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28.01.1972: 50. Jahrestag „Radikalenbeschluss“ – Generalverdacht oder Schutz des öffentlichen Dienstes vor Verfassungsfeinden?

Der Hoffnungsträger Willy Brandt und die Vorgeschichte des „Radikalenbeschlusses“

„Mehr Demokratie wagen“ – dieser Slogan aus der 1969 gehaltenen berühmten Regierungserklärung Willy Brandts sollte wie ein Damoklesschwert über der Regierungszeit des ersten sozialdemokratischen Kanzlers in der Geschichte der Bundesrepublik schweben. Den protestbewegten linken jungen Menschen, die nach dem Ende der „68er-Bewegung“ ab 1969 in einer bis dahin unbekannten Zahl SPD-Mitglieder wurden, sollte mit diesen Worten die Hand der Zusammenarbeit gereicht werden. Ein wichtiges Ziel der Regierungserklärung war es demnach, den von den Studierenden und jungen Menschen ausgerufenen radikalen „Marsch durch die Institutionen“ zur Veränderung der Bundesrepublik eine parlamentarische Alternative aufzuzeigen. „Der Marsch durch die Institutionen“, ein damals von politischer Seite aus als ernsthafte Bedrohung wahrgenommener Kampfruf radikaler linker Protestierender, sollte mit allen Mitteln Einhalt geboten werden. Willy Brandt, der in der Zeit des Nationalsozialismus aus dem Ausland Widerstand gegen das Hitler-Regime geleistet hatte, schlugen Anfangs Jubelstürme der jungen Menschen entgegen. Brandt galt 1969 als der politische Hoffnungsträger einer ganzen Generation. Die folgenden Jahre zeigten jedoch schnell, dass Willy Brandt den versprochenen Aufbruch und die in ihn gesetzten Hoffnungen nur bedingt realisieren konnte.

Einigung auf den „Radikalenbeschluss“

Wie ein Schlag ins Gesicht traf viele seiner Anhänger die von ihm mitgetragene Entscheidung des 28. Januar 1972: gemeinsam mit den Ministerpräsidenten der Länder verabschiedete die Bundesregierung den „Radikalenbeschluss“. Umgangssprachlich und in Form eines politischen Kampfbegriffs wird und wurde der „Radikalenbeschluss“ auch „Radikalenerlass“ oder „Extremistenbeschluss“ genannt. Der Beschluss vom 28. Januar 1972 sah vor, „Radikale" oder „Verfassungsfeinde“, später als „Extremisten“ bezeichnete Menschen vom Staatsdienst auszuschließen. Nicht primär die Bundesregierung unter Willy Brandt, sondern die Innenministerkonferenz, die Verfassungsschutzämter sowie konservative Intellektuelle arbeiteten federführend an der Realisierung des Beschlusses im Rahmen des Einstellungsvorgangs für den öffentlichen Dienst.

Die Praxis des „Radikalenbeschlusses“

Die Entscheidung über das damit verbundene faktische „Berufsverbot“ für den öffentlichen Dienst trafen in Zusammenarbeit mit dem Verfassungsschutz die jeweils einstellenden Behörden. Der „Radikalenbeschluss“ traf überwiegend junge linke Bewerberinnen und Bewerber im öffentlichen Dienst, die als Mitglieder der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) sowie anderer linker Parteien und Gruppen auftraten, bei Wahlen für linke Parteien kandidierten oder bei sonstigen vermeintlich verfassungsfeindlichen Aktionen in Erscheinung getreten waren. 3,5 Millionen sogenannter „Regelanfragen“ wurden den Verfassungsschutzämtern gestellt, 35.000 Mal lagen den Verfassungsschutzbehörden Informationen über Bewerberinnen oder Bewerber vor. Mehr als 2.250 Bewerberinnen und Bewerber traf das Berufsverbot für den öffentlichen Dienst, mindestens 256 Personen wurden aus dem Staatsdienst entlassen.

Der „Radikalenbeschluss“ in Hessen

Die „Regelanfrage“ wurde in Hessen durch die erste rot-grüne Koalition, die sich im Dezember 1985 gebildet hatte, abgeschafft. Im Gegensatz zu anderen Bundesländern, wie Hamburg, Niedersachsen oder Baden-Württemberg, gab es in Hessen bisher keine wissenschaftliche Aufarbeitung zu den genauen Zahlen und tatsächlichen Praktiken des „Radikalenbeschlusses“ bei Bewerbungen für den öffentlichen Dienst in den 1970er und 1980er Jahren. Dennoch fanden auch in Hessen zahlreiche „Regelanfragen“ statt, die weiterhin einer genauen Aufarbeitung um die Frage ausharren, ob es sich bei der Praxis des „Radikalenbeschlusses“ um einen Generalverdacht gegen fast ausschließlich linke Bewerberinnen und Bewerber oder um einen effektiven Schutz des öffentlichen Dienstes vor Verfassungsfeinden gehandelt hat. Die Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Hessen tritt zum 50. Jahrestag für „die Forderung nach Aufarbeitung des Erlasses und seiner Folgen für die Betroffenen“ ein und fordert zusätzlich, „alle Betroffenen voll umfänglich zu rehabilitieren und zu entschädigen“. Die Aufarbeitung des „Radikalenbeschlusses“, den Willy Brandt nachträglich als einen seiner größten politischen Fehler bezeichnete, wird noch heute auch in Hessen kontrovers und emotional diskutiert.

Bei der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung können u. a. folgende Publikationen zum Thema bestellt werden: