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Vier Fragen zum derzeitigen Krieg zwischen Israel und der Hamas

Die Nachrichten vom großangelegten Angriff der palästinensischen Hamas auf Israel am 7. Oktober haben Menschen weltweit schockiert. Häufig ist von Sprachlosigkeit angesichts des Geschehens die Rede. Vergleiche mit dem 11. September 2001 betonen die Eigenschaft einer Zäsur, die die Geschichte nicht nur Israels in ein davor und danach teilt, während die Rede vom Pogrom Gewicht auf die Brutalität der Massenmorde an Zivilisten legt.

Die Ereignisse lassen sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht umfassend darstellen, geschweige denn, in ihren Auswirkungen absehen. Im Folgenden sollen Interessierten einzelne Grundlagen zur ersten Orientierung angesichts der Nachrichtenlage an die Hand gegeben werden. Eine Einführung in den arabisch-israelischen Konflikt in seiner Gesamtheit und Komplexität kann an dieser Stelle nicht erfolgen.

Das Wort „Hamas“ bedeutet aus dem Arabischen übersetzt „Eifer“ oder „Kampfgeist“, ist aber gleichzeitig auch das Kurzwort für „Islamische Widerstandsbewegung“. Die sunnitisch-islamistische Bewegung wird u. a. von der Europäischen Union und den USA als Terrororganisation eingestuft. Sie gründete sich im Zuge der Ersten Intifada (1987-1993) als palästinensischer Ableger der ägyptischen Muslimbruderschaft vornehmlich in Gaza.

Die Muslimbruderschaft ist eine islamistische politische und soziale Bewegung, die 1928 in Ismailia gegründet wurde. Sie verfolgt das Ziel, eine auf den Prinzipien ihrer Interpretation des Islams basierende Gesellschaft zu errichten. Als Erste und Zweite Intifada werden zwei sehr unterschiedliche Phasen innerhalb des Konflikts zwischen Israel und den Palästinensern bezeichnet (1987-1993, 2000-2005). Das Wort bedeutet übersetzt „Erhebung“. Während die Erste Intifada vor allem Aufstände in Form von Streiks, Protesten und Unruhen – aber auch anderen Formen politischer Gewalt – aus den palästinensischen Bevölkerungszentren zeitigte, definierte sich die Zweite Intifada durch Bombenanschläge und Selbstmordattentate insbesondere auch im israelischen Kernland. Wobei Zweiteres nicht zuletzt auf das Wirken von Hamas zurückzuführen ist. Auf beide Intifadas mit ihren unterschiedlichen Ausprägungen reagierte das israelische Militär mit massiver Gegengewalt.

In ihrer mit der Gründung veröffentlichten Charta definiert die Hamas ihre politischen und militärischen Ziele: die Vernichtung des Staates Israel und die Errichtung eines islamischen Staates Palästina, wobei diese als unabdingbare Zwischenziele auf dem Weg zu einer letztlichen islamischen Weltherrschaft verstanden werden. Diese Ziele will sie ausschließlich kriegerisch erreichen, politische Verhandlungen sind nur innerhalb einer militärischen Gesamtstrategie denkbar. Kompromisse im Landkonflikt mit Israel bewertet die Charta nicht nur als Verrat an der palästinensischen Nation, sondern am muslimischen Glauben schlechthin.  Der Text ist geprägt von Verschwörungserzählungen. Er zitiert Mythen und Werke des europäischen Judenhasses und vermengt sie mit Motiven der islamischen Tradition. Die mit diesem Antisemitismus verbundene Erlösungsvorstellung reicht in ihren Ambitionen weit über die Fragen des israelisch-palästinensischen Konflikts hinaus. Inwiefern die Programmatik der Charta allerdings noch als repräsentativ für das tatsächliche Agieren der Hamas angesehen werden kann, war (zumindest bis zum 7. Oktober 2023) Gegenstand wissenschaftlicher und politischer Auseinandersetzung. Spätestens seit ihrer Machtergreifung in Gaza 2007 (s.u.) bestanden auch bei manchen westlichen Beobachtern Hoffnungen auf eine realpolitische Mäßigung der Hamas. Im Jahr 2017 veröffentlichte die Organisation ein Grundsatzpapier, das teilweise als moderater gegenüber der Gründungscharta gedeutet wurde, auch wenn dieses die grundsätzlichen Ziele unberührt ließ.

Mit Raketenangriffen aus dem Gazastreifen und Anschlägen in Israel versuchte die Hamas beständig, ihre Ziele zu verfolgen. Über die sogenannte „Gaza-Metro“, ein weit verzweigtes unterirdisches Tunnelsystem, das bis auf israelisches Gebiet reicht, versuchte sie in der Vergangenheit schon, Geiseln zu nehmen.

Die Hamas gliedert sich in verschiedene Organisationseinheiten, von denen einige öffentlich und andere verdeckt agieren. Der Schura-Rat ist das wichtigste Organ, allerdings sind nicht alle seiner Mitglieder namentlich bekannt. Der Rat gibt die politische und militärische Strategie vor und ernennt die Mitglieder des Politbüros. Seit 2017 ist Ismail Haniyya Vorsitzender des Politbüros. Er lebt in Katar und organisiert die Hamas von dort aus. Die wohl bekannteste militärische Unterorganisation der Hamas sind die Kassam-Brigaden, die an den meisten Anschlägen und Angriffen beteiligt sind. Die Mitgliederzahl der Hamas wird auf 80.000 geschätzt.

Seit 2002 wird die Hamas von der EU als Terrororganisation gelistet, was auch vom Europäischen Gerichtshof bestätigt wurde. In seiner Regierungserklärung vom 12. 10. 2023 kündigte Bundeskanzler Olaf Scholz darüber hinaus ein Betätigungsverbot für die Hamas in Deutschland an. Für Organisationen, die auf der EU-Terrorliste stehen, besteht grundsätzlich ein Verbot der Propagandamittel. Das Zeigen der Hamas-Fahne, etwa auf Demonstrationen, stellte daher schon zuvor eine Straftat dar, die mit bis zu drei Jahren Freiheitsentzug oder Geldstrafe geahndet werden kann. Die Fahne der Hamas zeigt in Form einer weißen Kalligrafie das islamische Glaubensbekenntnis, die Schahada, auf grünem Grund. Grün gilt als die Farbe des Islams. Im Gegensatz zur schlicht gehaltenen Fahne zeigt das Emblem der Hamas eine Kombination zu interpretierender Symbole. Im Zentrum zeigt es zwei gekreuzte Schwerter vor dem Jerusalemer Felsendom, dem zentralen muslimischen Sakralbau in der Region Palästina und Jordanien. Umrahmt wird dieser von einem Kranz wehender Fahnen in den Farben Palästinas: schwarzer, weißer und grüner Querbalken sowie ein vom linken Rand hereinragendes rotes Dreieck. Diese Farbkombination steht ursprünglich in der Tradition des nationalistischen Panarabismus, zu dem die islamistische Linie von Muslimbruderschaft und Hamas in Opposition gegründet wurde. Im Logo der Hamas werden die Fahnen mit der Schahada überschrieben, die palästinensische Nationalidentität und ihre Fahne werden somit im Sinne ihrer Charta als Träger eines letztlich religiösen Auftrags (um)gedeutet. Über dem Felsendom schwebt in Grün der Umriss des ehemaligen britischen Mandatsgebiets Palästina, das den Gazastreifen, das Westjordanland und den heutigen Staat Israel umfasst. Als politisches Symbol, und nicht als historisches Dokument, formuliert diese Karte die radikale Negation der israelischen Existenz. Dieses Ensemble wird umschlungen von einer grünen Banderole mit dem vollständigen arabischen Namen der Hamas (harakat al-muqāwamat al-islāmiyya): „Islamische Widerstandsbewegung“. Darüber schwebt auf weißem Grund die lokale Verortung: „Palästina“.

Der Gaza-Streifen ist ein Küstengebiet von etwa der Größe Bremens am östlichen Rand des Mittelmeers, dessen Grenzverlauf sich aus den Waffenstillstandslinien zwischen der israelischen und der ägyptischen Armee am Ende des ersten arabisch-israelischen Kriegs (1948-1949) ergibt. Bis 1967 stand es unter der Hoheit Ägyptens, das es aber seinem Territorium nicht offiziell einverleibte. Im Sechstagekrieg eroberte Israel den Küstenstreifen, bis 2005 lebten dort neben der arabischen Bevölkerung auch ca. 8000 israelische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger als sogenannte Siedler. Im Rahmen des Osloer-Friedensprozesses stellte das Gaza-Jericho-Abkommen im Jahr 1994 den Gazastreifen größtenteils unter palästinensische Selbstkontrolle. Die israelische Armee sollte aber dennoch bis zu einem abschließenden Friedensabkommen ebenso die Oberhoheit behalten wie auch die Siedler vor Ort bleiben. Nach der Zweiten Intifada (2000-2005) und ihrer drastischen Gewalterfahrung auf beiden Seiten beschloss der damalige israelische Premierminister Ariel Sharon einseitig den Rückzug. Trotz politischer und zivilgesellschaftlicher Opposition räumte Israel im September 2005 den Gazastreifen vollständig.  2006 gewann die Hamas die Parlamentswahlen der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) in Gazastreifen und Westjordanland. Dass sich mit der Hamas ein Akteur in den palästinensischen Institutionen durchzusetzen begann, der ihre Existenzvoraussetzung, nämlich den Friedensprozess, radikal ablehnte, leitete eine tiefe Krise der PA ein. 2007 begann ein blutiger innerpalästinensischer Bürgerkrieg. Im sogenannten Kampf um Gaza konnte sich die Hamas in ihrer traditionellen Machtbasis durchsetzen und die konkurrierende Fatah-Partei aus dem Gazastreifen vertreiben. Seither stehen die Palästinensischen Autonomiegebiete geteilt unter der Herrschaft zweier konkurrierender politischer Formationen: der Hamas (Gaza) und der von Fatah dominierten PA (Westjordanland).

In Gaza etablierte Hamas ein rigides Regime von Sittenwächtern entsprechend ihrer islamistischen Gesellschaftsvorstellungen. Gegen Oppositionelle, kritische Journalistinnen und Journalisten, vermeintliche Kollaborateure mit Israel und Fatah-Mitglieder geht die Hamas drastisch vor. Emanzipierte Frauen und Angehörige sexueller Minderheiten sehen sich brutaler Verfolgung ausgesetzt. In Reaktion auf die kontinuierlichen Angriffe mit zunehmend fortgeschritteneren Waffen seitens der Hamas riegelten sowohl Israel als auch Ägypten ihre Grenzen zu Gaza ab, um Waffenschmuggel und das Eindringen von Terroristen auf eigenes Staatsgebiet zu unterbinden. Die hieraus entstandene katastrophale Situation der Bevölkerung Gazas wird von einigen Beobachtern mit der eines „Freiluftgefängnisses“ verglichen: von außen abgeriegelt und im Inneren dem Herrschaftsanspruch konkurrierender Banden ausgeliefert. Der Begriff wird jedoch zumeist unter Absehung von den verschiedenen Akteuren und Gründen, die zur Entwicklung der Situation geführt haben, einseitig gegen Israel gerichtet.

Seit dem Angriff auf Israel am 7. Oktober kommt es auch im Westjordanland immer wieder zur Konfrontation zwischen Palästinenserinnen und Palästinensern auf der einen und der israelischen Armee und Sicherheitskräften auf der anderen Seite. Die Angriffe der Hamas wurden von Sympathisantinnen und Sympathisanten gefeiert. Es bleibt abzuwarten, ob die zur Schau gestellte Brutalität der Hamas zu nennenswerter Kritik unter Palästinenserinnen und Palästinensern führen wird, die sich mit den Taten nicht identifizieren wollen und die Eskalation der Gewalt fürchten.

Das Ausmaß der Angriffe verweist auf Fähigkeiten zur Gewaltentfaltung, die Hamas nicht aus sich selbst heraus entwickeln kann.

Der größte Geldgeber der Hamas ist das Emirat Katar, dass die Mittel offiziell zur Unterstützung für zivile Zwecke und humanitäre Hilfe auszahlt. Weitere finanzielle Hilfen erhält die Hamas aus dem schiitisch geprägten Iran. Trotz der religiösen Differenz zwischen Suna und Schia in den Ausprägungen des Islamismus, denen die Hamas einerseits und die Teheraner Machthaber andererseits folgen, verbindet sie eine lange Waffenbrüderschaft im Kampf gegen Israel. Im Islam gibt es verschiedene Strömungen, wobei die beiden bedeutendsten und verbreitetsten die sunnitische und die schiitische sind. Die Sunniten stellen weltweit die Mehrheit. Die Unterscheidung zwischen Sunniten und Schiiten besteht in der Frage, wer der rechtmäßige Nachfolger des Propheten Mohammad war. Das Verhältnis der beiden Strömungen ist von Ablehnung und Misstrauen geprägt und beide Seite sprechen jeweils der anderen ab, Muslime zu sein. Diesen Gegensatz lassen Hamas und das iranische Regime allerdings gegenüber der geteilten Feindbestimmung gegen Israel in den Hintergrund treten. Expertinnen und Experten gehen davon aus, dass der Iran die Angriffe der Hamas auf Israel Anfang Oktober 2023 mitfinanziert und vorbereitet hat. Dazu gehört auch der Bau von Raketen, Drohnen und weiteren Waffen im Gazastreifen sowie die Ausbildung der Angreifer. Seit der Islamischen Revolution 1979 ist es erklärtes Staatsziel des Iran, Israel zu vernichten.

Ein Ergebnis dieses iranischen Ziels ist die Gründung der Terrororganisation Hisbollah im Libanon. Im ethnisch und religiös diversen Zedernstaat organisierte infolge des Bürgerkriegs der 1980er Jahre Iran innerhalb der schiitischen Bevölkerung die „Partei Gottes“ als bewaffneten Stellvertreter an Israels Grenze. Heute bilden die schiitischen Islamisten der Hisbollah im Libanon nicht nur einen Staat im Staat, sondern dominieren mit ihrer der regulären Armee überlegenen militärischen Macht. In Deutschland ist die Hisbollah mit allen ihren Teilorganisationen verboten, das Zeigen ihrer Symbole stellt eine Straftat dar. Dazu gehört vor allem die Fahne der Hisbollah. Sie zeigt in Grün auf gelbem Grund ein stilisiertes Sturmgewehr, das von einem ausgestreckten Arm in die Höhe gehalten wird. Über dem Gewehr ist ein Auszug aus der Sure 5:56 auf Arabisch zu lesen: „Die Partei Gottes sind die Obsiegenden.“ Der Arm entwächst dem arabischen Schriftzug mit dem Namen der „Partei Gottes“. Darunter steht: „Der islamische Widerstand im Libanon“. Eine stilisierte Weltkugel verdeutlicht den globalen Anspruch der Organisation, deren Operationsgebiet sich keineswegs auf den Nahen Osten beschränkt. Mit seinen beiden Verbündeten Hamas und Hisbollah könnte der Iran Israel von Norden und Süden militärisch in die Zange nehmen, obwohl er als Land tausende Kilometer entfernt liegt. Aus israelischer Sicht ist dies die größte Sorge in der aktuellen Situation. Die tatsächlichen Absichten der drei Akteure liegen allerdings derzeit noch im Dunkeln.

Die Frage, warum die Hamas den großangelegten Angriff zu diesem Zeitpunkt durchgeführt hat, lässt sich nicht mit Sicherheit beantworten. Die Verschiebung des regionalen Machtgefüges, ausgelöst durch die Abraham-Abkommen Israels mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain, Marokko und Sudan sowie weiter vorangetrieben durch eine Annäherung Saudi-Arabiens und Israels, mag ein Grund sein. Nicht nur werden derartige Friedensschlüsse bereits in der Charta der Hamas verteufelt, sondern auch der Iran sieht durch die Annäherung zwischen Israel und Saudi-Arabien seine regionalen Vormachtansprüche gefährdet. Für die Hamas könnten die Angriffe eine Option gewesen sein, durch gezielte Eskalation und damit einhergehender Aufwiegelung der arabischen Straße eine weitere Annäherung zu torpedieren und die arabische Welt zurück auf ihren aggressiven Kurs zu bringen. In einem solchen Fall hätte sie auch mit Blick auf den innerpalästinensischen Machtkampf Initiative bewiesen und könnte ihren Führungsanspruch endgültig geltend machen. Gleichzeitig hätte sie damit allerdings auch hoch gepokert. Die Entfesselung eines offenen Kriegs mit Israel birgt für die Hamas-Führung die Gefahr einer weitgehenden Zerschlagung ihrer Infrastruktur – ganz abgesehen von dem unermesslichen menschlichen Leid, dass sie damit losgetreten hat.

Auch die Frage, warum die israelische Armee, Sicherheitskräfte und Geheimdienste derart überrascht wurden, wird sich erst nach einer intensiven Phase der Aufarbeitung beantworten lassen. Eine dazu bisher formulierte These ist, dass der Fokus der aktuellen Regierung unter Premierminister Benjamin Netanyahu auf dem Westjordanland lag, nicht auf Gaza. Wie die Geheimdienste, allen voran der Inlandsgeheimdienst Shin Bet, zu der Einschätzung kam, dass die Hamas in Gaza abgeschreckt sei und in nächster Zeit keine Angriffe plane, wird sich mit Sicherheit erst nach Öffnung der Archive klären lassen. Dies wird erst in einiger Zeit der Fall sein, aktuell herrscht auch unter der israelischen Opposition und in der regierungskritischen Zivilgesellschaft Einigkeit, dass es zunächst gilt, diesen Krieg zu gewinnen.

Bei der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung sind u.a. folgende Publikationen zum Thema erhältlich: