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27. März 1993: 30. Jahrestag des RAF-Sprengstoffanschlags auf den Gefängnisneubau in Weiterstadt bei Darmstadt

Am 27. März 1993, um 5:12 Uhr, kommt es in der hessischen Justizvollzugsanstalt (JVA) in Weiterstadt bei Darmstadt zu einer gewaltigen Explosion. 200 Kilogramm Sprengstoff, aufgeteilt auf mehrere Sprengsätze, explodieren und zerstören drei Unterkunftsgebäude sowie den Verwaltungstrakt der neugebauten JVA. Die JVA Weiterstadt war zu diesem Zeitpunkt eines der modernsten Gefängnisse in Europa und sollte ausschließlich als Untersuchungshaftanstalt genutzt werden. Die Inbetriebnahme der Einrichtung stand kurz bevor. Durch die massiven Explosionen wurden große Teile der Anlage schwer beschädigt. Es entstand ein Sachschaden von mindestens 80 Millionen Deutsche Mark, Schätzungen reichen bis zu einer Summe von 123 Millionen Deutsche Mark. Das „Kommando Katharina Hammerschmidt“ der Roten Armee Fraktion (RAF) bekannte sich zum Anschlag, bei dem keine Menschen verletzt oder getötet wurden.

Vorgeschichte des Anschlages

Mitte der 1980er Jahre kam es zu einem harten Bruch innerhalb der RAF. Mit der Verhaftung von Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt im November 1982 sowie der damit verbundenen Zerschlagung wichtiger Infrastruktur (Erddepots mit Waffen, Sprengstoffen, gefälschten Papieren etc.) für den sogenannten „bewaffneten Kampf“ durch die Ermittlungsbehörden endete ein wichtiges Kapitel der RAF-Geschichte. Die in der JVA in Stuttgart-Stammheim inhaftierten Führungskader der RAF hatten bereits im sogenannten „deutschen Herbst“ 1977 Selbstmord begangen. Die weiteren Anschlagsversuche und Morde Anfang der 1980er sowie die ideologische Neuausrichtung der RAF mit dem sogenannten „Mai-Papier“ von 1982 veränderten den Fokus der noch nicht inhaftierten Mitglieder im Untergrund für die kommenden Jahre. Die RAF wollte gemeinsam mit westeuropäischen bewaffneten Gruppen eine „antiimperialistische Front“ bilden und führte Anschläge gegen die in der Bundesrepublik Deutschland stationierten US-Soldaten durch. Weitere Attentate auf Vertreter der westdeutschen Industrie wurden immer professioneller und tödlicher durchgeführt. Ein Hauptziel blieb weiterhin, inhaftierte Mitglieder aus westdeutschen Gefängnissen zu befreien.

Es kam im gleichen Zeitraum jedoch vermehrt zu Spannungen zwischen den inhaftierten RAF-Mitgliedern in bundesdeutschen JVAs. Erste Selbstkritik von Teilen der RAF wurde durch den Mauerfall und die deutsche Wiedervereinigung ausgelöst. Besonders die Verhaftung der RAF-Mitglieder, die sich fast ein Jahrzehnt in der DDR versteckt hatten, und deren Aussagen bedeuteten weitere Erfolge für die Ermittlungsbehörden. Als dann der amtierende Justizminister Klaus Kinkel auf dem Dreikönigstreffen der Freien Demokratischen Partei (FDP) in Stuttgart im Januar 1992 die sogenannte „Kinkel-Initiative“ vorstellte, die im Kern auf der Idee beruhte, dass der Staat zur Deeskalation durch Versöhnung mit der RAF beitragen müsse, kam es zu einer Spaltung innerhalb der inhaftierten RAF-Mitglieder. Aufgrund der Kinkel-Initiative wurden im Zeitraum zwischen Januar 1992 und September 1993 acht Inhaftierte des RAF-Umfeldes aus der Haft entlassen. Exakt in diesen Zeitraum fiel der Anschlag auf die JVA Weiterstadt.

Anschlagsvorbereitungen und das Bekennerschreiben

Im April 1992 reagierten Mitglieder der RAF auf die „Kinkel-Initiative“ mit einer eigenen Erklärung: der sogenannten „Zäsurerklärung“, auch „April-Papier“ genannt. Darin erklärten Teile der nicht-inhaftierten RAF-Mitglieder, dass sie auf weitere tödliche Gewalttaten verzichten wollen, Angriffe auf Repräsentanten der Wirtschaft und des Staates eingestellt werden und dass es zu grundlegenden Diskussionen über die Möglichkeiten und Grenzen des „bewaffneten Kampfes“ kommen solle. Das zentrale Kampffeld, die Befreiung der inhaftierten RAF-Mitglieder, blieb jedoch von dieser Neuorientierung unangetastet.

Am 27. März 1993 gegen 1:30 Uhr kletterten mindestens drei Männer und eine Frau über die mehr als sechs Meter hohe Gefängnismauer und nahmen das Wachpersonal gefangen. Weitere Personen auf dem Gelände, die zum Zeitpunkt des Überfalls schliefen, wurden ebenfalls überrascht und gefesselt. Anschließend sperrten die Mitglieder der RAF das Personal in einen Kleinbus und parkten diesen außerhalb der Gefahrenzone. Die Kommandomitglieder achteten sehr darauf, dass keine Personen bei der Explosion zu Schaden kamen. Nach der Tat stahlen die RAF-Mitglieder einen Wagen und stellten diesen zusammen mit einem Bekennerschreiben in Mörfelden-Walldorf ab. Das RAF-Kommando forderte die Freilassung der noch inhaftierten RAF-Mitglieder.

Benannt war das Kommando nach Katharina Hammerschmidt, einem frühen RAF-Mitglied. Hammerschmidt war während ihrer Haft Anfang der 1970er Jahre an Krebs erkrankt, der zu spät durch die medizinische Abteilung der JVA diagnostiziert wurde. Sie starb 1975 und das Landgericht Berlin verurteilte das Land Berlin wegen „schuldhafter Verletzung der Amtspflicht“ zur Zahlung von 5000 Deutsche Mark an die Angehörigen Hammerschmidts. Damit stellte das Landgericht Berlin fest, dass die Gefängnisleitung eine Mitschuld an ihrem Tod trug. Die Geschichte von Katharina Hammerschmidt wurde durch die Benennung des RAF-Kommandos von Weiterstadt erneut thematisiert und medial rezipiert.

Bis heute konnten die Ermittlungsbehörden nicht zweifelsfrei feststellen, welche RAF-Mitglieder für den Anschlag verantwortlich waren. Die Fahnder gingen davon aus, dass Daniela Klette (geb. 1958), Ernst Volker Staub (geb. 1954), Burkhard Garweg (geb. 1968), Birgit Hogefeld (geb. 1956) und Wolfgang Grams (geb. 1953) beteiligt gewesen sein könnten. Es ist der letzte aufsehenerregende Anschlag der RAF vor ihrer Auflösung im Jahr 1998. Die Zerstörungen an der JVA Weiterstadt waren immens. Erst im Mai 1997 und einer Bauzeit von mehr als 12 Jahren konnte die Untersuchungshaftanstalt in Betrieb genommen werden.

Weitere Informationen zur Geschichte der RAF Anfang der 1970er Jahre finden Sie hier oder in unserer Podcast-Reihe "Die RAF in Hessen".

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