Die historische Rückschau – Für was stehen die abgehängten Glocken in der Paulskirche aus heutiger Perspektive?
Die These, Deutschlands Geschichte sei eine Teilungsgeschichte und sämtliche Wege nach dem Mai 1945 hätten mehr oder weniger gerade auf die Teilung zugeführt, wird kontrovers diskutiert. Gab es Abzweigungen, die möglicherweise einen anderen Verlauf der Geschichte, beispielsweise die Gründung eines gesamtdeutschen Nachkriegsstaates, zur Folge gehabt hätten? Die Geschichte der Glocken in der Paulskirche um Bochum und Apolda als gemeinsame Glockenhersteller für das deutsche Demokratiesymbol mag eine Randnotiz deutscher Geschichte sein, aber sie verdeutlicht, dass die Teilung selbst 1948 noch keine allgemein anerkannte Zukunftsvorstellung war. Eine ungewollte Zufälligkeit ist ihr abzusprechen. So kamen alle fünf neuen Glocken „gesamtdeutsch“ in die Paulskirche.
Metall war sowohl in Bochum als auch in Apolda Mangelware. Auch die Produktion konnte angesichts möglicher Demontagen nicht sicher garantiert werden. Tonlich mussten die Glocken mit ihrem Klang eingepasst werden ins Geläut. Möglicherweise folgte die Glockenbestellung auch einer politisch motivierten Zeichensetzung.
Glockenexperte Konrad Bund zieht sich lediglich auf Vermutungen zurück:
„Die für den Wiederaufbau der Paulskirche Verantwortlichen akzeptierten jedoch vermutlich […] das Angebot der Handelskammern der Britischen Besatzungszone, eine größere Stahlglocke des Bochumer Vereins für Gussstahlfabrikation, und der Evangelischen Kirche Thüringens und der antifaschistischen Parteien, vier Bronzeglocken aus der Glockengießerei Schilling in Apolda in Thüringen zu stiften, und wahrscheinlich auch eine neue, moderne Disposition, ein ,ausgefülltes (Dur-) Motiv‘.“
Die Frage des gewollten oder auch des dann tatsächlich erreichten Klangmotivs spielt in dieser Betrachtung keine Rolle. Entscheidend ist in dem hier darzulegenden Zusammenhang, dass die Lieferung der Apoldaer Glocken offensichtlich mit dem Segen der SBZ-SED erfolgte.
Klangtechnisch gelang eher zufällig die Einheit. Laut Konrad Bund „entstand im Ergebnis – natürlich unbewusst – eine Durdreiklang-Disposition, welche alle Töne der gescheiterten Planung von 1830 einschloss“.
Dieses Klang-Quintett wird aufgrund der falschen Lagerung der Jahrhundertglocke nie mehr zu hören sein. Heute stehen die fünf Glocken, insbesondere die Jahrhundertglocke von Schiffers, für einen für möglich gehaltenen gesamtdeutschen, demokratischen Neubeginn nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges und den beispiellosen Verbrechen im Nationalsozialismus. Die immense symbolische Strahlkraft, die die Geschichte rund um die Jahrhundertglocke und die vier Apoldaer Glocken besitzt, erscheint anlässlich des 175-jährigen Jubiläums der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche als „Wiege der deutschen Demokratie“ im Jahr 2023 unter vielen spannenden Gesichtspunkten.