erzählelemente als Antagonisten auf, um Gegnerschaften und Hierarchien zu rechtfertigen (Meiering et al. 2020): die Moderne, der Universalismus, die Juden, der Feminismus. Dadurch erheben radikale Gruppen eine Deutungshoheit darüber, wie die Gesellschaft ihrer Ansicht nach funktionieren soll und welche Formen des Zusammenlebens legitim und welche mit radikalen Mitteln bekämpft werden müssen; nicht zuletzt in Bezug auf „die“ richtige Familie und „das“ richtig gelebte Geschlechterverständnis.
Wir sehen gerade im aktuellen, immer diffuseren Protestgeschehen (bspw. Querdenken oder frühere Pegida-Demonstrationen), dass sich ganz unterschiedliche gewollte und ungewollte Allianzen bilden. Oftmals dient die gemeinsame Gegnerschaft wie Anti-System- oder Widerstandserzählungen (bspw. Reichsbürger oder andere Bürgerwehren wie die Scharia-Polizei), Anti-Imperialismus, Anti-Modernismus, Anti-Universalismus, Anti-Feminismus und vor allem ganz unterschiedliche Ausprägungen des Antisemitismus als gemeinsame Nenner.
Im Antifeminismus treffen sich beispielsweise völkische Nationalisten, christliche und islamische Fundamentalisten und islamistische Dschihadisten. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie Sexualität zu einem Scharnier zwischen ihrer – völkisch oder religiös fundierten – Gesellschaftsvorstellung und dem Individuum bzw. der Familie schmieden. Dazu gehören neben der Ablehnung emanzipativer, feministischer Bewegungen auch heroische Männlichkeitsvorstellungen.
Vor allem aber ist der Antisemitismus als gemeinsames Element in zahlreichen aktuellen extremistischen Gruppierungen, aber auch im breiteren Protestgeschehen in zahlreichen Ausprägungen zu finden. Er fungiert häufig als Bindeglied zwischen den vielen Strömungen, die oft unter dem Label Querdenken oder Anti-Corona-Proteste zusammengefasst werden und die zunehmend Querschnitte zu extrem rechten Akteuren aufweisen. Der strukturelle Antisemitismus, also Weltanschauungen und Denkmuster, die der Logik des Antisemitismus strukturell ähneln, aber nicht dezidiert gegen den jüdischen Glauben gerichtet sind, ist in Verschwörungstheorien omnipräsent.
Die Arbeit der politischen Bildung und die Ansätze der Extremismusprävention setzen zunehmend an diesen gemeinsamen Erzählungen an. Wenn sie nicht einzelne, spezifische (Gesellschafts-)Gruppen adressiert, sondern auch deren gemeinsamen ideologischen Muster anspricht, kann sie in bestimmten Kontexten, bspw. im schulischen und Erwachsenenbildungsbereich, effektiver agieren.
Welche Rolle spielen dabei die Möglichkeiten des Internets und der sozialen Medien?
Die Kommunikation über soziale Plattformen und die Verbreitung von Informationen über das Internet sind aus dem Alltag fast aller Menschen nicht mehr wegzudenken – von Messenger-Diensten über soziale Plattformen bis hin zu Teilen von Gaming-Plattformen. Dies gilt auch für radikale Gruppen und extremistische Einzelpersonen. Durch diese Möglichkeiten des Internets und insbesondere der sozialen Medien sowie neuerdings insbesondere unterstützt durch künstliche Intelligenz (KI) hat sich auch die Entstehung und Führung von gesellschaftlichen Diskursen, Debatten und Meinungsbildungsprozessen deutlich verändert.
In der Zukunft kann KI auch dazu beitragen, Desinformation aufzudecken und demokratiestabilisierende Narrative zu etablieren, aktuell sind die hohe Dynamik, unklare Wirkungsmechanismen und schwache Regulierung jedoch eher demokratiegefährdend. Personen mit extremistischen Einstellungen nutzen diese Elemente und Dynamiken, strategisch aber auch ad hoc. In jedem Fall wird die Kommunikation weiter beschleunigt, die Information in vielen Räumen fragmentierter und ggf. auch transnationaler. Dies gilt auch für die Verbreitung herabwürdigender und hasserfüllter Botschaften.
Eingriffe wie Zensur und Kontrolle mögen schnell naheliegen, sind jedoch sorgfältig mit Grundrechten zur freien Meinungsäußerung abzuwägen. Es ist jedoch offensichtlich, dass beispielsweise extrem rechte Akteurinnen und Akteure über Online-Kanäle Weltanschauungen und Hassbotschaften streuen, die von Freund-Feind- bzw. Ingroup-Outgroup-Konstruktionen ebenso geprägt sind wie von der Ablehnung der Universalität der Menschenrechte, von Emanzipation, Demokratie und entwickelter Moderne.
Es liegt die Annahme nahe, dass die Internetpräsenz von extremistischen Akteurinnen und Akteuren wiederum Radikalisierung fördert und hierdurch die Zunahme von Gewalttaten erklärt werden kann (siehe bspw. Fielitz und Marcks 2021). Dieser Nachweis ist bislang nicht unmittelbar gelungen. Es ist aber offensichtlich, dass die extreme Rechte mittlerweile auf der gesamten Klaviatur von Online-Formaten, wie Memes und audiovisuelle Inhalte, und Online-Plattformen, von Messenger-Diensten bis Kommunikationsplattformen rund um Gaming, spielt. Es bleibt das analytische Problem, den Faktor „Internet“ von anderen sozialen Bindungen zu isolieren. Mehrheitlich wird allerdings die Position vertreten, dass die Möglichkeiten des Internets vorrangig als Verstärker und Katalysator von Radikalisierungsprozessen wirken, die jedoch zumeist auch realweltliche Randbedingungen, Anlässe und Interaktionen braucht (Birsl et al 2022).
Nicht zuletzt aufgrund der beschriebenen Schwierigkeit, die Wirkungen des Faktors Internet zu messen, hatte man sich zunächst mit der Zunahme islamistisch motivierter Anschläge und den Medienaktivitäten des sogenannten Islamischen Staats überwiegend darauf konzentriert, welche Strategien organisierte islamistische Gruppen im Internet zur Eigenpräsentation, zur Verbreitung von Weltanschauungen und zur Rekrutierung und Mobilisierung neuer Anhänger nutzten (ein Überblick über die Phänomen- und Forschungsentwicklung: Winter et al 2020).
Die Online-Inszenierung von extrem rechten Anschlägen, wie etwa in Christchurch und Halle, bezogen sich unmittelbar auf die mediale Inszenierung von Anders Breivik, der im Jahr 2011 in Oslo und auf der Insel Utøya 77 Menschen gezielt tötete. Auch wurden über die Analyse von Ermittlungsakten und Gerichtsurteile aufgezeigt, dass es einige Zusammenhänge zwischen dem generellen Nutzungsverhalten – etwa welche Plattformen präferiert wurden – und der tatsächlichen Involvierung in islamistische oder extrem rechte Strukturen gibt.
Extremistische Akteure verbreiten nicht nur ihre Botschaften über die sozialen Medien weiter und schneller und können somit eine große Masse an Menschen erreichen, sondern entwickeln auch Formate und Strategien, die strategisch auf die Merkmale der Zielgruppen und der Merkmale bestimmter sozialer Plattformen zugeschnitten sind. Die Ansprache erfolgt dabei gezielt alters- und geschlechtsspezifisch. In jüngster Zeit wird in diesem Zusammenhang vor allem auf die starke Präsenz von Rechtsextremen auf TikTok verwiesen, denen demokratische Kräfte noch wenig entgegenzusetzen haben. Es zeigt sich auch, dass extremistische Akteure ihre Inhalte mit Hilfe von KI passgenau selbst generieren und nicht mehr auf passende Ereignisse warten müssen, um Bilder zu kreieren.
Vor diesem Hintergrund gibt es aber auch viel Zufälliges und unorganisiert Wildes: Viele der Täter (es sind in der Mehrzahl Männer), die in den letzten Jahren in Deutschland Angriffe auf Asylunterkünfte oder Geflüchtete begangen haben, sind zuvor nicht straffällig geworden oder wiesen in einigen Fällen auch keine etablierten Verbindungen zu extrem rechten Gruppen oder Netzwerken auf. Dies kann ein weiterer Hinweis darauf sein, dass soziale Medienkommunikation die Schwelle zum Kontakt mit rassistischem, Ressentiment geladenem und antifeministischem Gedankengut für bislang nicht auffällige Personen gesenkt haben.
Gerade im Zuge des aktuell beobachtbaren Protest- und Radikalisierungsgeschehens finden sich auch eine Vielzahl an nichtorganisierten Nutzenden, die zahlreiche Nachrichten posten, kommentieren und weiterleiten, in großem Umfang eigene Mitteilungen senden und Botschaften anderer kommentierten oder teilen. Die Inhalte, die sich auf sozialen Medien, Messenger-Diensten und Gaming-Plattformen zeigen, sollten auch als ein wichtiger Diskursraum wahrgenommen werden, auf dem gesellschaftliche Polarisierungstendenzen erkennbar werden (siehe bspw. eine Studie des Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft Jena). Um Wege in den Extremismus in den Anfängen zu unterbinden und diese unorganisierten Verbreitungswege von Falschnachrichten, Diffamierung und Hassrede einzugrenzen, ist es wichtig, diese Diskursräume zu verstehen und nachzuzeichnen sowie auf eine vielgestaltige Strategie der politischen Bildung und der Prävention zu setzen. Bemühungen, die Medien- und Streitkompetenzen zu erhöhen, sind für alle Altersgruppen und in allen geografischen Räumen zentral – dafür benötigt man einen langen Atem.