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1. Dezember 2021: 75. Jahrestag des Inkrafttretens der Verfassung des Landes Hessen

Nach der Kapitulation im Zweiten Weltkrieg teilten die Siegermächte Deutschland in eine amerikanische, britische, französische und sowjetische Besatzungszone auf. Früher und konsequenter als die anderen Besatzungsmächte begannen die Amerikaner, den demokratischen Wiederaufbau in ihrer Zone voranzutreiben. Mit der von General Dwight D. Eisenhower im Frankfurter IG-Farben-Haus unterzeichneten Proklamation Nr. 2 gründete die amerikanische Militärregierung den neuen Staat „Groß-Hessen“, der sich im Wesentlichen aus den früheren preußischen Provinzen Kurhessen und Nassau sowie dem früheren „Volksstaat Hessen“ zusammensetzte. Mit der neuen Verfassung vom 1. Dezember 1946 entstand das „Land Hessen“.

Am 4. Februar 1946 legte die amerikanische Militärregierung einen Zeitplan zur Ausarbeitung einer Verfassung fest, an dessen Ende eine Volksabstimmung stehen sollte. Zunächst ernannte sie den „Vorbereitenden Landesausschuss“. Er erarbeitete das „Wahlgesetz für die „Verfassungsberatende Landesversammlung Groß-Hessische Landesversammlung“. Auf dessen Grundlage wurden bei den ersten landesweiten Wahlen am 30. Juni 1946 90 Abgeordnete gewählt, darunter nur vier Frauen. Aus ihr ging ein Verfassungsausschuss mit 29 Abgeordneten hervor, der ab dem 7. August einen Verfassungsentwurf erarbeitete. Der Ausschuss setzte sich aus 13 Abgeordneten der SPD, 10 der CDU sowie je 3 der KPD und LDP (Liberal-Demokratische Partei Deutschlands) zusammen.
In den Beratungen zwischen SPD, CDU, KPD und LDP spielten die Erfahrungen mit der Weimarer Reichsverfassung eine entscheidende Rolle. Man wollte eine demokratische Verfassung erarbeiten, die die Stellung des Parlaments betonte und diktatorische Entwicklungen verhindern sollte. Dabei trafen allerdings sehr unterschiedliche Standpunkte aufeinander: So befürworteten CDU und LDP das Amt des Staatspräsidenten. Weitere Diskussionen drehten sich darum, ob es eine zweite Kammer geben sollte. Umstritten war ferner, ob die Bereiche Bergbau, Eisen und Stahl sowie Energie und Verkehr verstaatlicht werden sollten, wofür sich SPD und KPD aussprachen.
Im Ergebnis setzte sich die CDU nicht mit ihrer Forderung nach einem Staatspräsidenten durch. Unter dem Vorbehalt eines Gesetzes wurde ein Zweikammersystem abgelehnt (Art. 155) und in Artikel 41 wurde die Sozialisierung von Schlüsselindustrien bestimmt. Letztere wurde in einer gesondert abgehaltenen Volksabstimmung mit 72 Prozent der Stimmen angenommen. Dieser Passus gilt weiterhin, ist aber seit Inkrafttreten des Grundgesetzes weitgehend gegenstandslos geworden.
Verfassungsrang erlangten insbesondere die Anerkennung der Würde und Persönlichkeit des Menschen, das Recht auf Arbeit, der Achtstundentag, ein zwölftägiger Mindesturlaub und das Streikrecht, dem jedoch nicht das Recht auf Aussperrung seitens eines Arbeitgebers gegenüberstand.

Die in wenigen Monaten erarbeitete Hessische Verfassung wurde schließlich in drei Lesungen beraten und am 29. Oktober 1946 von dem stellvertretenden amerikanischen Militärgouverneur General Lucius C. Clay mit geringfügigen Änderungen genehmigt. Die von ihm verlangte Volksabstimmung fand am 1. Dezember 1946 statt. Mit 76,4 Prozent der hessischen Wähler wurde die Verfassung angenommen und trat am gleichen Tag in Kraft. Damit war sie die zweite deutsche Landesverfassung der Nachkriegszeit in der amerikanischen Zone. Württemberg-Baden hatte sich zwei Tage zuvor, am 28. November 1946, eine neue Landesverfassung gegeben.
Große Verfassungsänderungen gab es bis 2018 nur wenige. In der Frage zur Verfassungsmäßigkeit der Einführung von Studiengebühren kam 2008 ein einzigartiges Instrument der Hessischen Verfassung zum Tragen. Denn von allen Bundesländern Deutschlands kennt nur Hessen ein Normenkontrollverfahren. Mit der sogenannten „Volksklage“ wurde Art. 59 HV überprüft und am 11. Juni 2008 von den Richtern des Staatsgerichtshofs mehrheitlich für erfassungskonform erklärt, sodass Studiengebühren zulässig wurden.
Mit der Volksabstimmung am 28. Oktober 2018 wurden bei einer Wahlbeteiligung von 67,1 Prozent 15 Verfassungsänderungen angenommen. Die Todesstrafe, die nach Art. 21, Abs. 1 HV für besonders schwere Verbrechen zur Anwendung kommen konnte, wurde abgeschafft. Unwirksam war sie jedoch bereits seit 1949 durch das Inkrafttreten des Grundgesetzes. Weitere Änderungen betrafen u.a. eine genauere Definition des Staatszielbegriffs und die Aufnahme von Kultur-, Ehrenamts- und Sportförderung als Staatsziele, die staatliche Förderung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern, die Stärkung der Kinderrechte, die Senkung des Mindestalters für das passive Wahlrecht bei Landtagswahlen von 21 auf 18 Jahre, die Senkung des Quorums für Volksbegehren und das informationelle Selbstbestimmungsrecht.
Damit wurde die älteste bestehende Landesverfassung Deutschlands in Teilen an die heutige Zeit angepasst. Der Hessische Landtag resümierte es im Juni 2021 so: „Dass (…) sie größtenteils immer noch gültig ist, lässt auf die Weitsicht, Erfahrenheit und Sorgfalt seiner Autorinnen und Autoren schließen. Dazu darf man Hessen heute noch gratulieren.“

Zum 75. Jahrestag der Hessischen Verfassung wurde auch eine umfangreiche Ausstellung entwickelt, die im Vonderau Museum in Fulda bis Oktober 2021 zu sehen war und nun als Wanderausstellung bereit steht.

Bei der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung können u. a. folgende Publikationen zum Thema bestellt werden: