Repräsentative Befragung zum Wissen der hessischen Bevölkerung über die DDR-Geschichte und die SED-Diktatur
Rund 35 Jahre nach dem Mauerfall bleiben die Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland ein kontroverses Thema. In Fachliteratur, Essays, Medien und Kultur wird intensiv über die deutsch-deutsche Teilung, ihre Auswirkungen auf die Gegenwart und die Erinnerungskultur an den Alltag und das Leben in der SED-Diktatur gestritten. Die Debatten beleuchten die vielfältigen Perspektiven auf das Leben unter der Diktatur, die Erinnerungskultur an die deutsch-deutsche Teilung und deren Nachwirkungen bis in die Gegenwart.
Um die Entwicklungen der Transformationsgesellschaft nach der deutsch-deutschen Teilung und seit der Wiedervereinigung zu beurteilen, ist eine Kenntnis der Geschichte der DDR und das Leben in der SED-Diktatur sicher hilfreich. Wie es um die Kenntnis dieser Geschichte in Hessen bestellt ist, das in Teilen direkt an der innerdeutschen Grenze lag, wollte der Lern- und Erinnerungsort Notaufnahmelager Gießen in Kooperation mit der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung genauer wissen. Hintergrund ist die Gründung der ersten landeseigenen Gedenkstätte in Hessen im ehemaligen Gießener Notaufnahmelager, das bis 1990 die zentrale Aufnahmeeinrichtung von DDR-Flüchtlingen in der Bundesrepublik war. Da dessen Markenkern im Bereich der SED-Aufarbeitung liegt, sollten fundierte Zahlen zu den Erwartungen und zum Wissensstand der hessischen Bevölkerung erhoben werden. Mit der Durchführung der Studie, deren Ergebnisse sich in fünf zentralen Aussagen zusammenfassen lassen, wurde die Forsa Gesellschaft für Sozialforschung und statistische Analysen mbH, kurz Forsa, beauftragt:
- Es gibt ein vergleichsweise hohes Interesse an der DDR-Geschichte, vor allem bei Menschen unter 20 Jahren und über 60 Jahren.
- Der Wissensstand in Hessen zur Geschichte der DDR und zur SED-Diktatur ist im Vergleich zum Wissensstand über die Wiedervereinigung eher gering.
- Gedenkstätten haben eine hohe Bedeutung für den Erwerb von Wissen über die DDR und die SED-Diktatur. Dagegen wird die Vermittlungsarbeit in den Schulen als ausbaufähig eingeschätzt.
- Die Aufarbeitung der DDR-Geschichte und der SED-Diktatur hat für die Hessinnen und Hessen eine hohe Bedeutung. Sie wünschen sich, dass Erfahrungen mit der SED-Diktatur an junge Menschen vermittelt werden.
- Hessinnen und Hessen wünschen sich eine erlebbare SED-Aufarbeitung und die Vermittlung von Wissen über die DDR mit Führungen, Dauerausstellung und Gesprächen mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen.
Methodik der Studie
Konzeption
Die forsa Gesellschaft für Sozialforschung und statistische Analysen mbH hat vom 28. Juni bis 10. Juli 2024 die Umfrage unter der hessischen Bevölkerung durchgeführt. Ziel war herauszufinden, welches Wissen und Bewusstsein bei den Bürgerinnen und Bürgern über die DDR-Geschichte, die SED-Aufarbeitung und die friedliche Revolution vorhanden ist. Dazu wurden zum einen subjektive Einschätzungen zum eigenen Wissen ermittelt und zum anderen objektive Wissensfragen gestellt. Zudem wurde die Meinung der Hessinnen und Hessen zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte ermittelt und sie wurden zu ihren Erfahrungen zum Umgang mit dem Thema in der Schule befragt.
Informationen zur Stichprobe
Im Rahmen der Untersuchung wurden insgesamt 1.250 Bürgerinnen und Bürger in Hessen ab 14 Jahre mithilfe computergestützter Telefoninterviews (CATI) befragt. Um die Perspektive der jungen Generation angemessen zu berücksichtigen, wurden insgesamt 265 14- bis 20-Jährige befragt.
Disproportionale Stichprobenanlage
Um eine regionale Aufschlüsselung der Ergebnisse nach den drei hessischen Regierungsbezirken zu ermöglichen, wurde die Stichprobe hinsichtlich der regionalen Verteilung disproportional angelegt: im Regierungsbezirk Gießen wurden 244, im Regierungsbezirk Kassel 320 und im Regierungsbezirk Darmstadt 686 Menschen befragt. Diese disproportionale Stichprobenanlage wurde im Rahmen der Datenauswertung so gewichtet, dass repräsentative Aussagen für die Gesamtbevölkerung im Land Hessen möglich sind.
Mögliche Fehlertoleranzen
Die ermittelten Ergebnisse können mit den bei allen Stichprobenerhebungen möglichen Fehlertoleranzen (im vorliegenden Fall +/- 3 Prozentpunkte) auf die Gesamtheit der Bevölkerung ab 14 Jahre im Bundesland Hessen übertragen werden.
Interesse am Thema DDR-Geschichte und gesellschaftliche Bedeutung der Aufarbeitung
Das Interesse am Thema „DDR“ und seine gesellschaftliche Bedeutung sind eng miteinander verknüpft. Zwar ist das Interesse für alles, was mit der DDR zusammenhängt, bei über der Hälfte der hessischen Bürgerinnen und Bürger (60 %) derzeit kaum oder gar nicht vorhanden. Allerdings interessieren sich 40 Prozent aller Befragten sehr stark oder eher stark für alles, was mit der SED-Diktatur und DDR-Geschichte zusammenhängt, ein Wert, der aus Expertensicht im erinnerungskulturellen Bereich als durchaus hoch anzusehen ist. Besonders groß ist das Interesse bei den 14- bis 20-Jährigen (46 Prozent) und den über 60-Jährigen (52 Prozent). Dies verdeutlicht, dass die DDR-Vergangenheit sowohl für junge Menschen, die diese Zeit nicht selbst erlebt haben, als auch für ältere Generationen, die sie bewusst miterlebt haben, von gesellschaftlicher Relevanz bleibt. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zeigt sich in den anhaltenden Diskussionen über die Bedeutung der DDR für die Identität, die politische Kultur und die Erinnerungskultur in Deutschland.
Wissensstand zur DDR-Geschichte und zur SED-Diktatur
Die Hessinnen und Hessen schätzen ihr Wissen über verschiedene Epochen der jüngeren deutschen Geschichte vor allem hinsichtlich der Zeit des Nationalsozialismus von 1933 bis 1945 und der Wiedervereinigung 1990 vergleichsweise hoch ein. 67 Prozent beziehungsweise 73 Prozent der Befragten geben an, sich mit diesen Epochen gut oder sogar sehr gut auszukennen. Gleiches gilt für die Wiedervereinigung 1990. Auch hier schätzen 73 Prozent der Befragten ihr Wissen als gut oder sehr gut ein. Mit Blick auf die Geschichte der DDR zwischen 1949 und 1990 tun das dagegen nur 41 Prozent.
Bekanntheit verschiedener Ereignisse der DDR-Geschichte
Darüber hinaus wurden die Hessinnen und Hessen gefragt, ob ihnen verschiedene Ereignisse der DDR-Geschichte bekannt sind. Der Mauerbau 1961 (96 Prozent), der Mauerfall 1989 (99 Prozent) und die Wiedervereinigung im Oktober 1990 (98 Prozent) sind nahezu allen Befragten bekannt. Die freien Wahlen im März 1990 sind immerhin 78 Prozent der Befragten ein Begriff. Die Ereignisse der DDR-Geschichte vor dem Mauerbau 1961 sind den Befragten dagegen weniger bekannt: Während den Aufstand vom 17. Juni 1953 noch 71 Prozent kennen, sind die Zwangsvereinigung der KPD und SPD zur SED im Jahr 1946 (45 Prozent) und die Zwangsaussiedlung aus DDR-Grenzgebieten ins Landesinnere in den Jahren 1952 und 1961 (51 Prozent) lediglich rund der Hälfte der Befragten geläufig.
Wissensbildung zur DDR-Geschichte und zur SED-Diktatur
Ihr Wissen über die DDR haben die Befragten hauptsächlich aus den klassischen Medien (Zeitungen, TV oder Radio – 80 Prozent) oder aus persönlichen Gesprächen mit Freunden, Bekannten oder Arbeitskollegen (72 Prozent). Eine vergleichsweise hohe Bedeutung für den Wissenserwerb haben mit 61 Prozent auch Museen, Ausstellungen oder Gedenkstätten.
Aufarbeitung der DDR-Geschichte und der SED-Diktatur
Eine deutliche Mehrheit der Befragten (92 Prozent) findet es sehr wichtig oder eher wichtig, dass junge Menschen in Hessen auch heute noch etwas über die DDR-Geschichte, das Leben in der DDR und die SED-Diktatur erfahren. Zwei Drittel (66 Prozent) sind zudem der Meinung, dass die Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur die Demokratie in Deutschland stärke. Gleichzeitig meint etwa die Hälfte (48 Prozent), dass sich in Deutschland alles in allem zu wenig mit der SED-Diktatur und ihren Folgen beschäftigt wird.
Bekanntheit von Grenzgedenkstätten und -museen in Hessen
Von den verschiedenen Grenzgedenkstätten und -museen in Hessen beziehungsweise an der hessisch-thüringischen Grenze kennen die meisten Befragten die Gedenkstätte Point Alpha (55 Prozent). Auch den Lern- und Erinnerungsort Notaufnahmelager Gießen kennt bereits etwa jeder dritte Befragte (38 Prozent).
Die DDR als Unrechtsstaat?
Die Hessinnen und Hessen wurden in der Umfrage auch nach ihrer Einschätzung gefragt, ob die DDR ein Unrechtsstaat gewesen sei, in dem sich die Machthaber willkürlich über das Recht hinweggesetzt haben. Knapp die Hälfte aller Befragten (46 Prozent) teilt diese Auffassung. Ähnlich viele Befragte (44 Prozent) sind der Meinung, dies trifft zumindest teilweise auf die DDR zu. Dabei zeigt sich deutlich, dass die uneingeschränkte Zustimmung zu dieser Aussage mit dem Alter der Befragten zunimmt. Bei den über 60-jährigen, die die Zeit des geteilten Deutschlands noch selbst erlebt haben, antworten 53 Prozent auf die Frage mit einem klaren „ja“, bei den unter 20-jährigen sind es nur 38 Prozent. Dass 7 Prozent der Befragten sagen, dass die DDR eher kein Unrechtsstaat gewesen sei, finden die Expertinnen und Experten trotz des niedrigen Wertes durchaus besorgniserregend und offenbar auch Folge von Wissenslücken.
Was wissen Hessinnen und Hessen über die Geschichte der DDR?
Repräsentative Umfrage zeigt hohes Interesse und geringen Wissensstand
Fazit und Ausblick
Die repräsentative Umfrage zeigt deutlich, dass das Wissen über die DDR-Geschichte in Hessen noch ausbaufähig ist, obwohl ein hohes Interesse daran besteht – besonders bei der jungen und älteren Generationen. Die Ergebnisse der Studie unterstreichen die Notwendigkeit intensiver Bildungsarbeit, die außerhalb des schulischen Kontexts von der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung, Einrichtungen wie dem Lern- und Erinnerungsort Notaufnahmelager Gießen und den Grenzgedenkstätten in Hessen geleistet werden. Die Hessinnen und Hessen wünschen sich, dass die Erfahrungen dieser Zeit stärker an die nachfolgenden Generationen vermittelt werden. Dies verdeutlicht die gesellschaftliche Relevanz des Themas, dem erinnerungskulturell mehr Beachtung geschenkt werden sollte, um ein fundiertes Verständnis der deutsch-deutschen Geschichte und deren Auswirkungen bis in die Gegenwart zu fördern.