Eine vergessene Nachkriegsgeschichte? – Die fünf Glocken in der Paulskirche nach 1948
Als die Jahrhundertglocke 1987 abgehängt wurde, setzte sich der damalige stellvertretende Leiter des Frankfurter Stadtarchivs, Konrad Bund, dafür ein, dass sie als Denkmal für die deutsche Demokratiegeschichte ausgestellt wird. Diesem Wunsch wurde nicht entsprochen. Stattdessen ging die Glocke samt der vier Apoldaer Glocken in den Sammlungsbestand des Historischen Museums Frankfurt ein. Ihre vorläufige Ruhestätte fand sie auf einem Frankfurter Bauhof, wo die falsche Lagerung im freien mindestens zu einer Veränderung des Klangs führte. Über die Hintergründe und Motive der Beteiligten, die dazu führten, dass die Jahrhundertglocke abgehängt und in die „Verbannung“ geschickt wurde, lässt sich heute in der Rückschau nur noch mutmaßen. Dass zivile Glocken, die eine besondere symbolische Bedeutung haben, im In- und Ausland als Vorbilder der Jahrhundertglocke gedient haben, die bis heute als Denk- oder Mahnmäler relevant sind, zeigen die folgenden Beispiele.
1. Liberty Bell in Philadelphia
Als die amerikanische Unabhängigkeitserklärung am 8. Juli 1776 auf dem Independence Square in Philadelphia erstmalig öffentlich verlesen wurde, läutete die sogenannte „Freiheitsglocke“. Sie ist bis heute auf US-amerikanischen Umlaufmünzen abgebildet und dient als unverwechselbares Nationalsymbol. Die in der Muttersprache als „Liberty Bell“ bezeichnete Glocke wurde 1752 in Gedenken an den 50. Jahrestag der Charta über die Religionsfreiheit Pennsylvanias gegossen. Sie trägt die Inschrift „Proclaim Liberty throughout all the land unto all the inhabitants thereof“ (zu Deutsch: „Verkünde Freiheit im ganzen Land für alle seine Bewohner“). Der Riss im Klangkörper, der diese funktionsunfähig macht, ist für die Glocke besonders markant. Da bis heute unklar ist, wann und wie dieser Riss entstand, ranken sich zahlreiche Mythen und Anekdoten um die „Liberty Bell“. Einer dieser Erzählungen zu Folge soll sie das letzte Mal 1846 anlässlich des Geburtstages von George Washington geläutet haben, wo sich der Riss irreparabel vergrößert haben soll. Heute ist die „Liberty Bell“, die immer noch als eines der wichtigsten amerikanischen Symbole für Freiheit und Demokratie gilt, im „Liberty Bell Pavillon“ im „Independence Historical Parc“ von Philadelphia und trägt den Titel Weltkulturerbe der UNESCO. Ein Replikat der Freiheitsglocke stiftete die Stadt Philadelphia dem Staat Israel im Jahr 1976 anlässlich der Zweihundertjahrfeier der Gründung der USA.
2. Die Weltfriedensglocke in Berlin
Die Idee einer Friedensglocke ist wohl auf Chiyoji Nakagawa zurückzuführen, der die amerikanischen Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki 1945 überlebte. Die Glocke wurde aus eingeschmolzenen Münzen aus aller Welt sowie metallenen Trümmern aus Hiroshima gegossen. Dieser Idee folgend wurde die erste Friedensglocke 1954 am UN-Hauptquartier in New York aufgestellt. Im Jahr 1989 wurde auf Betreiben der „World Peace Bell Association“ anlässlich des 50. Jahrestages des deutschen Überfalls auf Polen, der den Beginn des Zweiten Weltkrieges markierte, eine Weltfriedensglocke in Berlin ausgestellt. Als Ort für den Pavillon samt Glocke wurde der Volkspark Friedrichshain in unmittelbarer Nähe zum Alexanderplatz und der Nikolaikirche als Gründungsstätte von Berlin gewählt. Die 100 cm hohe Bronzeglocke in Berlin, der „Stadt des Friedens“, sollte als Symbol für Frieden und Freiheit fungieren. Sie wurde aus Metall von Münzen aus den damaligen 104 UN-Mitgliedsstaaten gegossen, darunter 20 kg 20-Pfennig-Münzen aus der DDR, und trägt in japanischer und deutscher Sprache das Wort „Weltfrieden“ – gleichzeitig Mahnung und Appell. Zwei Gedenktafeln unterhalb der Glocke erinnern noch heute an die zehntausenden Opfer der Atombombenabwürfe über Japan. Bis heute versammeln sich am 6. August, dem Tag des ersten Atombombenabwurfes, Bürgerinnen und Bürger an der Glocke, um zu gedenken.
3. Olympiaglocke in Berlin
Der „Bochumer Verein für Gussstahlfabrikation“ goss am 14. August 1935 eine 4,28 m hohe Glocke, die im Mai 1936 als Olympiaglocke in den Glockenturm in Berlin gehoben wurde. Ihre Überführung nach Berlin wurde von Seiten des nationalsozialistischen Unrechtsregimes in Funk und Fernsehen propagandistisch begleitet und als Logo der Olympischen „Friedensspiele“ von 1936 inszeniert. Auf ihr sind die Olympischen Ringe, der Reichsadler sowie das Brandenburger Tor abgebildet, während auf dem unteren Rand folgendes zu lesen ist: „Olympische Spiele 1936“ in Verbindung mit Hakenkreuzen und dem Ausspruch „Ich rufe die Jugend der Welt“. Die Inszenierung solcher weltlichen Glocken durch die Nationalsozialisten fand außerdem in den drei NS-Ordensburgen als Ausbildungsstätten für künftige Spitzenfunktionäre in Staat und Partei statt. 1936 erklärte Hans von Tschammer und Osten, unter anderem Reichssportführer und Vorsitzender des Deutschen Reichsbundes für Leibesübungen, die Olympiaglocke zum „ewigen Mahner an den Opfertod unserer Helden“ und zu einer „Verpflichtung“ für die Lebenden. Die Olympiaglocke wurde 1947 so schwer beschädigt, dass sie nicht mehr verwendet werden konnte. Nachdem sie anschließend vergraben wurde, um Metalldiebstahl zu verhindern, wurde sie 1956 wieder ausgegraben und fungiert heute als Denkmal an der Südseite des Olympiastadions.
4. Die Freiheitsglocke in Berlin
1950 wurde im Rathausturm in West-Berlin die Freiheitsglocke als Symbol der Unbeugsamkeit West-Berlins im Kalten Krieg aufgehängt. Im Rahmen eines „Kreuzzugs für die Freiheit“ wurde sie mit einer vom „Nationalkomitee für ein freies Europa“ initiierten Spendenaktion vom amerikanischen Volk finanziert, wobei viele der 16 Millionen Spendenden dem amerikanischen Geheimdienst angehörten. Ihre Geschichte ist in den Kontext der Etablierung kommunistischer Staaten in Osteuropa einzuordnen. Die Glocke selbst wurde in der englischen Gießfirma „Gillet and Johnston“ nach dem Vorbild der amerikanischen „Liberty Bell“ gefertigt und trägt die Aufschrift "That this world under God shall have a new birth of freedom", zu Deutsch: „Möge diese Welt durch Gott eine Wiedergeburt der Freiheit erleben.“ Nach einer Reise durch die USA traf die Glocke am 20. Oktober 1950 in Bremerhaven ein, von wo aus sie bis ins Schöneberger Rathaus weitertransportiert wurde. Dem ersten Glockenschlag lauschten 250.000 bis 450.000 Berlinerinnen und Berliner aus Ost und West am 24. Oktober. Neben Lucius D. Clay waren auch Bundeskanzler Konrad Adenauer und Berlins Oberbürgermeister Ernst Reuter zugegen.