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Die Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur und der Westen: Das Notaufnahmelager Gießen

Prof. Dr. Rainer Eckert

Das Wissen um Bedeutung und Inhalte einer deutsch-deutschen Zeitgeschichte ist nicht nur für die demokratische Identität der Deutschen von höchstem Wert. Dabei geht es sowohl um die Jahre eines vereinten Nationalstaates als auch um die Zeit der staatlichen Spaltung in die Bundesrepublik Deutschland und in die kommunistische Diktatur in der DDR. Beides gehört zusammen und beide Staaten bezogen sich auch immer aufeinander. Dies ist jedoch nicht allen Deutschen gleichermaßen bewusst, vielmehr ist der Stand des Wissens in Ost und West sowohl über die eigene Geschichte als auch über die des Nachbarn im jeweils „anderen Deutschland“ oft nur gering.

Allerdings lebte eine Mehrheit der Ostdeutschen gedanklich auch in der Bundesrepublik, während viele Westdeutsche im Laufe der Jahre immer ausschließlicher vor allem nach Westen blickten. Dazu kommt, dass nachwachsende Generationen keine persönlichen Erfahrungen mit einem gespaltenen Land als Heimat besitzen und dass nach Deutschland als Einwanderungsland immer mehr Menschen strömen, die keine eigene Lebenserfahrung mit ihrer neuen Heimat besitzen.

Fluchtgeschichten als Widerstandsgeschichten

Eine besondere Rolle in diesem Kampf um eine verbindende Erinnerung könnten auch noch heute die Millionen Menschen spielen, die bis 1989/90 aus dem Osten in den Westen flüchteten und dort Aufnahme in Notaufnahmelagern, wie dem in Gießen, fanden. Für diese Menschen, aber auch für ihre Familien und ihr Umfeld, sind die Erfahrungen von Flucht und Neuanfang von zentraler lebensgeschichtlicher Bedeutung. Flucht war ein Bestandteil ihres Widerstandes gegen eine Diktatur und das ist heute angesichts der Weltlage wieder von ausschlaggebender Bedeutung. Um diese Erinnerung lebendig zu halten, in Hessen mit einer Grenze zur SED-Diktatur, die Lebenserinnerungen der Grenzbevölkerung auf beiden Seiten des „Eisernen Vorhanges“, bedarf es verschiedener Voraussetzungen. So gehören zu einer lebendigen Erinnerungskultur öffentliche, medial verstärkte Diskussionen, juristische Auseinandersetzungen beziehungsweise strafrechtliche Verfolgung von Vergehen und Verbrechen der Diktatoren, personelle „Säuberungen“ in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft, die historische und andere Forschung, der Umgang mit Gedenkorten, Gedenkstätten und Gedenktagen, die Musealisierung von Geschichte sowie geistige Kontroversen in Kunst und Literatur. Auch die immer wieder als unbefriedigend empfundene Wiedergutmachung und Rehabilitierung der Opfer der Diktaturen zählt zu diesem Feld.

Asymmetrische Aufarbeitung

All dies erfordert natürlich Einrichtungen und Orte, die diese Aufklärung betreiben. Und hier ist die Situation trotz aller Erfolge der Aufarbeitung in manchen Bereichen weiterhin unbefriedigend. So gibt es im Osten zahlreiche Gedenkstätten und Ausstellungen, die sich mit der Geschichte der SED-Diktatur beschäftigen. Doch besteht dabei ein spezifisches Ungleichgewicht. Die Mehrzahl der Erinnerungsorte sind ehemalige Untersuchungshaftanstalten der Geheimpolizei, des Ministeriums für Staatssicherheit, weitere Haftanstalten und eine große Zahl von Grenzmuseen. Einige dieser Gefängnisse haben eine direkte Beziehung zur Bundesrepublik. Das gilt für die Justizvollzugseinrichtungen Cottbus, wo Häftlinge einsaßen, die von der Bundesrepublik freigekauft werden sollten, und Chemnitz-Kaßberg, wo die „Transporte“ in den Westen zusammengestellt wurden. Hier gibt es eine unmittelbare Verbindung zu den Aufnahmeorten in der Bundesrepublik und vor allem zum Notaufnahmelager Gießen. Dagegen gibt es in Ostdeutschland nur wenige Gedenkstätten und Museen, die sich mit Opposition und Widerstand, mit der Friedlichen Revolution und mit dem Alltag der Ostdeutschen beschäftigen. Zuerst ist hier das Zeitgeschichtliche Forum Leipzig der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zu nennen. Die hier insgesamt trotzdem deutlichen Defizite werden durch die immer größer werdende Zahl privater DDR-Museen nicht ausgeglichen.

Im Westen und Süden der Bundesrepublik sieht es bezogen auf die zweite deutsche Diktatur weitaus schlechter als im Osten aus. Mit der SED-Herrschaft in einem umfassenden Sinne befasst sich nur die Stiftung Haus der Geschichte in Bonn – mit zwei Standorten beide in (Ost-)Berlin. Die DDR ist auch ein Thema im Deutschen Historischen Museum, das allerdings ebenfalls im Ostteil Berlins liegt. Sonst sind noch die erwähnten Grenzmuseen an der innerdeutschen Grenze wichtig, die in der Regel gemeinsam von den sich gegenüberliegenden Bundesländern in Ost- und West/bzw. Süddeutschland betrieben werden. Unter ihnen ist das Deutsch-Deutsche Museum zwischen Bayern und Thüringen, das gerade neu aufgebaut wird, von besonderer Bedeutung. Diese Rolle kommt in Hessen (gemeinsam mit Thüringen) dem Grenzmuseum Schifflersgrund zu, das ebenfalls grundlegend neu gestaltet noch in diesem Jahr eröffnet werden soll. In Hessen gibt es das einzige private Museum zur Geschichte der DDR in Pforzheim.

Dieses Bild rundet eine breit angelegte historische Forschung ab, die allerdings weitgehend unter westdeutscher Leitung in Forschungsinstituten in Berlin, Dresden, München, Potsdam und Weimar konzentriert ist. Leider gibt es an keiner deutschen Universität eine Professur für Kommunismus-Geschichte. Gleichzeitig machen gerade in den letzten Jahren vermehrt ostdeutsche Forscherinnen und Forscher auf sich aufmerksam. Während in den Jahren nach der Wiedervereinigung Themen wie politische Repression, Staatssicherheit, Opposition und Widerstand unter den bearbeiteten Themen dominierte, kamen dann der Alltag der Ostdeutschen und auch die Forschungen über die Transformationszeit nach der Wiedervereinigung. Gerade diese Transformationszeit und die Frage nach ostdeutscher Identität sowie nach Problemen des deutschen Zusammenlebens in der Gegenwart werden auch künftig an Gewicht gewinnen.

Das Notaufnahmelager Gießen: Schnittpunkt der deutschen und internationalen Migrationsgeschichte

Dabei ist die Beschäftigung mit der Friedlichen Revolution 1989/90 gegen die Diktatur der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) und ihrer Verbündeten eine der wichtigsten Aufgaben beim Aufbau bzw. bei der Festigung eines demokratischen Grundbewusstseins in Deutschland und darüber hinaus auch in anderen westlichen Gesellschaften. Dies ist allerdings nur sinnvoll und wird nur erfolgreich möglich sein, wenn diese Revolution in den mittelosteuropäischen Revolutionszyklus bis zum Zerfall der Sowjetunion 1991 eingepasst wird. Dies muss verbunden werden mit einer konsequenten Rückbesinnung auf Widerstand und Opposition gegen die verschiedenen tyrannischen Machtsysteme der faschistischen/nationalsozialistischen und kommunistischen Diktaturen nicht nur in Deutschland.

Aber auch die Beschäftigung mit Flucht, Auswanderung und Neubeginn der Ostdeutschen in der Bundesrepublik wird seine Bedeutung behalten bzw. wird durch heutige Prozesse der Flucht und Migration an Gewicht gewinnen. Dabei ist die Flucht aus der DDR als Widerstand zu begreifen und auch die Fragen des Neuanfangs unter gänzlich anderer gesellschaftlichen Bedingungen müssen in gebündelter Form an einem Ort gezeigt und vermittelt werden. Ein dafür richtiger und entscheidender Platz ist das Notaufnahmelager Gießen – mit seiner Geschichte von einem provisorischen „Flüchtlingslager“ zum hessischen „Regierungs-Durchgangslager“, dann zum zentralen Notaufnahmelager bzw. zur „Zentralen Aufnahmestelle des Landes Hessen“. Schließlich bestand hier die „Hessische Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge in Gießen“. Gießen ist mit diesen Einrichtungen von zentraler Bedeutung für nationale und internationale Geschichte. Dazu gehören die Flucht und die Übersiedlung aus der DDR – wie erwähnt als Teil widerständigen Verhaltens gegen eine Diktatur – und der Häftlingsfreikauf in der Bundesrepublik als ein, lange Zeit kaum bekannter Bestandteil deutschdeutscher Beziehungen. Und schließlich zählten im Spätsommer 1989 die Flüchtenden aus der DDR, die im Notaufnahmelager Gießen aufgenommen wurden, zu den auslösenden Faktoren der Friedlichen Revolution. Aspekte internationaler Politik kommen mit den deutschen Spätaussiedlern aus Ost- und Ostmitteleuropa in den Blick und genauso gilt dies für die Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien und danach zunehmend aus anderen Bürgerkriegsgebieten besonders im Nahen Osten und in Afrika.

Vom Notaufnahmelager Gießen zum Lern- und Erinnerungsort

In diesem Geflecht historischer Ereignisse wird die Bedeutung des Lern- und Erinnerungsortes Notaufnahmelager Gießen mit einer Dauerausstellung, mit Wechselausstellungen und vielfältigen Veranstaltungen nach ihrer Eröffnung in den kommenden Jahren wachsen. Das gilt auch für andere Gedenkstätten in der Bundesrepublik und das obwohl Anfang der 20er Jahre des 21. Jahrhunderts die Deutschen in einem Land leben, das eines der besten Gesundheitssysteme der Welt besitzt, wo die Arbeitslosigkeit so niedrig wie kaum in einem anderen Land Europas ist und die drittgrößte Wirtschaftsmacht der Welt ist. Trotzdem sind die Deutschen so unzufrieden wie selten seit der Befreiung vom Nationalsozialismus. Eine Mehrheit meint, dass ihr Staat nicht mehr in der Lage sei, seine Aufgaben zu erfüllen. Nun kann man an Umfragen, die solche Ergebnisse zugrunde liegen, zweifeln, trotzdem ist es bedenkenswert, dass eine Mehrheit besonders der Ostdeutschen meint, dass der Staat bei der Aufgabe, für soziale Gerechtigkeit zu sorgen, versagen würde. Außerdem gibt es Sorgen wegen der Digitalisierung, wegen „ungezügelter“ Migration, mangelhafter Bildung, der sich verschärfenden Klimakrise, der sozialen Ungleichheit und wegen des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine mit der damit steigenden globalen Kriegsgefahr. Dazu kommen Probleme im Verkehrswesen, ungerechte Renten und bürokratische Hürden. Und schließlich überfiel die palästinensische Terrororganisation Hamas mit schrecklicher Brutalität Israel und das Land schlug militärisch zurück. In Deutschland gab es eine große Welle der Sympathie mit dem überfallenden Staat und seinen Menschen, aber auch zunehmenden Antisemitismus, der sich auf den Straßen deutscher Städte und in deutschen Kultureinrichtungen austobt. Insgesamt waren viele Sorgen der Deutschen begründet, aber es gab auch vieles, was nicht faktenorientiert war, sondern von subjektiven Meinungen getragen wurde. Und das scheint mir heute und auch künftig ein Hauptproblem zu sein: Bei vielen Deutschen zählen nicht mehr gesicherte Fakten, sondern Meinungen, die in aller Regel aus dubiosen Internetkanälen stammen. Und politisch treibt das treibt das antidemokratischen Parteien die Wählerinnen und Wähler in Scharen zu - wie die Wahlen des Jahres 2024 wohl zeigen werden. All dies sind Gründe für eine historische Rückbesinnung.

Erinnerungsarbeit als Demokratieschutz

In dieser Situation muss es heute in der gesamten Bundesrepublik letztlich darum gehen, durch eine demokratische Auseinandersetzung und Beschäftigung mit Geschichte die moralische Substanz für das Widerstehen gegen Gefährdungen unserer Demokratie besonders durch politischen Extremismus (wobei der rechte Extremismus das gravierendere Problem ist) aber auch durch den politischen Islamismus gewonnen werden. Gleichzeitig muss es verstärkt um die „Grautöne“ von Leben und Herrschaft in diesen Diktaturen und um den ihnen erfahrenen, auch glücklichen Alltag gehen. Das werden Gedenkstätten und Museen allein natürlich nicht leisten, einen Betrag zur Stabilisierung unserer Demokratie können und müssen sie jedoch erbringen. Und hier gibt es in unserem Land erheblichen Nachholbedarf.

Wenn auch der Holocaust und die nationalsozialistischen Vernichtungskriege weiterhin die zentralen Verbrechen der deutschen Geschichte bleiben werden und Kolonialgeschichte an Bedeutung gewinnt, so dürfen doch die Verbrechen des Kommunismus und der Widerstand dagegen nicht aus dem Bewusstsein verschwinden. Dazu gehören auch Flucht, Freikauf und Ausreise aus der DDR. Der künftige Lern- und Erinnerungsort Notaufnahmelager Gießen wird hier große Bedeutung besitzen, Erinnerung neu beleben, Wissen vermitteln und eine Klammer zwischen den historischen Erfahrungen der Ost- und Westdeutschen bilden. Es geht darum, mit historischen Themen eine Mehrheit der heute lebenden Deutschen und die ihnen nachfolgenden Generationen sowie die in die Bundesrepublik kommenden Migranten zu erreichen. Das ist eine Aufgabe, deren Bewältigung auch in den kommenden Jahren von Bedeutung bleiben und Hessen hat in Gießen die Chance hier – auch beim besseren Verstehen der Deutschen untereinander - ein Ausrufezeichen zu setzen.

Bei der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung sind unter anderem folgende Publikationen zum Thema erhältlich: