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31. Mai 1972: 50. Jahrestag der „Aktion Wasserschlag“ gegen die RAF

Die Rote Armee Fraktion (RAF) überzog die Bundesrepublik Deutschland zwischen dem 11. und 24. Mai 1972 mit einer Welle der Gewalt in bis dato unvorstellbarer Größenordnung und Brutalität. Die Anschläge in Frankfurt am Main, Augsburg, München, Karlsruhe und Heidelberg richteten sich auf der einen Seite gegen die US-Armee (Vietnamkrieg) und den Springer-Konzern (Medienmonopol), andererseits jedoch auch gegen den westdeutschen Staat und speziell gegen die staatlichen Ermittlungsbehörden, die seit 1970 einen erbitterten Kampf gegen die RAF führten. Mit der Polizeidirektion Augsburg, dem Landeskriminalamt in München und dem zuständigen Ermittlungsrichter beim Bundesgerichtshof in Karlsruhe zielten die Anschläge exakt auf die Institutionen und Personen ab, die die Ermittlungen gegen die RAF führten. Gleichzeitig waren die Anschläge der RAF gegen die staatlichen Ermittlungsbehörden aus Sicht der RAF-Mitglieder speziell auch Racheaktionen für durch Polizisten erschossene Gruppenmitglieder. Was wussten die staatlichen Ermittlungsbehörden der Landespolizeien, des Bundeskriminalamtes (BKA) und der Verfassungsschutzbehörden vor der „Mai-Offensive“ 1972 von den Anschlagsplanungen und über die RAF-Gruppenstrukturen? Und wie reagierten sie auf die Gewaltwelle der RAF?

Überforderung der staatlichen Ermittlungsbehörden im Kampf gegen die RAF bis Mitte 1972

Die Länderpolizeien im Allgemeinen sowie die hessischen Schutzpolizeien und das hessische Landeskriminalamt im Speziellen waren nicht auf eine Herausforderung wie die Gewalt der RAF vorbereitet. Es gab keine zentralen Stellen zur Zusammenführung von Informationen, die Polizisten waren für Schießereien mit Sturmgewehren weder ausgerüstet noch trainiert und die wiederholten Verfolgungsjagden mit Sportwagen überforderten die Beamten. Nach einer Vorlage des Bundesinnenministers Hans-Dietrich Genscher wurde im November 1970 das von der Bundesregierung forcierte „Sofortprogramm zur Modernisierung und Intensivierung der Verbrechensbekämpfung“ verabschiedet. Ab diesem Zeitpunkt wurde das BKA mit Hauptsitz in Wiesbaden und Nebensitz in Bonn, aber auch die Länderpolizeien gezielt ausgebaut. Die Beamten wurden mit neuer Waffentechnik und besserer Schutzausrüstung ausgestattet. Das Bundesministerium des Innern übertrug dem BKA am 28. Januar 1971 die Wahrnehmung der polizeilichen Aufgaben bei den Ermittlungen gegen die RAF auf dem gesamten Bundesgebiet. Am 1. September 1971 wurde Horst Herold zum Präsidenten des BKA ernannt und beschleunigte den bereits vorher initiierten Reformprozess der wichtigen Ermittlungsbehörde massiv. Herold warb dafür, Verbrechensbekämpfung auch mit für die damalige Zeit neuesten technischen Möglichkeiten, der Computertechnik, zu betreiben und die dafür notwendigen Strukturen aufzubauen. In den einzelnen Bundesländern, auch in Hessen, gründeten sich Sonderkommissionen, um RAF-Mitglieder festzunehmen und die Logistik der Gruppe zu zerschlagen. Das Bundesamt für Verfassungsschutz und das Berliner Landesamt für Verfassungsschutz hatten in den Reihen der RAF seit 1969 mit Peter Urbach eine Quelle platziert. Peter Urbach informierte die Verfassungsschutzämter bis 1971 mit Interna aus der RAF, lieferte den entscheidenden Hinweis für die Festnahme von Baader im Jahr 1969 in West-Berlin und gab der West-Berliner Polizei den ausschlaggebenden Tipp, um eine zentrale konspirative Wohnung in West-Berlin durch die Polizei auffliegen zu lassen. Dank dieses Hinweises konnte in der Wohnung u.a. der RAF-Mitbegründer Horst Mahler am 8. Oktober 1970 festgenommen werden. Im Prozess gegen Mahler flog aber Urbach selbst auf und musste durch den Verfassungsschutz unter Zeugenschutz in die USA verbracht werden. Das Hessische Landesamt für Verfassungsschutz war ebenfalls nicht auf die Herausforderungen durch die RAF vorbereitet und besaß bis zur „Mai-Offensive“ 1972 nur wenige Informationen über die RAF in Hessen.

Reaktionen auf die „Mai-Offensive“ der RAF – Der Staat formiert sich

Erst am 15. Mai 1972, vier Tage nach dem ersten RAF-Anschlag in Frankfurt am Main, wurde dem BKA die polizeilichen Aufgaben der Strafverfolgung bei Bombenanschlägen übertragen. Ein Meilenstein für Horst Herold und das BKA in Wiesbaden war die Innenministerkonferenz (IMK) vom 22. Mai 1972, die inmitten der „Mai-Offensive“ der RAF stattfand. Der IMK-Beschluss sah grundlegende Veränderungen bei der Bekämpfung der RAF vor. Beschlossen wurde u.a. die Gründung einer SOKO BM (SOKO BM stand für Sonderkommission Baader-Meinhof, weil die RAF zu diesem Zeitpunkt häufig noch Baader-Meinhof-Bande oder Baader-Meinhof-Gruppe bezeichnet wurde) beim BKA, die Bildung von Sonderkommissionen in den einzelnen Bundesländern unter der Führung des BKA, die Bildung von regionalen Sonderkommissionen (Resos) auch in Hessen sowie die Ausbildung von Observationskräften beim BKA. Die „Mai-Offensive“ 1972 der RAF führte zu einer direkten Stärkung des BKA innerhalb der bundesdeutschen Sicherheitsarchitektur. Indem die RAF die staatlichen Ermittlungsbehörden direkt angriffen, schuf sich die Gruppe ihren größten Feind, das BKA unter Horst Herold, selbst. Vorherige Forderungen des BKA und der Ermittlungsbehörden nach Erweiterungen des Personalbestandes und der Ausrüstung stießen zunächst auf wenig Resonanz. Spätestens ab Mitte Mai 1972 wurde jedoch intensiv in die Aufrüstung der Länderpolizeien, des BKA und der Verfassungsschutzämter investiert. Der Staat formierte sich und ging zum Gegenschlag über.

Die „Aktion Wasserschlag“

Die Ermittlungsbehörden reagierten mit massiven Fahndungsmethoden auf die RAF-Anschlagsserie. Fahndungsmaßnahmen in dieser Größenordnung hatte es bis dato in der Bundesrepublik noch nicht gegeben. Am 29. Mai 1972 rief BKA-Chef Horst Herold mit Erlaubnis des damaligen Innenministers Hans-Dietrich Genscher alle Sonderkommissionsleiter der Bundesländer und Bundesgrenzschutz-Vertreter zusammen. Herold ordnete für den 31. Mai 1972 die bundesweite „Aktion Wasserschlag“ an. Der Name der Aktion hat folgende Geschichte: Einer der wichtigsten Vorbilder für die RAF war Mao Tse-tung, der diktatorisch regierende Staatspräsident Chinas. Tse-tung war selbst Mitte der 1930er Jahre Teil einer revolutionären Guerillabewegung in China gewesen. Ihm wird folgender Satz zur Rolle der Guerillabewegung innerhalb der Zivilbevölkerung zugesprochen, den u.a. die RAF für das eigene Vorgehen übernahm: „Der Revolutionär muss sich in den Volksmassen bewegen, wie ein Fisch im Wasser.“ Herold nahm diesen Spruch auf und wollte mit seiner massiven Fahndungsaktion die Fische (RAF) im Wasser durch Schläge auf die Wasseroberfläche, um in der Metapher zu bleiben, in Aufruhr und in Bewegung versetzen. Ausgangspunkt der Überlegung war das zufällige Entdecken einer RAF-Garage im Hofeckweg in Frankfurt am Main, in der die Gruppe Sprengstoffe lagerte. Ab diesem Zeitpunkt war das Ziel, die RAF-Mitglieder in Bewegung zu bekommen, um einen Zugriff an der Garage möglich zu machen. Die gesamte Schutzpolizei der Bundesländer und Teile des Bundesgrenzschutzes wurden am 31. Mai 1972 dem BKA unterstellt. Bundesweit wurden Straßensperren an Grenzübergängen und Autobahnzugängen aufgestellt. Fahrzeuge wurden mit zum Teil vorgehaltenen Waffen kontrolliert und Überwachungsflüge von allen einsatzbereiten Polizeihubschraubern durchgeführt. Die Innenminister der Länder erhielten erst nachträglich Informationen vom schon beschlossenen Plan. Die Medien, besonders die Radiosender und das Fernsehen, wurden in die Fahndungsmaßnahmen eingebunden und die Bevölkerung zur Mitwirkung und Unterstützung aufgerufen. In Hessen und in vielen anderen Bundesländern sowie in West-Berlin kam es zu einem Verkehrschaos. Die Zustimmung in der Bevölkerung für die Fahndungsaktion war jedoch trotz massiver Grundrechtseingriffe groß, da die Anschläge der RAF die Menschen stark verunsichert hatten. Bei der „Aktion Wasserschlag“ selbst konnten keine RAF-Mitglieder festgenommen werden.

Festnahmen der RAF-Mitglieder

Bereits am nächsten Tag ging jedoch Herolds Plan auf. Mit Andreas Baader, Holger Meins und Jan-Carl Raspe tauchten drei führende RAF-Mitglieder am 1. Juni 1972 an der bereits seit Tagen beobachteten Garage im Hofeckweg in Frankfurt am Main auf. Die Polizei griff zu. Zunächst wehrten sich die RAF-Mitglieder, aber nachdem Baader durch einen Schuss in den Oberschenkel kampfunfähig war, ergaben sich alle drei RAF-Mitglieder der Polizei. Am 7. Juni 1972 konnte Gudrun Ensslin in der Boutique "Linette" in Hamburg durch den Hinweis einer Verkäuferin festgenommen werden. Ulrike Meinhofs Festnahme ereignete sich am 15. Juni 1972 in Hannover. Bis Mitte Juli 1972 konnten fast alle führenden RAF-Mitglieder inhaftiert werden. Der RAF schien zerschlagen, die Bundesrepublik als Sieger aus dem Kampf hervorgegangen zu sein. Wie fehlerhaft diese Einschätzung war, sollte sich in den nächsten Jahren zeigen.

Weitere Informationen zur Vorgeschichte der RAF in Hessen und zur Anschlagsserie „Mai-Offensive“ 1972 sind abrufbar in unserer Podcast-Reihe „Die RAF in Hessen – 50 Jahre „Mai-Offensive“ 1972“.