18. März 1922: 100. Geburtstag von Egon Karl-Heinz Bahr
Unter dem von ihm geprägten Leitgedanken „Wandel durch Annäherung“ war Egon Bahr einer der entscheidenden Vordenker und führender Mitgestalter der von der Regierung unter Willy Brandt ab 1969 eingeleiteten neu ausgerichteten Ost-und Deutschlandpolitik. „Unvoreingenommen“, sagte Bahr, wollte er die Wiedervereinigungspolitik neu durchdenken. Als Chefunterhändler und wichtigster Berater Brandts mit weitreichenden Vollmachten war Bahr an allen wesentlichen Verträgen der Brandt-Regierung beteiligt. Resultate dieser "Politik der kleinen Schritte" waren z.B. das Passierscheinabkommen und die Ostverträge, zu denen vor allem der Warschauer Vertrag, der Moskauer Vertrag, das Viermächteabkommen, das Transitabkommen und der Grundlagenvertrag zählen.
Verdienste und Irrungen liegen bei Bahr – wie bei vielen Politikern – eng beieinander. Denn heute wird geflissentlich übersehen, dass Willy Brandt und sein Unterhändler Bahr bei den Verträgen über eine Normalisierung der Beziehungen mit den Regierungen in Moskau, Warschau und Berlin (Ost) aus einer Position der Stärke heraus verhandeln konnten. Der Wehretat der Bundesrepublik lag damals über vier Prozent vom BIP, fast drei Mal so hoch wie heute. Mehrere Hunderttausend Soldaten der Alliierten schützten den kalten Frieden. Egon Bahr, ein brillanter Denker, verlor das eigentliche Ziel des Wandels aus dem Auge. Währenddessen gerieten die Annäherung an die SED-Diktatur in der DDR und an die Moskauer Kreml-Führung immer mehr zum Selbstzweck. Bahr fiel aus der Zeit: Ein Jahr vor der Friedlichen Revolution in der DDR nannte er im Herbst 1988 den Glauben an die Wiedervereinigung „Heuchelei“ und „politische Umweltverschmutzung“. Und direkt nach dem Mauerfall wollte oder konnte er bestimmte Optionen nicht mehr sehen und bezeichnete es als „Lebenslüge, über Wiedervereinigung zu reden“.
Kindheit, Einschränkungen, Krieg und Neuanfang nach 1945
Egon Karl-Heinz Bahr, am 18. März 1922 in Treffurt (Thüringen) geboren, musste mit seiner Familie nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten zahlreiche Einschränkungen und Bedrohungen ertragen, da seine Großmutter mütterlicherseits Jüdin war. Sein Vater sollte sich von seiner Frau scheiden lassen. Da er dies ablehnte, musste er seinen Beruf als Lehrer aufgeben und wurde gleich zu Beginn des Zweiten Weltkrieges zur Wehrmacht eingezogen. Zwei von Bahrs Onkeln mussten vor den Nazis fliehen, einer der beiden war im KZ Oranienburg inhaftiert. 1938 zog die Familie von Torgau (Sachsen) nach Berlin um. 1940 legte Bahr das Abitur am Helmholtz-Gymnasium in Berlin-Friedenau ab. Wegen seiner jüdischen Vorfahrin konnte der musikalisch begabte Bahr nicht Klavier studieren. Notgedrungen machte er eine Ausbildung zum Industriekaufmann bei der Rheinmetall Borsig AG in Berlin. 1941 meldete er sich freiwillig zur Luftwaffe, um nicht zur Infanterie einberufen zu werden. 1944 wurde er wegen seiner „nichtarischen Abstammung" aus der Wehrmacht entlassen und als „Rüstungsarbeiter" bei Rheinmetall Borsig dienstverpflichtet.
Nach dem Krieg arbeitete Bahr zunächst als Journalist bei der Berliner Zeitung, der Allgemeinen Zeitung und anderen Presseorganen.1950 wurde er Chefkommentator des Rundfunksenders RIAS Berlin und Leiter von dessen Büro in Bonn. 1956 trat er der SPD bei.
Eintritt in die Politik als engster Berater und Mitarbeiter Willy Brandts
Im Februar 1960 berief ihn der Berliner Regierende Bürgermeister Willy Brandt zum Leiter des Presse- und Informationsamtes des Landes Berlin. In dieser Funktion arbeitete er bis Dezember 1966. Brandt – mittlerweile Außenminister und Vizekanzler in der ersten Großen Koalition im Kabinett Kiesinger – holte ihn 1967 als Sonderbotschafter ins Auswärtige Amt. Anschließend wurde Bahr Ministerialdirektor im Planungsstab des Auswärtigen Amts, ab Oktober 1969 bis 1972 Staatssekretär im Kanzleramt unter Bundeskanzler Willy Brandt und zwischen 1972 und 1974 zugleich Bundesminister für besondere Aufgaben.
Egon Bahr und Willy Brandt, die lebenslang eng miteinander befreundet waren, verband der tiefe Wunsch nach Frieden und Verständigung. Ihre daraus resultierende Ostpolitik ermöglichte es, dass der Kontakt zum damaligen Ostblock auch während des Kalten Kriegs nicht abriss und sich die Bundesrepublik und die DDR einander annäherten. Das Ergebnis waren Verträge über einen gegenseitigen Gewaltverzicht und „gutnachbarliche Beziehungen".
Neue Ost- und Friedenspolitik
Seit Ende der 1960er-Jahre verfolgten die Supermächte USA und Sowjetunion eine Entspannungspolitik im Ost-West-Konflikt. 1968 schlossen sie den Vertrag über die Nichtverbreitung von Atomwaffen. 1969 begannen Gespräche über die Begrenzung strategischer Rüstung (SALT).
In diesen gesamthistorischen Rahmen fiel die neue Ostpolitik, die Bahr und Brandt entwickelt hatten. Schritt für Schritt setzten sie das von Bahr schon 1963 auf die Formel „Wandel durch Annäherung“ gebrachte Ziel friedlicher Beziehungen zum Warschauer Pakt um: Unter Bahrs Verhandlungsführung wurde im August 1970 der Moskauer Vertrag abgeschlossen. In ihm verpflichteten sich die Sowjetunion und die Bundesrepublik Deutschland zum gegenseitigen Gewaltverzicht und der Unverletzlichkeit der Grenzen. Vier Monate später unterzeichnete Bahr im Dezember 1970 den „Warschauer Vertrag" mit der Volksrepublik Polen. Sieben weitere Verträge folgten, darunter das „Viermächteabkommen über Berlin“ (1971), der „Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik" (1972) und der Prager Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechoslowakei (1973), der die Nichtigkeit des Münchner Abkommens von 1938 erklärte. Sämtliche Verträge kamen maßgeblich durch Bahrs Verhandlungen statt.
Die neue Ostpolitik der Regierungskoalition aus SPD und FDP wurde vor allem von der CDU/CSU kritisiert, die aus ihrer Sicht im Widerspruch zu der von Adenauer geförderten Westanbindung und -integration stand. Wenige Jahre später jedoch betrachteten alle im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien die abgeschlossenen Verträge als Grundlage der Deutschland- und Ostpolitik.
SPD-Parteiämter
1973 kandidierte er erfolgreich für den schleswig-holsteinischen Landesvorstand. Von 1976 bis 1981 war er unter dem Parteivorsitzenden Brandt Bundesgeschäftsführer seiner Partei. In dieser Funktion vertrat er eine Abgrenzungspolitik gegenüber der äußersten Parteilinken. Von 1976 an gehörte er auch dem Parteipräsidium an und wurde 1987 Vorsitzender der sicherheitspolitischen Kommission der SPD. Von 1979 bis 2000 prägte er als Vorstandsmitglied der Friedrich-Ebert-Stiftung deren internationale Arbeit.
Bundestagsabgeordneter und Mitglied der Bundesregierung
Von 1972 bis 1990 war Bahr Bundestagsabgeordneter; in den Jahren von 1976 bis 1983 als Abgeordneter des Wahlkreises Flensburg-Schleswig und anschließend über die Landesliste Schleswig-Holstein. Ab 1980 leitete er als Vorsitzender den Unterausschuss für Abrüstung und Rüstungskontrolle im Bundestag. Nach dem Rücktritt Brandts schied auch Bahr 1974 aus der Bundesregierung aus, wurde aber im gleichen Jahr Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit im Kabinett von Bundeskanzler Helmut Schmidt. 1976 schied Bahr endgültig aus der Bundesregierung aus.
Von 1980 bis 1982 gehörte Bahr der von dem schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme initiierten und geleiteten „Unabhängigen internationalen Kommission für Abrüstung und gemeinsame Sicherheit" an. Ab September 1984 war Bahr Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg.
Egon Bahr erhielt zahlreiche Ehrungen, u.a. 1973 das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland, 1976 der Theodor-Heuss-Preis und 1982 der Gustav-Heinemann-Bürgerpreis. 2002 verlieh ihm die Stadt Berlin die Ehrenbürgerwürde.
Verheiratet war Egon Bahr mit Dorothea Grob (1945 bis 2011), aus deren Ehe ein Sohn und eine Tochter hervorgingen. 1977 trennten sie sich, blieben aber bis zu ihrem Tod 2011 verheiratet. Von 1977 bis 2002 war Christiane Leonhardt seine Lebensgefährtin. Seit 2011 war er in zweiter Ehe mit Adelheid Bahr verheiratet. Am 20. August 2015 starb Bahr in Berlin.
Bei der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung können folgende Publikationen zum Thema bestellt werden:
W. Maron/J. Plöger: Deutschland seit 1945
T. Brachenmacher: Die Bonner Republik
H. Sarkowicz (Hg.): Es lebe unsere Demokratie!