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11. September 1971: 50. Todestag des „Nach-Stalin“ Nikita Chruschtschow

Kommunistischer Bauerntrampel, mutiger Entstalinisierer oder geschickter Machtpolitiker?

Nach Stalins Tod im März 1953 begann unter Chruschtschow eine neue Ära in der Sowjetunion: Entstalinisierung, Reformen und Kampagnen sollten gesellschaftliche Kräfte freisetzen – mit manchmal überraschenden Folgewirkungen. Gleichzeitig rang die kommunistische Sowjetunion im Kalten Krieg mit den USA um Weltgeltung. Chruschtschow galt als kluger Machtpolitiker und Meister der sozialistischen Rhetorik. Neben Gorbatschow wird er als Reformkommunist gehandelt. Währenddessen sehen andere Gorbatschow und ihn als Neuer-Weg-Sucher zum Machterhalt des kommunistischen Systems.

Nikita Sergejewitsch Chruschtschow wurde nach julianischem Kalender am 3. April 1894 in Kalinowka im russischen Kaiserreich als Sohn eines Gruben- und Landarbeiters geboren. Nach nur vierjähriger Schulzeit begann er mit 13 Jahren im Bergwerk im Donbass zu arbeiten. 1918 war er in die Kommunistische Partei eingetreten, für die er in den Bürgerkrieg zog und in den 1920er-Jahren im Donbass Politarbeit leistete. Die Bekanntschaft mit Stalins damaliger Ehefrau Nadeschda Allilujewa brachte ihn innerhalb der Kommunistischen Partei schnell nach oben, sodass er 1931 Parteichef des Industriebezirks Krasnaja Presnja, eines der wichtigsten Parteibezirke Moskaus wurde. 1934 wurde er auf dem XVII. Parteitag ins Zentralkomitee (ZK) der KPdSU gewählt, dessen Mitglied er bis 1966 war. Ab 1935 war er für die Neubauten in Moskau verantwortlich, darunter auch der Bau der Moskauer Metro, wofür er seinen ersten Leninorden erhielt. Von 1938 bis 1939 wurde Chruschtschow an Stelle des im Rahmen der Stalinschen „Säuberungen“ erschossenen Pawel Postyschew Kandidat des Politbüros der KPdSU. Chruschtschow löste zudem Stanislaw Kossior, der 1939 ebenfalls im Rahmen der „Säuberungen“ erschossen worden war, als Parteichef der Ukraine ab. Ebenso wie alle anderen überlebenden Politbüromitglieder hatte er die Stalinschen Säuberungen aktiv unterstützt. 1939 stieg er als Vollmitglied in das höchste politische Gremium der UdSSR auf. Vom 22. März 1939 bis 14. Oktober 1964 war er Mitglied im Politbüro der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU).

Nach dem Tod Stalins im März 1953 wurde er im September Chef der KPdSU. 1956 leitete er auf einem Parteitag der KPdSU durch eine Geheimrede die Entstalinisierung ein. Chruschtschow thematisierte den Terror gegen die Delegierten des XVII. Parteitags, von denen Stalin 70 Prozent ermorden ließ, die Deportation der Ethnien, den Personenkult und Stalins Fehlentscheidungen im Krieg, die Tausende von Soldaten mit dem Leben bezahlt hatten. Tabu blieben die Entkulakisierung und Kollektivierung sowie die Schauprozesse. Chruschtschow unterteilte Stalin in einen „guten“ Parteiführer, der bis 1934 das Land aufgebaut hätte, und einen „schlechten“, der auf Grund persönlicher Charakterzüge ab 1935 begann, das Land zu terrorisieren. Die „Geheimrede“, wie sie im Westen genannt wurde, war nur für die Parteiöffentlichkeit bestimmt. Erst später entschloss sich das Präsidium der kommunistischen Partei, am 28. März eine Zusammenfassung in der Prawda zu veröffentlichen. Darin rief die Partei auf, die „sozialistische Rechtsstaatlichkeit“ und die „Kollektivführung“ in allen Bereichen der Gesellschaft wiederherzustellen. Sie ermutigte zu „Kritik und Selbstkritik“, um den Personenkult zu überwinden, warnte aber gleichzeitig eindringlich, diesen Prozess zur Diffamierung von Staat und Partei zu missbrauchen. Chruschtschows kulturelles Tauwetter und die Entstalinisierungspolitik gingen allerdings mit verstärkten politischen Repressionen einher. Während es in den Jahren 1955/56 nur in Einzelfällen zu politischen Verurteilungen kam, wurden in einer neuerlichen Repressionswelle 1957/58 rund 2.000 Personen wegen „antisowjetischer Agitation und Propaganda“ zu Lagerhaft verurteilt. Im Unterschied zum Stalinschen Massenterror richteten sich Chruschtschows Kampagnen gezielt gegen Regimekritiker und Andersdenkende.

1958 wurde er auch Vorsitzender des Ministerrats und damit Regierungschef der Sowjetunion. Er initiierte zahllose Reformen, vor allem in Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik, Bildung und Kultur. Allerdings blieben viele Prognosen und Ankündigungen unerfüllt. Außenpolitisch propagierte er die friedliche Koexistenz mit dem Westen, war aber gleichzeitig dessen schwieriger Konterpart und strebte durch Raketentechnik und Aufrüstung die globale Führungsrolle der UdSSR an. Es schien so, als eilte die Sowjetmacht von Erfolg zu Erfolg. Vollmundig hatte der Kremlchef verkündet, die UdSSR werde die USA „ein- und überholen“. 1962 konnte in der Kuba-Krise nur knapp ein Krieg mit den USA vermieden werden. Chruschtschow wirkte im Wettlauf mit der Demokratie der USA zunehmend wie der Verlierer. Die Führung der KPdSU setzte ihn am 14. Oktober 1964 ab. Der Nachfolger von Josef Stalin hatte viel versprochen, aber zu wenig gehalten. Neuer Ministerpräsident wurde Alexej Kossygin, an die Spitze der Partei trat Leonid Breschnew. Chruschtschow, der zuletzt zurückgezogen auf seiner Datscha bei Moskau lebte, starb am 11. September 1971.

Die nach dem Roman von Ilja Ehrenburg „Tauwetter“ benannte Ära Chruschtschow galt lange Zeit als ungetrübte Befreiung der sowjetischen Gesellschaft, die dank Chruschtschow den Alptraum Stalins abschütteln konnte. Heute gibt es Stimmen, die Chruschtschow viel kritischer sehen. Klar ist, dass die sowjetische Gesellschaft in ihren Normen und Werten, Feindbildern und Heldengeschichten so stark durch den Stalinschen Propagandaapparat geprägt war, dass diese Vorstellungen zumindest teilweise weiterwirkten.