5. November 1872: 152. Jahrestag von Victoria Woodhulls Kandidatur als US-Präsidentin
1872 hatten Frauen in den USA noch kein Wahlrecht, doch das hielt Victoria Woodhull nicht davon ab, für das Präsidentschaftsamt zu kandidieren. Den Wahltag verbrachte die Pionierin allerdings im Gefängnis.
Victoria Claflin Woodhull beschritt in ihrem Leben immer wieder ungewöhnliche Wege: Sie war Wahrsagerin, Aktienhändlerin, Verlegerin und die erste Frau, die 1872 für das US-Präsidentschaftsamt kandidierte. Ihr Wahlprogramm war ihrer Zeit weit voraus. Woodhull forderte Gleichberechtigung, Lohngleichheit, Krankenversicherung für alle und Gefängnisreformen – Themen, die auch eineinhalb Jahrhunderte später diskutiert werden.
Auch die Bewerberin selbst war ungewöhnlich. Woodhull hatte nach eigenen Angaben keinerlei Schulbildung genossen, war in zweiter Ehe verheiratet, zog einen Sohn mit Behinderung groß und hatte einen sehr gewundenen Karriereweg. In ihren Dreißigern hatte sie als Tänzerin zu arbeiten begonnen, später verdingte sie sich als Heilerin, war als erste Frau Brokerin an der New Yorker Wall Street und gab mit ihrer Schwester Tennessee Claflin die Wochenzeitung “Woodhull und Claflin’s Weekly” heraus, in der sie für Frauenrechte, „freie Liebe“ und sozialistische Ideen warb.
Schwester Tennessee war eine ihrer wichtigsten Bezugspersonen. Die beiden waren mit acht Geschwistern in einem von Armut geprägten Haushalt aufgewachsen. Weil die Eltern ihnen wenig emotionale Sicherheit boten, rückten die Schwestern umso enger zusammen.
Victoria ging mit 15 - wohl auch, um dem Elternhaus zu entfliehen - ihre erste Ehe ein. Ehemann Canning Woodhull hatte Suchtprobleme; eines der beiden gemeinsamen Kinder kam geistig behindert zur Welt. Als die junge Frau sich Geld als Heilerin hinzuverdiente, nahm der Ehemann ihr das Geld ab, um seine Geliebten zu versorgen. Woodhull ließ sich schließlich scheiden.
In zweiter Ehe mit einem Bürgerkriegsveteran verheiratet, zog Woodhull 1865 nach New York und nahm Schwester Tennessee mit. Die beiden arbeiteten als Medien, die Kontakt zu Verstorbenen aufnahmen, und freundeten sich mit dem Eisenbahn-Unternehmer Cornelius Vanderbilt an. Mit seiner Unterstützung eröffneten die Schwestern als erste Frauen ein Aktienhändlerinnen-Büro an der New Yorker Börse.
Zusätzlich begann das Duo, eine eigene Zeitung herauszugeben. Dort wurden Woodhulls Artikel zunehmend feministisch. Woodhull kritisierte die „sexuelle Sklaverei“ der Frauen. Sie wetterte, dass untreue Frauen gesellschaftlich stigmatisiert wurden, Untreue bei Männern hingegen gesellschaftlich akzeptiert war. Sie forderte gleiche Rechte für Frauen in Liebesbeziehungen und “freie Liebe”: die Entscheidungshoheit, wen Frauen lieben und heiraten oder ob sie sich scheiden lassen wollten.
Damit erregte sie die Aufmerksamkeit der Frauenrechtlerinnen Susan B. Anthony und Elizabeth Cady Stanton. Doch die Allianz mit den amerikanischen Suffragetten war nicht von Dauer. Woodhull waren Anthony und Co. nicht fordernd genug, die Frauenrechtlerinnen wiederum fanden ihr Vorgehen zu forsch. Prompt gründete Woodhull die “Equal Rights Party” und beschloss, sich ihre Rechte einfach zu nehmen.
Wie das aussah, verkündete sie am 2. April 1870 im New York Herald: Sie werde für die Präsidentschaftswahl 1872 als Kandidatin antreten. Wenige Monate später wurde sie als eine der ersten Frauen für eine Stellungnahme vor den juristischen Ausschuss des Repräsentantenhauses geladen. Dort erklärte sie den versammelten Politikern, dass Paragraf 14 der Verfassung, der allen in den USA geborenen Bürgern das Wahlrecht zusprach, de facto auch Frauen zur Wahl ermächtigte. “Frauen sind vor dem Gesetz mit Männern gleichgestellt und haben genau die gleichen Rechte”, so Woodhull.
1872 offiziell von ihrer “Equal Rights Party” als Präsidentschaftskandidatin nominiert, erklärte sie den einstigen Versklavten Frederick Douglass als ihre Wahl für den Posten des Vize-Präsidenten und verdeutlichte auf diese Weise: Mit dem Wahlrecht für Frauen forderte sie ein Recht, dass man Schwarzen bereits zugesprochen hatte.
In weiten Teilen der Presse und beim politischen Establishment kam Woodhulls Kandidatur nicht gut an. Die Medien nannten sie “Mrs. Satan”, Karikaturen zeigten sie mit Teufelshörnern. Auch stark religiöse Wählerinnen und Wähler lehnten die unabhängig und unkonventionell lebende Kandidatin ab, etwa die tief gläubige Autorin Harriet Beecher Stowe, die “Onkel Toms Hütte” geschrieben hatte. Als Woodhull erfuhr, dass Beecher Stowes Bruder, Priester Henry Ward Beecher, eine Beziehung mit einem verheirateten Mitglied seiner Kirchengemeinde hatte, machte sie den Skandal in ihrem Magazin publik - und machte sich damit nur noch mehr Feinde.
Die Sittenwächter stuften ihre Enthüllungsstory als obszön ein und beschuldigten die Schwestern der illegalen Verbreitung von pornografischem Material. Drei Tage vor der US-Präsidentschaftswahl 1872 wurden die beiden Frauen verhaftet.
Weil Woodhulls Name auf den Wahlzetteln mancher Bundesstaaten gar nicht auftauchte und in anderen Staaten Stimmzettel vernichtet wurden, lässt sich nicht mehr ermitteln, wie viele Stimmen die Pionierin bei der Präsidentschaftswahl bekam. Amtsinhaber Ulysses S. Grant wurde für eine zweite Amtszeit gewählt. Dass Woodhull von der rein männlichen Wählerschaft genug Stimmen bekommen hätte, ist zweifelhaft. Hätte sie gewonnen, wäre sie bei ihrer Amtseinführung 34 Jahre alt gewesen - die US-Verfassung schrieb jedoch ein Mindestalter von 35 Jahren für das Amt vor.
Victoria Woodhull und Tennessee Claflin wurden erst nach rund einem Monat aus dem Gefängnis entlassen. Zwei weitere Präsidentschaftskandidaturen in den folgenden Jahren blieben erfolglos. Die Schwestern emigrierten 1876 nach Großbritannien, wo Woodhull ein drittes Mal heiratete und als Autorin und Rednerin arbeitete. Sie starb 1927, sieben Jahre, nachdem Frauen in den USA endlich das Wahlrecht erstritten hatten. Auch wenn ihr Kampf um den Einzug ins Weiße Haus nicht von Erfolg gekrönt war - Woodhulls Kandidatur war historisch.